Neuen Schwung haben jüngst Joseph Salzgeber und Katharina Bublath[44] in die Diskussion gebracht. Sie entwickeln die von juristischer Seite inzwischen herausgearbeiteten Differenzierungen weiter und bauen auf diesen rechtlichen Erkenntnissen nun psychologisch auf. Sie werfen dazu die Frage auf, ob der familienrechtspsychologische Sachverständige die Fragestellung des Gerichts überhaupt eindeutig beantworten soll und beantworten kann. Das ist die Frage nach den Möglichkeiten und fachlichen Grenzen der familienpsychologischen Sachverständigentätigkeit.

Der Ausgangspunkt ihrer Überlegungen ist die Feststellung, dass ein Sachverständiger keine Entscheidungen im Verfahren trifft, sondern nur die Grundlagen für eine Entscheidung zur Verfügung stellt. Dennoch – so Salzgeber und Bublath – werden immer wieder Beweisbeschlüsse mit Fragen nach einer Sorgerechts- oder Umgangsregelung, zur Aufhebung der gemeinsamen elterlichen Sorge, zur Übertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechts und nicht zuletzt nach einer Kindeswohlgefährdung und dem Entzug der elterlichen Sorge formuliert und an den Sachverständigen gerichtet. Vor diesem Hintergrund überlegen Salzgeber und Bublath, wie der Sachverständige es vermeiden kann, die juristischen Fragen zu beantworten.

Dabei gehen Salzgeber und Bublath exemplarisch von folgendem fachwissenschaftlichen Befund aus: Es liegen keine ausreichenden Erkenntnisse vor, wie sich je nach Kindesalter und unter Beachtung der Kooperation oder einem konflikthaften Coparenting der Eltern unterschiedliche Betreuungszeiten (z.B. im Wechselmodell Tag für Tag, Woche für Woche, drei Tage, vier Tage usw.) auf das Kind langfristig auswirken. Und selbst wo Erkenntnisse der psychologischen Forschung vorliegen, gilt: Statistisch signifikante Forschungsergebnisse können Hypothesen liefern und müssen für den individuellen Fall nicht bedeutsam sein. Subjektive Wahrnehmungs- und Entscheidungsprozesse können dabei nicht völlig ausgeschaltet werden. Testergebnisse können keine validen Ergebnisse garantieren und eine allumfassende Wirklichkeit abbilden, sondern nur Tendenzen oder Hinweise liefern. Wenn sich die Eltern nach Trennung und Scheidung nur wenig in ihren kindbezogenen Kompetenzen unterscheiden, kann der Sachverständige im Hinblick auf die Frage nach dem Lebensschwerpunkt des Kindes meist nur eine Tendenz in Bezug auf das jeweilige Kriterium und letztlich nur ungefähre Wahrscheinlichkeiten angeben. Und auch die Fragen, welche Umgangsregelung oder welche Betreuungsregelung zur bestmöglichen Wahrung des Wohls des Kindes angezeigt ist, lasse sich sachverständig nur schwer beantworten. Mit psychologischer Diagnostik und Erfassung der psychologischen Kriterien könne höchstens eine tendentielle Aussage getroffen werden, nicht aber eine konkrete Betreuungsregelung identifiziert werden.

Vor diesem Erkenntnishintergrund diskutieren Salzgeber und Bublath ein Vier-Stufen-Modell für die Beantwortung der gerichtlichen Fragen: Sie zergliedern das sachverständige Vorgehen in die einzelnen Schritte und schichten ab.

Auf der ersten Stufe stellt der Sachverständige seine erhobenen Untersuchungsdaten (Gespräche mit Eltern, Kind, Drittpersonen, Interaktionsbeobachtungen, Ergebnisse von Testverfahren) dar.

Auf der zweiten Stufe setzt der Sachverständige seine Untersuchungsberichte in Bezug zu den üblicherweise angewandten psychologischen Kriterien (Förderkompetenz, Beziehungstoleranz, Kooperationsbereitschaft, Wille des Kindes, Stütz- und Risikofaktoren etc.). Keine weitergehende Gewichtung der psychologischen Kriterien, keine Zusammenschau der Kriterien. Die Befundaspekte bleiben nebeneinander stehen. Begründung: Es gibt kein interdisziplinäres, allgemeingültiges Bewertungssystem. Und der Sachverständige kann gerade bei Eltern, die sich nur wenig in ihren Kompetenzen unterscheiden, kaum sachverständig begründen, welche Aspekte für die Weiterentwicklung des Kindes sich positiv oder negativ auswirken (z.B. schulische Förderung versus emotionale Nähe). Die Beschränkung auf den Befund ermöglicht es dem Gericht, eigene Bewertungen vorzunehmen.

Auf der dritten Stufe erfolgt die fachliche Interpretation und Gewichtung der Kriterien. Der Sachverständige beschreibt alternative Szenarien, die möglich sind bzw. zur Diskussion stehen, ohne eine konkrete Empfehlung im Hinblick auf die Fragestellung auszusprechen.

Auf der vierten Stufe würde auch die juristische Frage beantwortet werden, ggf. unter synonym verwendeten Begriffen, was aber dazu führen kann, dass der Sachverständige die Entscheidung des Gerichts übertragen bekommt.

Salzgeber und Bublath schlagen nun vor, dass es der Rolle des Sachverständigen besser entspricht, sich zumindest auf Stufe drei zu beschränken. Das (bloße) Darstellen und Abwägen verschiedener Alternativen entspreche wissenschaftlichem Vorgehen viel besser.

[44] Salzgeber/Bublath, FamRZ 2019, 1753.

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