"Es hilft nichts, das Recht auf seiner Seite zu haben. Man muss auch mit der Justiz rechnen", dieser Ausspruch des Kabarettisten Dieter Hildebrandt spricht so manchem aus der Seele, der schon einmal einen Rechtsstreit vor den Gerichten geführt hat und dabei erfahren musste, dass Recht zu bekommen abhängige Variable der jeweiligen Rechtsinterpretation des im Instanzenzug zu entscheidenden Gerichts ist. Das gilt bis hinauf zum Bundesverfassungsgericht (BVerfG), und, seit es den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) gibt, auch für dessen Entscheidungen. So kann passieren, dass der EGMR bei Beurteilung derselben Rechtsfrage zu einem anderen Ergebnis gelangt als das BVerfG, wie dies bei seiner Entscheidung zur gemeinsamen Sorge nicht miteinander verheirateter Eltern für ihr Kind geschehen ist. Hatte das BVerfG im Jahre 2003 noch geurteilt, die im deutschen Recht nur im Einverständnis mit der Mutter eröffnete gemeinsame elterliche Sorge verletze das Elternrecht des Vaters aus Art. 6 Abs. 2 GG jedenfalls so lange nicht, wie sich die der Regelung zugrunde liegenden Annahmen des Gesetzgebers nicht als unzutreffend erweisen würden,[2] entschied der EGMR im Jahre 2009, die bei mangelndem Einverständnis der Mutter generelle Vorenthaltung einer gemeinsamen Sorgetragung diskriminiere den Vater eines nichtehelichen Kindes unter Verletzung seines Rechtes auf Achtung seines Familienlebens und verstoße damit gegen Art. 14 in Verbindung mit Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention.[3]

Wenn eine solche Entscheidungsdivergenz eintritt, ist schnell von Niederlage die Rede, die das BVerfG durch den EGMR erlitten habe. Das mag die einen freuen, die anderen um Reputation und Einfluss des BVerfG fürchten lassen. Doch in Kategorien von Sieg und Niederlage zu denken, ist hier fehl am Platz. Denn es geht nicht um die Austragung von Gerichtskonflikten, sondern die Lösung von komplexen Rechtskonflikten anhand der jeweils anzulegenden Rechtsmaßstäbe. Bei solchem Bemühen gilt aber nicht nur der Spruch von den zwei Juristen mit den drei unterschiedlichen Rechtsauffassungen. Zu bedenken ist bei diesen beiden Gerichten auch, wie anders der Radius ihres Aufgabenfeldes ist und wie verschieden sie sich zusammensetzen: das eine bestehend aus nationalen, einer gemeinsamen Rechtstradition entstammenden Richtern, das andere besetzt mit Richtern aus 47 Ländern und unterschiedlichen Rechtskulturen. Wie sich dies jeweils auf den Beratungsstil sowie die Entscheidungsfindung der beiden Gerichtsbarkeiten auswirkt und letztlich auch den Inhalt ihrer Entscheidungen prägt, weiß niemand besser als meine hochgeschätzte ehemalige Kollegin am Bundesverfassungsgericht und langjährige Richterin am EGMR Renate Jaeger. Gerade weil sie über unschätzbare Erfahrungen aus der Spruchpraxis beider Gerichte verfügt, ist sie wie keine andere dazu prädestiniert, für ein wechselseitiges Verständnis der jeweiligen Rechtsprechung zu werben,[4] was Renate Jaeger in den letzten Jahren mit sensiblem Gespür, großem Engagement und unwiderstehlicher Überzeugungskraft getan hat – Chapeau, liebe Renate Jaeger! Dafür wie für so vieles mehr sei Ihnen mit diesem Festschriftbeitrag gedankt, der versucht, ihr Anliegen aufzugreifen und es am Wechselspiel der Entscheidungen beider Gerichte zur deutschen Regelung der Sorgetragung von nicht miteinander verheirateten Eltern für ihr Kind zu exemplifizieren aber auch zu verdeutlichen, dass Rechtsprechung, auch wenn sie aufeinander zugeht und Wege weist, nicht alle Probleme zu lösen vermag.

[2] BVerfGE 107, 150; EuGRZ 2003, 48.
[3] EGMR, Zaunegger ./. Deutschland, Urt. v. 3.12.2009, Nr. 22028/04, EuGRZ 2010, 42.
[4] Vgl. Jaeger, Menschenrechtsschutz im Herzen Europas, EuGRZ 2005, 193 ff.

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