Bei Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen des § 1666 Abs. 1 BGB hat das Familiengericht die zur Gefahrenabwendung erforderlichen Maßnahmen zu treffen.[56]

Der Maßnahmenkatalog des § 1666 Abs. 3 BGB ist dabei nicht abschließend.[57] Dem Familiengericht wird ein Auswahlermessen eingeräumt.[58] Die Ermessensausübung muss sich am Kindeswohl orientieren und wird durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz begrenzt.[59] Bei den besonders einschneidenden Maßnahmen der Trennung des Kindes von der elterlichen Familie und der Entziehung der gesamten Personensorge betont das Gesetz den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in § 1666a BGB nochmal besonders.[60]

Im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung ist eine Abwägung zwischen der Schwere des Eingriffs und seinen Folgen, dem Gewicht des dem Kind drohenden Schadens und dem Grad der Gefahr zu treffen.[61] Die Gewissheit einer Schädigung und das Maß der Gefährdung sind also bei der Ausübung des Auswahlermessens auf der Rechtsfolgenseite erneut in Ansatz zu bringen und mit den zur Abwehr der Gefahr geeigneten Maßnahmen ins Verhältnis zu setzen.[62]

Die in der familiengerichtlichen Praxis besonders umstrittene Maßnahmen der teilweisen Entziehung der elterlichen Sorge und insbesondere der Trennung des Kindes von den Eltern ist nur dann verhältnismäßig, wenn ansonsten ein Schaden ansonsten für das Kind mit ziemlicher Sicherheit zu erwarten ist.[63] Eine Entziehung der elterlichen Sorge als besonders schwerer Eingriff kann nur bei einer nachhaltigen Gefährdung des Kindes mit einer höheren Sicherheit eines Schadenseintritts verhältnismäßig sein. Dagegen kann die Anordnung weniger einschneidender Maßnahmen nach § 1666 Abs. 3 BGB bereits bei geringerer Wahrscheinlichkeit verhältnismäßig sein.[64] Eine Gefährdung die nur mit unverhältnismäßigen Mitteln abgewendet werden kann ist hinzunehmen.[65]

[56] MüKo-BGB/Lugani, 8. Aufl. 2020, BGB § 1666 Rn 152; Thormeyer in: Herberger/Martinek/Rüßmann/Weth/Würdinger, jurisPK-BGB, 9. Aufl. 2020, § 1666 BGB Rn 50.
[57] Thormeyer in: Herberger/Martinek/Rüßmann/Weth/Würdinger, jurisPK-BGB, 9. Aufl. 2020, § 1666 BGB Rn 78; Palandt/Götz, BGB, 80. Aufl. 2021, § 1666 Rn 30.
[58] MüKo-BGB/Lugani, 8. Aufl. 2020, BGB § 1666 Rn 152; Palandt/Götz, BGB, 80. Aufl. 2021, § 1666 Rn 30.
[59] MüKo-BGB/Lugani, 8. Aufl. 2020, BGB § 1666 Rn 154.
[60] MüKo-BGB/Lugani, 8. Aufl. 2020, BGB § 1666 Rn 157.
[61] BGH FamRZ 2019, 590 Rn 33.
[62] Hammer, FamRZ 2019, 604.
[64] Vgl. OLG Koblenz NZFam 2017, 580.
[65] Hammer, FamRZ 2019, 604; vgl. OLG Koblenz FamRZ 2020, 923; OLG Hamburg FamRZ 2020, 922.

1. Geeignetheit

Die Maßnahme des Familiengerichts muss zur Gefahrenabwehr effektiv geeignet sein.[66]

Die (teilweise) Entziehung und Übertragung des Sorgerechts ist zur Beseitigung der Gefahr für ein Kind grundsätzlich nur dann geeignet, wenn der Ergänzungspfleger oder Vormund mithilfe der übertragenen Teilbereiche des Sorgerechts konkrete Maßnahmen zur Verbesserung der Situation des Kindes einleiten, das heißt den als gefährlich definierten Zustand beenden oder wenigstens zu dessen Beendigung beitragen kann.[67] Beabsichtigt der Ergänzungspfleger nach der Entziehung des Aufenthaltsbestimmungsrechtes das Kind in der Familie zu belassen, handelt es sich um einen "Vorratsbeschluss", der den rechtlichen Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsprinzips nicht entspricht.[68]

Die Intention des Jugendamtes, auf die Kindeseltern damit "Druck" auszuüben, damit sie die angebotenen Hilfen annehmen, ist nachvollziehbar, rechtlich aber unzulässig. In diesen Fällen ist die Inobhutnahme nach § 42 SGB VIII ein geeignetes milderes Mittel.[69] Bei älteren Kindern ergibt sich gelegentlich die Problematik, dass diese (zum Teil aufgrund einer Beeinflussung der leiblichen Eltern) jegliche Fremdunterbringung massiv ablehnen und aus Pflegefamilien bzw. Jugendhilfeeinrichtungen wiederholt entweichen. In diesen Fällen ist zu prüfen, ob eine Entziehung des Aufenthaltsbestimmungsrechts eine geeignete Maßnahme darstellt, da sie jedenfalls im Ergebnis nicht zu einer Verbesserung der Situation des Kindes beitragen kann. Stehen keine geeigneten Maßnahmen zur Verfügung, führt die Erfüllung der Tatbestandsvoraussetzungen des § 1666 BGB zu keinen Rechtsfolgen.[70]

In einem Verfahren wegen Kindeswohlgefährdung aufgrund eines möglicherweise drohenden sexuellen Missbrauchs der Kinder durch den Lebensgefährten der Mutter stellte sich die Frage, ob Ge- und Verbote auch effektiv geeignet sind, um eine Gefährdung des Kindeswohls hinreichend sicher abzuwenden. Das OLG Karlsruhe hat nach Maßgabe einer vorherigen Entscheidung des BGH[71] der Kindesmutter umfangreiche Auflagen gemacht. U.a. die Stellung eines Antrags auf Bewilligung von Hilfe zur Erziehung in Form der aufsuchenden systemischen Familienberatung und die Zusammenarbeit mit den die Beratung vornehmenden Personen. Dabei hat es darauf abgestellt, dass bei der Inanspruchnahme von Maßnahmen der Hilfe zur Erziehung die eingesetzten Fachkräfte auch die Funktion haben, ...

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