Der Zeitfaktor spielt bei der Verwirklichung von Kinderrechten eine besondere Rolle (vgl. § 155 FamFG, Vorrang- und Beschleunigungsgrundsatz). Deshalb ist es von entscheidender Bedeutung, die Qualität des erstinstanzlichen Verfahrens zu verbessern. Defizite und Fehler im erstinstanzlichen Verfahren können in der Beschwerdeinstanz häufig (etwa wegen der Verfestigung von Schäden oder eines Beziehungsabbruchs) nicht mehr behoben werden. Die mit drei Richter/innen (außerdem im Beförderungsamt) besetzte und als volle zweite Tatsacheninstanz ausgestaltete Beschwerdeinstanz (Familiensenat des OLG) kommt häufig unnötig spät oder gar zu spät und kann eine fehlende Qualität der ersten Instanz nicht ersetzen bzw. Fehler/Versäumnisse der ersten Instanz nicht mehr heilen. Die Rechtsordnung sollte deshalb in das erstinstanzliche Verfahren investieren. In Verfahren wegen Kindeswohlgefährdung (§§ 1666, 1666a BGB) und bei hochstrittigen Elternkonflikten sollten erstinstanzlich drei Berufsrichter entscheiden.[5] Dieses Sechs-Augen-und-Ohren-Prinzip kennt die Rechtsordnung in vielen erstinstanzlichen Verfahren (beim Landgericht im Straf- und grundsätzlich im Zivilrecht, beim Verwaltungsgericht, beim Arbeitsgericht) – nur nicht in Kindschaftssachen.

Bereits die Eherechtskommission hatte sich für eine Besetzung des erstinstanzlichen Familiengerichts mit drei Berufsrichtern (freilich beim Landgericht) ausgesprochen, konnte sich damit aber im Gesetzgebungsverfahren nicht durchsetzen. Liest man mit dem Abstand von gut 40 Jahren die Begründung des damaligen Regierungsentwurfs,[6] zeigt sich, wie sehr der Gesetzgeber mit seiner Prognose neben der Sache lag und wie dramatisch sich die gesellschaftliche Bedeutung von Kindschaftssachen verändert hat.

Die (verfehlte) Prognose des Gesetzgebers lautete:

Zitat

"Es kommt hinzu, daß der künftige Familienrichter aufgrund seiner besonderen Qualifikation und seiner Erfahrung in den ausschließlich ihm anvertrauten Familiensachen außergewöhnlich gute Voraussetzungen für ein ausgereiftes und abgewogenes Urteil mitbringen wird".

Diese Prognose bezog sich auf die vom Regierungsentwurf ganz in den Mittelpunkt der Überlegungen gerückten Ehesachen. Kinder und Kindschaftssachen tauchen auch bei den Überlegungen des Regierungsentwurfs zu den übrigen Familiensachen überhaupt nicht auf. Vielmehr findet sich der vielsagende Satz "Die Abwicklung des Verfahrens durch den Einzelrichter führt zu einem erheblich engeren Kontakt zwischen dem Gericht und den Ehegatten, als es in dem Verfahren vor dem Kollegialgericht möglich wäre. […] ist es ein dringliches Anliegen des Entwurfs, auch eine solche persönlichere und der Sachlage angemessene Gestaltung des Verfahrens zu ermöglichen".

Wie weit der Gesetzgeber des Jahres 1976 mit seinen Erwägungen von der heutigen gesellschaftlichen Realität entfernt war, zeigt folgende Überlegung: Sowohl die materielle Rechtslage (z.B. Sorgerecht 1977: wesentliche Bedeutung allein der Scheidungsschuld eines Gatten für die obligatorische gerichtliche Sorgerechtsentscheidung) und die gesellschaftliche Situation (1977: kaum Betreuung der Kinder durch die Väter, kaum Berufstätigkeit beider Eltern – jedenfalls in der damaligen Bundesrepublik Deutschland[7]) als auch die Komplexität und Bearbeitungstiefe von Kindschaftssachen in psycho-sozialer und verfassungsrechtlicher Hinsicht haben sich in den 40 Jahren seit Schaffung des Familiengerichts nicht weniger dramatisch verändert als etwa die elektronische Datenverarbeitung im gleichen Zeitraum. Das Familiengericht und die Kindschaftssachen von 1977 verhalten sich zu den heutigen, wie das analoge Wählscheibentelefon zum internetfähigen Smartphone.

Gegen den Vorschlag einer Dreierbesetzung bestehen auch keine Bedenken im Hinblick auf kleine Amtsgerichte. Häufig haben sehr kleine Amtsgerichte gar keine Abteilungen für Familiensachen; diese sind beim nächstgrößeren Amtsgericht angesiedelt. Selbst wenn ein Amtsgericht mit weniger als drei Richtern besetzt ist, lässt sich die Richterbank gemäß § 27 Abs. 2 DRiG auf drei erweitern, indem einem Richter eines benachbarten Amtsgerichts ein weiteres Richteramt bei diesem Amtsgericht übertragen wird. Auf diese Weise wird eine höhere Qualität des erstinstanzlichen Kindschaftsverfahrens nicht mit längeren Wegen für die Betroffenen erkauft. Freilich entsteht ein vertretbarer Organisationsmehraufwand auf Gerichtsseite.

[5] Ernst, NZFam 2019, 145 ff.
[6] BT-Drucks 7/650, S. 80 ff.
[7] Zu beiden Gesichtspunkten: Coester, Elterliche Sorge – die Entwicklung der letzten 40 Jahre, in: Götz/Schnitzler (Hrsg.), 40 Jahre Familienrechtsreform (2017), S. 243 ff.

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