In der Vergangenheit war das öffentliche Baurecht sehr "eroberungslustig" mit der Folge, dass so ziemlich jeder bauliche Vorgang auf einem Grundstück einer Baugenehmigung bedurfte. Für den Nachbarn des Bauherrn hat dies den Vorteil, dass er zum einen von dem Bauvorhaben Kenntnis erlangt, weil ihm die Bauvorlagen vorgelegt werden müssen. Zum anderen kann der Nachbar im Baugenehmigungsverfahren seine Rechte durch Widerspruch und Anfechtungsklage gegen eine erteilte Baugenehmigung wahrnehmen und damit die Beachtung nachbarschützender Bauvorschriften – etwa des Grenzabstands (Bauwich) – erzwingen.

Unabhängig von diesem Rechtsschutz nach öffentlichem Recht steht dem Nachbarn aber auch der Zivilrechtsweg bei der Verletzung nachbarschützender Vorschriften offen, weil nach den Bauordnungen aller Bundesländer die Baugenehmigung "unbeschadet der privaten Rechte Dritter" erteilt wird. Dies hat zur Folge, dass etwa die erteilte Baugenehmigung eine nach den Vorschriften des Nachbarrechts notwendige Einwilligung des Nachbarn nicht ersetzt. Es ist vielmehr Aufgabe des Bauherrn und fällt in dessen Risikobereich, für die zivilrechtliche Realisierbarkeit seines Bauvorhabens zu sorgen.[1] Wegen der im Vordergrund stehenden Möglichkeiten der öffentlichen Baunachbarklage waren aber die zivilrechtlichen Abwehrrechte häufig in Vergessenheit geraten. Zum Teil war auf sie bei der Landesgesetzgebung auf dem Gebiet des Nachbarrechts unter Hinweis auf den Nachbarschutz nach öffentlichem Baurecht bewusst verzichtet worden.

Seit geraumer Zeit ist aber das öffentliche Baurecht nicht mehr durch seine frühere Eroberungslust, sondern unter dem Schlagwort "Entstaatlichung" durch einen Rückzug auf breiter Front gekennzeichnet, was am Beispiel der genehmigungsfreien Bauvorhaben deutlich wird. Dieser Rückzug des Staates aus dem öffentlichen Baurecht wird sicher zu einer Wiederentdeckung der nachbarrechtlichen Vorschriften über das Fenster- und Lichtrecht in den Fällen führen, in denen wegen des Verzichts auf ein Baugenehmigungsverfahren dem Nachbarn der Rechtsweg nach öffentlichem Recht versperrt ist.

Dabei wird neben dem Fenster- und Lichtrecht auch der allgemeine Zivilrechtsschutz des Nachbarn gegenüber der Verletzung nachbarschützender Vorschriften des materiellen Baurechts an Bedeutung gewinnen. Immerhin mag zwar bei einem baugenehmigungsfreien Vorhaben das formelle Erfordernis der Baugenehmigung entfallen, nicht jedoch ist der Bauherr damit von der Beachtung der materiellen Anforderungen des Baurechts befreit. Soweit derartige Vorschriften nachbarschützender Natur sind, wie etwa die Regelungen über den Bauwich, kann sich der Nachbar bei deren Verletzung gemäß den §§ 823 Abs. 2, 1004 Abs. 1 BGB auf dem Zivilrechtsweg zur Wehr setzen.[2]

[1] So BGH, Urteil v. 6.7.2000, III ZR 340/98, BayVBl 2001, 505 zum vergleichbaren Fall eines zivilrechtlichen Wegerechts über das Nachbargrundstück.

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