Entscheidungsstichwort (Thema)

Weigerung der Erstellung einer Beurteilung wegen Fehlzeiten aufgrund Mutterschaftsurlaubes. Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie in bezug auf die Arbeitsbedingungen. Beeinträchtigung der Möglichkeit einer Frau zum beruflichen Aufstieg. Einschränkende Regelung des Rechts jedes Arbeitnehmers auf jährliche Beurteilung und damit auf die Möglichkeit zum beruflichen Aufstieg im Hinblick auf das Diskriminierungsverbot

 

Normenkette

EGVtr Art. 234; Richtlinie 76/207/EWG des Rates

 

Beteiligte

Thibault

Caisse nationale d'assurance vieillesse des travailleurs salariés (CNAVTS)

Evelyne Thibault

 

Verfahrensgang

Cour de Cassation (Frankreich)

 

Tenor

Eine nationale Regelung, die einer Frau den Anspruch auf Beurteilung und damit eine Möglichkeit zum beruflichen Aufstieg deshalb nimmt, weil sie dem Betrieb wegen eines Mutterschaftsurlaubs ferngeblieben ist, verstößt gegen Artikel 2 Absatz 3 und Artikel 5 Absatz 1 der Richtlinie 76/207/EWG des Rates vom 9. Februar 1976 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie in bezug auf die Arbeitsbedingungen.

 

Gründe

1.

Die französische Cour de Cassation hat mit Urteil vom 28. März 1995, beim Gerichtshof eingegangen am 28. April 1995, gemäß Artikel 177 EG-Vertrag eine Frage nach der Auslegung der Richtlinie 76/207/EWG des Rates vom 9. Februar 1976 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie in bezug auf die Arbeitsbedingungen (ABl. L 39, S. 40; nachstehend: Richtlinie) zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2.

Diese Frage stellt sich in einem Rechtsstreit zwischen der Caisse nationale d'assurance vieillesse des travailleurs salariés (CNAVTS) und Frau Thibault (Klägerin), in dem es um die Weigerung der CNAVTS geht, der Klägerin für das Jahr 1983 eine Beurteilung zu erstellen.

3.

Gemäß ihrem Artikel 1 Absatz 1 hat die Richtlinie zum Ziel, daß in den Mitgliedstaaten der Grundsatz der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, einschließlich des Aufstiegs, und des Zugangs zur Berufsbildung sowie in bezug auf die Arbeitsbedingungen verwirklicht wird. Dieser Grundsatz wird als ”Grundsatz der Gleichbehandlung” bezeichnet. Nach Artikel 2 Absatz 1 der Richtlinie bedeutet dieser Grundsatz, daß keine unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts – insbesondere unter Bezugnahme auf den Ehe- oder Familienstand – erfolgen darf. Absatz 3 dieses Artikels bestimmt jedoch, daß die Richtlinie nicht den Vorschriften zum Schutz der Frau, insbesondere bei Schwangerschaft und Mutterschaft, entgegensteht.

4.

Nach Artikel 2 Absatz 4 steht die Richtlinie ”nicht den Maßnahmen zur Förderung der Chancengleichheit für Männer und Frauen, insbesondere durch Beseitigung der tatsächlich bestehenden Ungleichheiten, die die Chancen der Frauen in den in Artikel 1 Absatz 1 genannten Bereichen beeinträchtigen, entgegen”.

5.

Artikel 5 Absatz 1 der Richtlinie lautet:

”Die Anwendung des Grundsatzes der Gleichbehandlung hinsichtlich der Arbeitsbedingungen einschließlich der Entlassungsbedingungen beinhaltet, daß Männern und Frauen dieselben Bedingungen ohne Diskriminierung aufgrund des Geschlechts gewährt werden.”

6.

Artikel L 123-1 Buchstabe c des französischen Arbeitsgesetzbuchs bestimmt:

”Vorbehaltlich der besonderen Bestimmungen dieses Gesetzbuches und falls nicht das Geschlecht entscheidende Voraussetzung für die Ausübung einer Beschäftigung oder beruflichen Tätigkeit ist, darf niemand

c)

irgendeine Maßnahme im Bereich der Entlohnung, der Ausbildung, der Stellenzuweisung, der Weiterbildung, der Einstufung, des beruflichen Aufstiegs oder der Versetzung unter Berücksichtigung des Geschlechts treffen.”

7.

In Frankreich haben schwangere Arbeitnehmerinnen, die eine bestimmte Dienstzeit zurückgelegt haben, gemäß Artikel 45 des Tarifvertrags für die Beschäftigten von Einrichtungen der sozialen Sicherheit (im folgenden: Tarifvertrag) Anspruch auf 16 Wochen Mutterschaftsurlaub bei vollen Bezügen; dieser Zeitraum kann auf bis zu 28 Wochen ausgedehnt werden. Außerdem kann die Arbeitnehmerin gemäß Artikel 46 des Tarifvertrags am Ende des Mutterschaftsurlaubs einen Urlaub von drei Monaten bei halben Bezügen oder von anderthalb Monaten bei vollen Bezügen in Anspruch nehmen.

8.

Artikel L 122-26-2 des Arbeitsgesetzbuchs bestimmt: ”Die Zeit des Mutterschaftsurlaubs wird bei der Ermittlung der Ansprüche, die der Arbeitnehmerin aufgrund ihres Dienstalters zustehen, einem Zeitraum gleichgestellt, in dem sie tatsächlich gearbeitet hat.”

9.

Gemäß Artikel 3 des Nachtrags vom 13. November 1975 zum Tarifvertrag werden bei der Einstufung der Arbeitsstellen neben der tatsächlichen Anwesenheit bes...

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