Entscheidungsstichwort (Thema)

Verlustabzug, Verbot des Verlustabzugs bei Anteilseignerwechsel, Staatliche Beihilfe, Ausnahmegenehmigung eines Verlustabzugs

 

Leitsatz (amtlich)

1. Ein Steuersystem wie das im Ausgangsverfahren in Rede stehende kann das Kriterium der Selektivität als Bestandteil des Begriffs „staatliche Beihilfe“ im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV erfüllen, wenn sich erweisen sollte, dass das Bezugssystem, d. h. das „normale“ System, in dem Verbot des Verlustabzugs bei einem Anteilseignerwechsel im Sinne von § 122 Abs. 1 des Gesetzes Nr. 1535/1992 vom 30. Dezember 1992 über die Einkommensteuer (Tuloverolaki) besteht, dem gegenüber die Genehmigungsregelung nach Abs. 3 dieser Vorschrift eine Ausnahme darstellen würde. Eine solche Regelung kann durch die Natur oder den inneren Aufbau des Systems, in das sie sich einfügt, gerechtfertigt sein, wobei diese Rechtfertigung es ausschließt, dass die zuständige nationale Behörde in Bezug auf die Genehmigung einer Abweichung vom Verbot des Verlustabzugs über ein Ermessen verfügt, das sie dazu ermächtigt, ihre Genehmigungsentscheidungen auf Kriterien zu stützen, die diesem Steuersystem fremd sind. Der Gerichtshof verfügt jedoch nicht über hinreichende Informationen, um über diese Einordnungen abschließend zu befinden.

2. Art. 108 Abs. 3 AEUV verbietet es nicht, dass ein Steuersystem wie das in § 122 Abs. 1 und 3 des Gesetzes Nr. 1535/1992 vorgesehene, falls es als „staatliche Beihilfe“ zu qualifizieren sein sollte, aufgrund seiner Eigenschaft als „bestehende Beihilfe“ in dem Mitgliedstaat, der dieses Steuersystem eingeführt hat, weitergilt, unbeschadet der in Art. 108 Abs. 3 AEUV vorgesehenen Befugnis der Kommission.

 

Normenkette

AEUV Art. 107 Abs. 1, Art. 108 Abs. 3

 

Beteiligte

P

Finnischer Staat

P Oy

 

Verfahrensgang

Korkein hallinto-oikeus (Finnland) (Urteil vom 30.12.2011; ABl. EU 2012, Nr. C 58/6)

 

Tatbestand

„Staatliche Beihilfen ‐ Art. 107 AEUV und 108 AEUV ‐ Kriterium der ‚Selektivität‘ ‐ Verordnung (EG) Nr. 659/1999 ‐ Art. 1 Buchst. b Ziff. i ‐ Bestehende Beihilfe ‐ Nationale Regelung auf dem Gebiet der Körperschaftsteuer ‐ Abzugsfähigkeit der erlittenen Verluste ‐ Keine Abzugsfähigkeit bei einem Anteilseignerwechsel ‐ Genehmigung von Ausnahmen ‐ Ermessen der Steuerverwaltung“

In der Rechtssache C-6/12

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Korkein hallinto-oikeus (Finnland) mit Entscheidung vom 30. Dezember 2011, beim Gerichtshof eingegangen am 3. Januar 2012, in dem Verfahren

P Oy

erlässt

DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten T. von Danwitz sowie der Richter A. Rosas, E. Juhász (Berichterstatter), D. Šváby und C. Vajda,

Generalanwältin: E. Sharpston,

Kanzler: M. Aleksejev, Verwaltungsrat,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 22. November 2012,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

‐ der P Oy, vertreten durch O. A. Haapaniemi, asianajaja,

‐ der finnischen Regierung, vertreten durch J. Heliskoski und S. Hartikainen als Bevollmächtigte,

‐ der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze und K. Petersen als Bevollmächtigte,

‐ der Europäischen Kommission, vertreten durch I. Koskinen, R. Lyal und T. Maxian Rusche als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 7. Februar 2013

folgendes

Urteil

Rz. 1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der einschlägigen Vorschriften des Unionsrechts über staatliche Beihilfen.

Rz. 2

Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der P Oy (im Folgenden: P) und den für die Körperschaftsteuer zuständigen nationalen Behörden über deren Weigerung, ihr den nach der geltenden nationalen Regelung grundsätzlich vorgesehenen Abzug der ihr entstandenen Betriebsverluste und den Ausgleich dieser Verluste während der folgenden Steuerjahre zu genehmigen.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Rz. 3

Art. 1 („Definitionen“) der Verordnung (EG) Nr. 659/1999 des Rates vom 22. März 1999 über besondere Vorschriften für die Anwendung von Artikel [108 AEUV] (ABl. L 83, S. 1) sieht vor:

„Für die Zwecke dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck

b) ‚bestehende Beihilfen‘:

i) unbeschadet der Artikel 144 und 172 der Akte [über die Bedingungen des Beitritts der Republik Österreich, der Republik Finnland und des Königreichs Schweden und die Anpassungen der die Europäische Union begründenden Verträge (ABl. 1994, C 241, S. 21, und ABl. 1995, L 1, S. 1, im Folgenden: Beitrittsakte)] alle Beihilfen, die vor Inkrafttreten des Vertrages in dem entsprechenden Mitgliedstaat bestanden, also Beihilferegelungen und Einzelbeihilfen, die vor Inkrafttreten des Vertrages eingeführt worden sind und auch nach dessen Inkrafttreten noch anwendbar sind;

…“

Finnisches Recht

Rz. 4

§ 117 („Verluste und Verlustabzug“) des Gesetzes Nr. 1535/1992 vom 30. Dezember 1992 über die Einkommensteuer (Tuloverolaki, im Folgenden: TVL) sieht vor:

„Die festgestellten Verluste werden nach Maßgabe dieses Abschnitts von den Einkünften der Folgejah...

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