Entscheidungsstichwort (Thema)

Wettbewerb. Art. 101 AEUV, 102 AEUV und 106 AEUV. Zusatzkrankenversicherung. Tarifvertrag. Pflichtmitgliedschaft bei einer bestimmten Versicherungseinrichtung. Ausdrücklicher Ausschluss jeglicher Möglichkeit der Befreiung von der Mitgliedschaft. Begriff des Unternehmens

 

Beteiligte

AG2R Prévoyance

AG2R Prévoyance

Beaudout Père et Fils SARL

 

Tenor

1. Art. 101 AEUV in Verbindung mit Art. 4 Abs. 3 EUV ist dahin auszulegen, dass er einer Entscheidung der staatlichen Stellen nicht entgegensteht, auf Antrag der Organisationen, die Arbeitgeber und Arbeitnehmer eines bestimmten Wirtschaftszweigs vertreten, eine aus Tarifverhandlungen hervorgegangene Vereinbarung, die die Pflichtmitgliedschaft bei einem Zusatzkrankenversicherungssystem, das von einer benannten Einrichtung verwaltet wird, ohne Befreiungsmöglichkeit vorsieht, für sämtliche Unternehmen des betreffenden Wirtschaftszweigs für verbindlich zu erklären.

2. Sofern die Tätigkeit, die in der Verwaltung eines Zusatzkrankenversicherungssystems wie des im Ausgangsverfahren fraglichen besteht, als wirtschaftliche Tätigkeit einzustufen ist – dies zu prüfen ist Sache des vorlegenden Gerichts –, sind die Art. 102 AEUV und 106 AEUV dahin auszulegen, dass sie unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens die staatlichen Stellen nicht daran hindern, einer Versorgungseinrichtung das ausschließliche Recht zur Verwaltung dieses Systems zu verleihen, ohne für die Unternehmen des betreffenden Wirtschaftszweigs die Möglichkeit einer Befreiung von der Mitgliedschaft bei diesem System vorzusehen.

 

Tatbestand

In der Rechtssache

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 234 EG, eingereicht vom Tribunal de grande instance de Périgueux (Frankreich) mit Entscheidung vom 27. Oktober 2009, beim Gerichtshof eingegangen am 9. November 2009, in dem Verfahren

AG2R Prévoyance

gegen

Beaudout Père et Fils SARL

erlässt

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Tizzano sowie der Richter J.-J. Kasel, A. Borg Barthet, E. Levits (Berichterstatter) und M. Safjan,

Generalanwalt: P. Mengozzi,

Kanzler: R. Şereş, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 30. September 2010,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

  • der AG2R Prévoyance, vertreten durch J. Barthélémy und O. Barraut, avocats,
  • der Beaudout Père und Fils SARL, vertreten durch F. Uroz, avocat,
  • der französischen Regierung, vertreten durch J. Gstalter als Bevollmächtigten,
  • der belgischen Regierung, vertreten durch J.-C. Halleux und C. Pochet als Bevollmächtigte,
  • der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller und N. Graf Vitzthum als Bevollmächtigte,
  • der Europäischen Kommission, vertreten durch F. Castillo de la Torre und P. J. O. Van Nuffel als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 11. November 2010

folgendes

Urteil

 

Entscheidungsgründe

Rz. 1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 81 EG und 82 EG.

Rz. 2

Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der AG2R Prévoyance (im Folgenden: AG2R), einer dem französischen Code de la sécurité sociale (Sozialgesetzbuch) unterliegenden Versorgungseinrichtung, und der Beaudout Père et Fils SARL (im Folgenden: Beaudout) über deren Weigerung, Mitglied bei der Zusatzkrankenversicherung zu werden, die von AG2R für Handwerksbäckereien in Frankreich angeboten wird.

Nationales Recht

Rz. 3

In Frankreich werden durch Krankheit oder Unfall verursachte Aufwendungen zu einem Teil vom Grundsystem der sozialen Sicherheit erstattet. Ein weiterer Teil kann dem Sozialversicherten im Rahmen einer Zusatzkrankenversicherung erstattet werden.

Rz. 4

Die Mitgliedschaft bei einer solchen Zusatzversicherung kann für die Arbeitnehmer eines bestimmten Berufszweigs von den Vertretern der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer in einer Vereinbarung oder in einem Tarifvertrag vorgesehen sein.

Rz. 5

So bestimmt Art. L 911-1 des Code de la sécurité sociale:

„Soweit er nicht durch Rechtsvorschriften eingeführt ist, wird der kollektive Schutz, den Arbeitnehmer, ehemalige Arbeitnehmer und anspruchsberechtigte Angehörige zusätzlich zu der Absicherung durch die Organisation der sozialen Sicherheit erhalten, im Wege von Tarifverträgen oder -vereinbarungen, durch von der Unternehmensleitung vorgeschlagene und mit Mehrheit der Betroffenen genehmigte Vereinbarung oder durch einseitigen, den Betroffenen schriftlich ausgehändigten Beschluss der Unternehmensleitung bestimmt.”

Rz. 6

Art. L 912-1 des Code de la sécurité sociale regelt die Pflichtmitgliedschaft bei einer Zusatzkrankenversicherung. Dieser Artikel bestimmt:

„Gemäß Art. L 911-1 des Code de la sécurité sociale für einen oder mehrere Berufe getroffene Vereinbarungen über eine Verteilung der Risiken und die Versicherung dieser Risiken bei einer oder mehreren Einrichtungen gemäß Art. 1 des Gesetzes Nr. 89-1009 vom 31. Dezember 1989 zur Stärkung des Versicherungsschutzes von Personen, die gegen bestimmte Risiken versi...

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Deutsches Anwalt Office Premium. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge