Ist die gemeinsame elterliche Sorge nach Prüfung durch das Gericht nicht aufrecht zu erhalten, ist in zweiter Stufe zu prüfen, ob die Übertragung der Alleinsorge auf den antragstellenden Elternteil dem Kindeswohl am besten entspricht.

Die folgenden Kriterien sind entscheidend, ohne dass eine unterschiedliche Rangfolge besteht oder in manchen Fällen eine klare Abgrenzung der einzelnen Prinzipien möglich wäre:

Förderungsprinzip

Nach dem Förderungsprinzip ist zu fragen, welcher Elternteil eher in der Lage ist, dem Kind die Entwicklungsmöglichkeiten zu vermitteln und den Aufbau seiner Persönlichkeit zu fördern. Hier spielen Erziehungseignung und –fähigkeit, also die Persönlichkeit des Elternteils und das Erziehungskonzept eine entscheidende Rolle.

Dabei kann berücksichtigt werden, wer die zeitlich weitergehenden Möglichkeiten zur Betreuung des Kindes hat, um auf dessen Fragen, Wünsche und Nöte eingehen zu können. Dies spielt vor allem bei jüngerem Alter des Kindes eine größere Rolle.

Bindungen des Kindes (an Eltern und Geschwister)

Wesentliches Kriterium für eine Entscheidung zur Übertragung der alleinigen elterlichen Sorge ist die Frage, inwieweit die jeweiligen Bindungen zu den Elternteilen und ggf. zu den Geschwistern gewachsen und gefestigt sind.

Dabei wird derjenige, der das Kind bereits einige Zeit allein betreut, regelmäßig die stärkere emotionale Bindung aufweisen können mit der Folge, dass eher diesem Elternteil die Alleinsorge übertragen wird.

Es gilt der Grundsatz, dass das gemeinsame Aufwachsen von Geschwistern für die Entwicklung förderlich ist, ein Auseinanderreißen von Geschwistern deshalb nach Möglichkeit zu vermeiden ist.

Anderes gilt nur dann, wenn der Altersunterschied zwischen den Geschwistern erheblich und auch sonst keine besondere Geschwisterbindung vorhanden ist.

Umgekehrt können die Bindungen des Kindes an seine Geschwister so stark wiegen, dass die Übertragung auch auf den deutlich weniger geeigneten Elternteil in Betracht kommt.

Kontinuitätsgrundsatz

Eine besondere Bedeutung bei der Entscheidung über die Alleinsorge kommt dem Kontinuitätsgrundsatz zu, d. h. der Frage, bei wem die Stabilität, die Gleichmäßigkeit und Einheitlichkeit der Erziehung am ehesten gewährleistet ist.

Stabilität bedeutet dabei die Aufrechterhaltung der Betreuungsperson und des sozialen Umfeldes (Kindergarten, Schule, Freunde, Sportverein etc.). Fallen die Betreuungsperson und das soziale Umfeld, z. B. durch Umzug der Mutter, auseinander, wird allerdings die Kontinuität der Betreuungsperson schwerer wiegen als der Umgebungswechsel.

Lebt das Kind bereits bei nur einem Elternteil (der getrennt lebenden Eltern), reduziert sich die Kindeswohlprüfung auf die Frage, ob ein Wechsel des Aufenthaltsortes angezeigt ist bzw. dem Kindeswohl am besten entspricht.

Insgesamt ist nach dem Kontinuitätsgrundsatz ein abrupter Wechsel in wichtigen örtlichen Lebensfragen zu vermeiden.

Problematisch können diese Grundsätze allerdings im Falle des einseitigen Entzugs des Kindes werden. Auf den Grundgedanken der Kontinuität kann sich deshalb nach ständiger Rechtsprechung derjenige nicht berufen, dessen Zusammenleben sich auf rechtswidriger Kindesentziehung gründet.

Gleichwohl hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass "die Abwägung aller Umstände des Einzelfalls nicht an einer Sanktion des Fehlverhaltens eines Elternteils (etwa der eigenmächtigen Mitnahme des Kindes bei der Trennung), sondern vorrangig am Kindeswohl unter besonderer Beachtung des Kontinuitätsgrundsatzes zu orientieren ist".

Der Grundsatz der Kontinuität spielt allerdings dann eine eher untergeordnete Rolle, wenn Kinder bis nachmittags in Kindergarten, Schule und Kindertagesstätte betreut werden und beide Elternteile vollschichtig berufstätig sind.

In solchen Fällen kommen bei der Entscheidung, welchem Elternteil das Sorgerecht oder ein Teil der elterlichen Sorge – etwa das Aufenthaltsbestimmungsrecht – zu übertragen ist, "der Erziehungskompetenz, der Förderkompetenz als Teil der Erziehungskompetenz sowie der Bindungstoleranz entscheidende Bedeutung zu".

Kindeswille

Der Wille des Kindes kann eine entscheidende Rolle bei der Frage der Übertragung der Alleinsorge spielen. Sein Wille ist zu berücksichtigen, soweit dies mit dem Kindeswohl vereinbar ist.

Etwa ab Erreichen des 12. Lebensjahres wird der Entscheidung des Kindes eine entscheidende Bedeutung zugemessen. Dies ist Ausdruck der verfassungsrechtlich zu beachtenden Selbstbestimmung des Kindes.

Das Bundesverfassungsgericht hat allerdings noch 2001 die Auffassung vertreten, dass bei einem unter 14 Jahre alten Kind festzustellen ist, ob der Wille ‹geprägt ist durch (eine) momentane oder manipulierte – möglicherweise durch Geschenke beeinflusste – Einstellung›.

Der EuGHMR hat hierzu ähnlich erklärt, dass auch bei einem über 12 Jahre alten Kind grundsätzlich zu prüfen ist, ob seine Entscheidung nicht auf Einflussnahme zurück zu führen ist.

Gerade bei jüngeren Kindern jedoch wird jeweils zu prüfen sein, ob offene und unbeeinflusste Angaben ...

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