Rz. 43

Im Falle der Verurteilung des Pflichtteilsberechtigten ist am Bestehen eines Schuldvorwurfs im strafrechtlichen Sinne nicht zu zweifeln. Nach zutreffender Ansicht des Bundesverfassungsgerichts muss aber für die Pflichtteilsentziehung auch ein hinter dem strafrechtlichen Verschulden deutlich zurückbleibender "natürlicher Vorsatz" genügen[138] (vgl. Vorbem. zu §§ 2333 ff. Rdn 6). Denn eine strikte Orientierung an den strafrechtlichen Begrifflichkeiten könne "im Einzelfall dem verfassungsrechtlichen Erfordernis eines angemessenen Ausgleichs der gegenüberstehenden Grundrechtspositionen widersprechen". Vor diesem Hintergrund hat der Gesetzgeber im Zuge der Erbrechtsreform 2010 dem Erblasser die Möglichkeit eingeräumt, auch einem Pflichtteilsberechtigten, der nicht schuldhaft im strafrechtlichen Sinne handeln kann, etwa einem psychisch Kranken, den Pflichtteil zu entziehen.[139] Die Pflichtteilsentziehung ist daher gem. Abs. 1 Nr. 4 S. 2 möglich, wenn die Unterbringung des Pflichtteilsberechtigten in einem psychiatrischen Krankenhaus oder in einer Entziehungsanstalt wegen einer ähnlich schwerwiegenden vorsätzlichen Tat[140] rechtskräftig angeordnet wird. Es geht also im Wesentlichen um Fälle, in denen eine Verurteilung nur deshalb nicht erfolgen kann, weil der Pflichtteilsberechtigte im strafrechtlichen Sinne schuldunfähig ist.[141]

 

Rz. 44

Problematisch kann aber im Einzelfall die Frage werden, ob die Tat des Pflichtteilsberechtigten tatsächlich ähnlich schwerwiegend ist wie die in Abs. 1 Nr. 4 S. 1 genannten, tatsächlich zu einer rechtskräftigen Verurteilung führenden Straftaten. Denn mangels strafgerichtlicher Verurteilung ist eine Bindung der Zivilgerichte an die strafrechtliche Entscheidung hier nur eingeschränkt möglich. Zwar bietet die rechtskräftige Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus oder in einer Entziehungsanstalt insoweit ein gewichtiges Indiz. Nichtsdestotrotz ist noch gesondert zu entscheiden, ob die angeordnete Sanktion Folge einer Tat ist, die – eine strafrechtliche Verantwortlichkeit des Pflichtteilsberechtigten vorausgesetzt – "hypothetisch" mit einer Freiheitsstrafe von wenigstens einem Jahr ohne Bewährung zu ahnden wäre.[142]

[138] BVerfGE 112, 332 Tz 90, 92.
[139] Ausdrücklich gedacht hat der Gesetzgeber dabei etwa an schuldunfähige Pflichtteilsberechtigte, die wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht werden; BT-Drucks 16/8954, S. 24.
[140] Wie einer solchen, die zu einer Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr ohne Bewährung führen würde.
[141] Vgl. auch Hölscher/Mayer, in: Mayer/Süß/Tanck/Bittler, HB Pflichtteilsrecht, § 8 Rn 61; MüKo/Lange, § 2333 Rn 45; Burandt/Rojahn/Horn, Erbrecht, § 2333 Rn 36.
[142] Vgl. Muscheler, ZEV 2008, 105, 106; MüKo/Lange, § 2333 Rn 45; BeckOGK/Rudy, § 2333 Rn 43; Hölscher/Mayer, in: Mayer/Süß/Tanck/Bittler, HB Pflichtteilsrecht, § 8 Rn 62.

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