a) Wirtschaftlicher Hintergrund

 

Rz. 349

Der BGH hat einen Abzug fiktiver (von ihm natürlich als latent bezeichneter) Steuerlasten als Nachlassverbindlichkeiten bereits im Jahre 1972 kategorisch ausgeschlossen.[916] Gleichzeitig stellte er aber fest, dass eine Berücksichtigung z.B. im Rahmen der Bewertung (im seinerzeitigen Fall konkret einer Unternehmensbewertung) angebracht sei bzw. wenigstens sein könne.[917] Das gelte insbesondere dann, wenn die Auflösung der stillen Reserven durch Verkauf absehbar oder sogar vom Erblasser angeordnet sei.

Auch in späteren Entscheidungen hat der BGH mehrfach bestätigt, dass fiktive Steuern im Rahmen der Bewertung zu berücksichtigen seien, wenn der Wert der betreffenden Nachlassgegenstände nur durch Verkauf realisiert werden könne.[918] Dies muss umso mehr gelten, wenn die Steuerlast bei einer tatsächlich nach dem Erbfall erfolgenden Veräußerung nicht fiktiv bzw. "latent" bleibt, sondern real wird.[919]

 

Rz. 350

Dieser Sichtweise kann man weder unter rechtlichen noch unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten viel entgegenhalten. Zu Recht hat der BGH dabei in der Vergangenheit auch regelmäßig auf das zugrunde zu legende Verwertungsszenario abgestellt.[920] Denn ohne einen tatsächlichen (oder wenigstens unterstellten) Verkauf des jeweiligen Vermögensgegenstands kommt es zu keiner (zukünftigen) Besteuerung eines etwaigen Veräußerungsgewinns. Die Steuer bleibt dann dauerhaft fiktiv.

Zunehmend zeigt der BGH jedoch die Tendenz, im Rahmen des Pflichtteilsrechts ebenso wie im Recht des Zugewinnausgleichs (wenigstens fiktiv) eine Versilberung des Nachlassvermögens am Bewertungsstichtag (Todestag des Erblassers) zu unterstellen.[921]

 

Rz. 351

Dessen ungeachtet bleibt festzuhalten, dass immer dann, wenn eine zukünftige Veräußerung das maßgebliche Verwertungsszenario bildet, auch die zukünftige bzw. die fiktive zukünftige Steuerbelastung in die Bewertung einfließen muss. Denn ohne diese Steuerbelastung in Kauf zu nehmen (auszulösen), ist eine Realisierung des Veräußerungspreises nicht möglich.[922] Dies gilt jedenfalls dann, wenn "jedermann", also der Erblasser und der Erbe auf der einen ebenso wie der Pflichtteilsberechtigte (wenn er Erbe geworden wäre) auf der anderen Seite, dem Grunde nach dieser Besteuerung unterläge bzw. unterliegt.

[917] Der BGH verwies dabei auf Bankmann, Wpg 1959, 148 ff.; Peupelmann, DB 1961, 1397 ff. m.w.N.
[918] BGH NJW 1982, 2497, 2498; BGH FamRZ 1986, 776; BGHZ 98, 382, 389; ebenso OLG München NJW-RR 2003, 1518, 1519; a.A. aber Daragan, ZErb 2015, 329, 331 f.
[919] Riedel, ErbR 2018, 362, 368; ebenso Schmid, ZErb 2015, 133, 135.
[920] BGH NJW 1972, 1269, 1270; MüKo/Lange, § 2311 Rn 41.

b) Dogmatische Einordnung

 

Rz. 352

Entgegen der Auffassung des BGH, dass die latente (oder fiktive) Steuer im Rahmen der Bewertung der Aktiva erfasst werden müsse, hat das OLG Oldenburg[923] jüngst angenommen, die im Falle der Veräußerung von Kapitalanlagen anfallende Abgeltungssteuer (§ 20 Abs. 2 Nr. 6 EStG) sei eine Verbindlichkeit, die dem Grunde nach bereits in der Person des Erblassers entstanden und daher als gesonderter Passivposten im Nachlassverzeichnis zu berücksichtigen sei.

 

Rz. 353

Diese Sichtweise stellt einen (krassen) Verstoß gegen das Stichtagsprinzip dar. Denn die in Rede stehenden Steuern auf einen etwaigen Veräußerungsgewinn fallen erst und auch nur dann an, wenn es tatsächlich zu einer Veräußerung und damit zu einer Gewinnrealisierung kommt. Im Übrigen entstehen Steuerverbindlichkeiten nach § 38 AO erst (und nur) dann, wenn der jeweilige gesetzliche Steuertatbestand verwirklicht wird, an den das Gesetz die Leistungspflicht knüpft. Das war zu Lebzeiten des Erblassers nicht der Fall. Die Steuerverbindlichkeiten entstanden erst nach dem Tod. Vor diesem Hintergrund könnte man – wenn überhaupt – lediglich von aufschiebend bedingten bzw. zweifelhaften Verbindlichkeiten (§ 2313 BGB) sprechen, die im Rahmen der Pflichtteilsberechnung zu berücksichtigen sind, sobald die Bedingung eingetreten oder die Zweifel weggefallen sind.

 

Rz. 354

Dogmatisch überzeugender erscheint daher die Herangehensweise des BGH, der die fiktiven bzw. zukünftigen fiktiven (latenten) Steuern im Rahmen der Bewertung des jeweiligen Nachlass-Aktivums berücksichtigt wissen will.[924]

Eine ausdrückliche gesetzliche Grundlage hierfür sucht man jedoch vergeblich. Denn in § 2311 BGB geht es um den "Wert". Wenn man diesen, wie der BGH das zu Recht tut, (grundsätzlich) mit dem Normalverkaufspreis gleichsetzt,[925] kann bei dessen Bestimmung die (mögliche) Steuerbelastung des Erben keine Rolle spielen.

 

Rz. 355

Denn der Verkaufspreis ist eine Größe, die der Bestimmung einer etwaigen Steuerbelastung logisch vorgelagert ist. Dies wird deutlich, wenn man sich den Rechenweg zur Bestimmung der fiktiven/latenten Steuer – jedenfalls für Fälle, in denen steuerliches Betriebsvermögen verkauft bzw. ein (ruhender) Betrieb aufgegeben wird – vergegenwärtigt:

Insoweit regelt § 16 Abs. 3 i.V.m. Abs. 2 EStG, dass ei...

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