Rz. 4

Die Unfähigkeit, Geschriebenes lesen zu können oder eine entsprechende Überzeugung des Notars hinsichtlich des Testierenden schließt für diesen nach Abs. 2 die Möglichkeit aus, ein öffentliches Testament durch Übergabe einer Schrift zu errichten. Denn wer schriftlich testieren will, muss zumindest im Stande sein, sich durch eigenes Lesen Kenntnis vom Inhalt der Schrift zu verschaffen.[9] Verlangt wird insoweit abstraktes Lesevermögen, d.h. die Fähigkeit, den Sinn des Geschriebenen erfassen zu können.[10] Die Ursache für diese Leseunfähigkeit, sei es nun Blindheit, hochgradige Geistesschwäche, schwere Beeinträchtigung der Sehkraft (auch vorübergehend),[11] Analphabetismus usw., ist unerheblich.[12]

 

Rz. 5

Dem gleich steht auch derjenige Testierer, der die Sprache nicht versteht, in der die Schrift verfasst ist.[13] Des Lesens unkundig ist auch der Blinde, soweit er die Blindenschrift nicht beherrscht,[14] während umgekehrt die Fähigkeit, Texte in Blindenschrift erfassen zu können, dazu führt, dass diese "so Geschriebenes" lesen und daher durch Übergabe einer in Blindenschrift verfassten Urkunde auch testieren können.[15] Beherrscht der Notar die Blindenschrift nicht, so soll er dies in der Niederschrift vermerken, damit deutlich wird, dass die Rechtslage in diesem Falle derjenigen bei Übergabe einer verschlossenen Schrift entspricht.[16]

Hat der Erblasser zur Überzeugung des Notars verschwiegen, dass er nicht lesen kann und hielt ihn der Notar für des Lesens kundig, so ist das Testament grds. voll wirksam.[17] Dies gilt selbst noch bei grober Fahrlässigkeit des Notars.[18] Wer sich darauf beruft, dass der Erblasser unfähig sei, Geschriebenes zu lesen, ist dafür beweispflichtig.[19] Es genügt allerdings, wenn sich der Erblasser selbst als leseunfähig bezeichnet; hieran ist der Notar gebunden.[20] Diese Erklärung ist deshalb jetzt nach § 22 Abs. 1 S. 3 BeurkG n.F. in die Niederschrift aufzunehmen.

[9] Mot. V, 277.
[10] Staudinger/Baumann, § 2233 Rn 16: RGZ 76, 94, 95; Art des Lesens ist unerheblich nach AG Neuss FamRZ 2018, 390, 391.
[11] OLG Hamm DNotZ 1967, 317 ff.
[12] RG JW 1903, 130 f.
[13] MüKo/Hagena, § 2233 Rn 9; Deutscher Erbrechtskommentar/Schnabel, § 2233 Rn 5; RGZ 76, 94, 95.
[14] BayObLG FamRZ 00, 322, 323; Palandt/Weidlich, § 2233 Rn 2; MüKo/Hagena, § 2233 Rn 10.
[15] Rohlfing/Mittenzwei, FamRZ 2000, 654, 655; Schulze, DNotZ 1955, 629; a.A. jedoch OLG Koblenz NJW 1988, 1784.
[16] Staudinger/Baumann, § 2233 Rn 19.
[17] MüKo/Hagena, § 2233 Rn 15; Staudinger/Baumann, § 2233 Rn 22.
[18] MüKo/Hagena, § 2233 Rn 15; Soergel/Mayer, § 2233 Rn 5.
[19] RGZ 76, 94 f.; KG JW 1936, 3484 f.; BayObLG MittBayNot 1995, 56, 57; OLG Hamburg FamRZ 2016, 2036.
[20] Soergel/Mayer, § 2233 Rn 4; OLG Hamm NJW 20020, 3410.

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