Entscheidungsstichwort (Thema)

Zwangsverkauf. Vermutung der Verfolgungsbedingtheit. Widerlegung der Vermutung. angemessener Kaufpreis. Verhältnis Einheitswert/Verkehrswert. Erfahrungssatz. andere Tatsachen. Zusammenhang zwischen Auswanderung und Veräußerung

 

Leitsatz (amtlich)

  • Ein bei der Veräußerung eines Grundstücks nach dem 30. Januar 1933 erzielter Kaufpreis kann nicht allein deswegen als angemessen im Sinne von § 1 Abs. 6 Satz 2 VermG, Art. 3 Abs. 2 REAO angesehen werden, weil er den Einheitswert des Grundstücks um mehr als 20 % überstieg.
  • Ist ein im Sinne von Art. 3 Abs. 1 REAO Verfolgter wegen dieser Verfolgung aus Deutschland ausgewandert und hat er im engen zeitlichen Zusammenhang damit ein Grundstück veräußert, spricht dies als andere Tatsache im Sinne von Art. 3 Abs. 2 REAO dafür, dass die Veräußerung des Grundstücks der Vorbereitung und Abwicklung der verfolgungsbedingten Auswanderung diente und damit selbst durch die Verfolgung bedingt war.
 

Normenkette

VermG § 1 Abs. 6; REAO Art. 3 Abs. 2

 

Verfahrensgang

VG Chemnitz (Urteil vom 08.12.1998; Aktenzeichen 6 K 845/95)

 

Tenor

Das Urteil des Verwaltungsgerichts Chemnitz vom 8. Dezember 1998 wird aufgehoben.

Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Verwaltungsgericht zurückverwiesen.

Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.

 

Tatbestand

I.

Die Klägerin begehrt die vermögensrechtliche Rückübertragung eines Grundstücks.

Eigentümer des Grundstücks waren seit 1919 die Eheleute K.…, die der jüdischen Glaubensgemeinschaft angehörten und die polnische Staatsangehörigkeit besaßen. Das rund 430 m(2) große Grundstück, dessen Einheitswert 26 300 RM betrug, war mit einem mehrgeschossigen Gebäude bebaut. Es enthielt fünf Wohnungen. Einen Teil des Gebäudes nutzte der Eigentümer K.… für einen von ihm betriebenen Sackhandel.

Mit Kaufvertrag vom 1. August 1935 veräußerten die Eheleute K.… das Grundstück für 32 000 RM an Herrn Dr. Rudolph R.…, den Großvater und Rechtsvorgänger der Beigeladenen. Der Käufer übernahm in Anrechnung auf den Kaufpreis zwei Hypotheken. Der Restkaufpreis sollte nach der Auflassung bar bezahlt werden. Die Auflassung wurde im Kaufvertrag erklärt; die Eintragung im Grundbuch erfolgte am 12. September 1935. Das Sackgeschäft wurde aufgegeben. Die Eheleute K.… wanderten zu einem nicht genau bestimmten Zeitpunkt nach Palästina aus.

In einem Verfahren nach dem Bundesentschädigungsgesetz wurde der auswanderungsbedingte Verlust des Sachgeschäftes als Schaden im beruflichen Fortkommen anerkannt (Bescheid des Regierungspräsidenten H.… vom 8. Juli 1961). In jenem Verfahren hatte ein Sohn der Eheleute K…. am 12. Dezember 1957 eine eidesstattliche Versicherung abgegeben. In ihr heißt es, die Familienmitglieder hätten außer Einbußen bei der Veräußerung des Sackhandels einen Verlust bei der Veräußerung des Grundstücks erlitten, welches einen Wert von 50 000 RM gehabt habe und für das sie nur 32 000 RM hätten erhalten können; der insoweit erlittene Schaden belaufe sich auf 18 000 RM. In einem späteren Verfahren nach dem Lastenausgleichsgesetz stellte das Ausgleichsamt zwar einen Entziehungsschaden an dem Grundstück fest, lehnte die Gewährung einer Hauptentschädigung jedoch ab, weil sich nach Abzug des in die freie Verfügung gelangten Kaufpreises kein Schadensbetrag mehr errechne.

Den vermögensrechtlichen Antrag der Klägerin auf Rückübertragung des Grundstücks lehnte die Beklagte ab.

Die nach erfolglosem Widerspruch erhobene Klage hat das Verwaltungsgericht durch das angefochtene Urteil mit der Begründung abgewiesen, dass die Vermutung eines verfolgungsbedingten Vermögensverlustes widerlegt sei. Die Eheleute K.… hätten einen angemessenen Kaufpreis für das Grundstück erhalten. In Übereinstimmung mit der rückerstattungsrechtlichen Rechtsprechung sei ein Kaufpreis angemessen, der den Einheitswert – wie hier – um mehr als 20 % übersteige. Der Kaufpreis sei in die freie Verfügung der Verkäufer gelangt. Dies ergebe sich letztlich aus der eidesstattlichen Versicherung vom 12. Dezember 1957. Die Verfolgungsbedingtheit der Veräußerung sei weder durch andere Tatsachen bewiesen noch sprächen solche für sie.

Gegen dieses Urteil richtet sich die vom Senat zugelassene Revision der Klägerin. Sie macht geltend: Das Verwaltungsgericht lege nicht dar, woraus es seine Erkenntnis herleite, ein Kaufpreis sei angemessen, wenn er den Einheitswert um mehr als 20 % übersteige. Eine dahin gehende rückerstattungsrechtliche Rechtsprechung habe es nicht gegeben. Das Verwaltungsgericht habe keine Feststellungen dazu getroffen, dass die Veräußerer über den Kaufpreis hätten frei verfügen können. Es stelle die Zahlung des Kaufpreises rechtsfehlerhaft mit der freien Verfügbarkeit über ihn gleich. Im Übrigen sprächen andere Tatsachen für einen verfolgungsbedingten Vermögensverlust. Die Eheleute K.… seien im engen zeitlichen Zusammenhang mit der Aufgabe des Sackgeschäfts, die auf einen verfolgungsbedingten Umsatzrückgang (Boykott) zurückzuführen sei, und der Veräußerung des Grundstücks nach Palästina ausgewandert.

Die Beklagte hat sich im Revisionsverfahren nicht geäußert.

Die Beigeladenen verteidigen das angefochtene Urteil. Ergänzend machen sie geltend: Ein verfolgungsbedingter Vermögensverlust sei nicht nachvollziehbar. Nach den Unterlagen des Stadtarchivs Zwickau und einer eidesstattlichen Versicherung der früheren Eigentümerin hätten die Veräußerer Deutschland erst 1938 verlassen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision ist begründet. Das Urteil des Verwaltungsgerichts verletzt Bundesrecht. Es beruht auf einer rechtsfehlerhaften Anwendung des § 1 Abs. 6 VermG in Verbindung mit Art. 3 Abs. 2 der Anordnung BK/0 (49) 180 der Alliierten Kommandantur von Berlin (Rückerstattungsanordnung – REAO –) vom 26. Juli 1949 (VOBl für Groß-Berlin S. 221). Die bislang festgestellten Tatsachen lassen eine abschließende Entscheidung über die Klage nicht zu. Daher ist das Urteil des Verwaltungsgerichts nach § 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO aufzuheben und der Rechtsstreit zur weiteren Sachaufklärung an das Verwaltungsgericht zurückzuverweisen.

1. Nach der Vorschrift des § 1 Abs. 6 Satz 2 VermG, die ihrerseits auf die in Art. 3 der Anordnung BK/O (49) 180 der Alliierten Kommandantur von Berlin (Rückerstattungsanordnung – REAO –) vom 26. Juli 1949 (VOBl für Groß-Berlin S. 221) getroffenen Regelungen verweist, wird zugunsten des Berechtigten ein verfolgungsbedingter Vermögensverlust vermutet, wenn die Veräußerung eines Vermögensgegenstandes in der Zeit vom 30. Januar 1933 bis zum 8. Mai 1945 durch jemanden erfolgt ist, der zu einem von den Nationalsozialisten kollektiv verfolgten Personenkreis gehörte. Einer solchen kollektiven Verfolgung waren ab dem Tag der “Machtübernahme” alle Angehörigen des jüdischen Glaubens, also auch die Eheleute K.… ausgesetzt, und zwar unabhängig davon, ob sie eine deutsche oder eine fremde Staatsangehörigkeit besaßen (BVerwG, Beschluss vom 23. Juli 1999 – BVerwG 7 B 52.99 – ZOV 1999, 398). Die damit zugunsten der Klägerin wirkende Vermutung eines verfolgungsbedingten Vermögensverlustes kann, wenn keine anderen Tatsachen eine ungerechtfertigte Entziehung beweisen oder für eine solche Entziehung sprechen, nur durch den Beweis widerlegt werden, dass der Veräußerer einen angemessenen Kaufpreis erhalten hat und über ihn frei verfügen konnte (Art. 3 Abs. 2 REAO). Das Verwaltungsgericht ist, wie die Revision zutreffend rügt, zu Unrecht davon ausgegangen, dass im vorliegenden Falle von einer solchen Widerlegung auszugehen sei.

a) Nicht zu folgen ist der Revision allerdings, soweit sie sich gegen die Auffassung des Verwaltungsgerichts wendet, die Veräußerer hätten den vereinbarten Kaufpreis nicht nur erhalten, sondern über ihn frei verfügen können. Der Sachverhaltswürdigung des Verwaltungsgerichts liegt nicht eine rechtlich unzutreffende Gleichstellung von Zahlung und Verfügbarkeit zugrunde. Wenn das Verwaltungsgericht ausführt, der Erwerber habe den vereinbarten Kaufpreis an die Veräußerer gezahlt, so will es damit nach dem Gesamtzusammenhang der Entscheidungsgründe auch zum Ausdruck bringen, dass der Kaufpreis mit dieser Zahlung in die freie Verfügung der Veräußerer gelangt ist. Für diese Feststellung durfte das Verwaltungsgericht sich maßgeblich auf die hierfür verwertete eidesstattliche Versicherung stützen, die einer der Söhne der Veräußerer in dem Verfahren nach dem Bundesentschädigungsgesetz im Jahre 1957 abgegeben hat. Seiner Angabe, man habe für das Grundstück 32 000 RM erhalten, lässt sich ohne weiteres entnehmen, der vereinbarte Kaufpreis sei den Veräußerern wirtschaftlich effektiv zugeflossen. Die eidesstattliche Versicherung legt die verfolgungs- und auswanderungsbedingt eingetretenen effektiven Vermögenseinbußen dar. Als wirtschaftlicher Verlust aus der Veräußerung des Grundstücks wird nur die Differenz des Kaufpreises zu dem angenommenen Marktwert des Grundstücks von 50 000 RM angeführt. Dagegen findet sich kein Hinweis darauf, dass den Eheleuten K.… der gezahlte Kaufpreis infolge von Verfügungsbeschränkungen praktisch vorenthalten und damit tatsächlich nicht zugute gekommen ist. Ein solcher Umstand wäre, wenn er wirklich vorgelegen hätte, nicht unerwähnt geblieben.

b) Rechtsfehlerhaft ist demgegenüber die weitere Annahme des Verwaltungsgerichts, der vereinbarte Kaufpreis von 32 000 RM sei angemessen gewesen.

Nach der Legaldefinition des Art. 3 Abs. 2 REAO ist als angemessener Kaufpreis ein Geldbetrag anzusehen, den ein Kauflustiger zu zahlen und ein Verkaufslustiger anzunehmen bereit gewesen wäre. Damit ist der Sache nach der objektive Verkehrswert angesprochen. Dieser Verkehrswert und damit der angemessene Kaufpreis ist im Wege der freien Beweiswürdigung in erster Linie durch konkrete Vergleichsverkäufe und/oder anhand eines Sachverständigengutachtens zu ermitteln. Aus Gründen der Vereinfachung sind die Tatsachengerichte nicht gehindert, bei der Bestimmung der Angemessenheit als Indiz auf den damaligen Einheitswert des Grundstücks abzustellen. Dieser bildet regelmäßig die unterste Grenze des Verkehrswertes (vgl. dazu das die bisherige Rechtsprechung zusammenfassende Urteil des BVerwG vom 24. Februar 1999 – BVerwG 8 C 15.98 – BVerwGE 108, 301, 306 ff.). Dagegen trifft die Annahme des Verwaltungsgerichts nicht zu, ein Kaufpreis sei regelmäßig dann als angemessen anzusehen, wenn er den jeweiligen Einheitswert um mehr als 20 % übersteige, wie das hier der Fall war. Es existiert keine Erfahrungstatsache über das Verhältnis des Einheitswerts zum Verkehrswert mit dem behaupteten Inhalt. Auf konkrete Ermittlungen zur Höhe des Verkehrswerts durfte das Verwaltungsgericht deshalb nicht verzichten.

Namentlich lässt sich ein Erfahrungssatz, wie das Verwaltungsgericht ihn annimmt, nicht aus der Rechtsprechung zum Rückerstattungsrecht herleiten. Die Rückerstattungsgerichte verlangten vielmehr durchgängig, über die Angemessenheit des Kaufpreises in der Regel auf der Grundlage eines Sachverständigengutachtens zum Verkehrswert zu entscheiden (OLG Celle vom 23. November 1953, RzW 1954, 101 Nr. 10; OLG Düsseldorf vom 12. Februar 1954, RzW 1954, 104 Nr. 13; CoRA Nürnberg vom 30. November 1954, RzW 1955, 36 Nr. 3; ORG Berlin vom 17. Juli 1956, RzW 1956, 357 Nr. 18). Die Erkenntnisse und Erfahrungen, die auf der Grundlage einer solchen konkreten Ermittlung in mehr oder weniger zahlreichen Einzelfällen gewonnen wurden, haben sich in der Praxis der Rückerstattungsgerichte nicht zu einer allgemeinen Aussage über ein bestimmtes Verhältnis des Einheitswerts zum Verkehrswert verfestigt. Die veröffentlichte Rechtsprechung der Rückerstattungsgerichte liefert hierfür keine Belege. Auch das Schrifttum zum Rückerstattungsrecht weist eine solche Rechtsprechung nicht nach. Als Beleg wird allein die Entscheidung der Wiedergutmachungskammer München vom 27. Juli 1949 (RzW 1949, 5 Nr. 96) angeführt (vgl. insbesondere: Behandlung der vermögensrechtlichen Ansprüche der NS-Verfolgten, Heft 6 der Schriftenreihe des Bundesamtes zur Regelung offener Vermögensfragen, S. 49). Diese Entscheidung ist offensichtlich vereinzelt geblieben. Zudem deckt sie sich inhaltlich nicht mit dem behaupteten rückerstattungsrechtlichen Grundsatz. Sie stellt die These auf, ein Kaufpreis über 25 % des Einheitswertes widerlege die Entziehungsvermutung. Der hier vereinbarte Kaufpreis erreicht diese Grenze nicht.

Das Schrifttum zum Rückerstattungsrecht hielt ebenfalls durchweg zur Ermittlung des Verkehrswertes Sachverständigengutachten für erforderlich (vgl. beispielsweise die zusammenfassende Darstellung von Schwarz, Rückerstattung nach den Gesetzen der Alliierten Mächte, 1974, S. 161). “Schematische Ansätze mit 20 bis 30 % über Einheitswert” wurden ausdrücklich als viel zu ungenau zurückgewiesen (Goetze, Die Rückerstattung in Westdeutschland und Berlin, 1950, Art. 3 USREG Anmerkung 8; ähnlich Harmening/Hartenstein/Osthoff, Rückerstattungsgesetz, 1950, Band II Art. 3 Anmerkung IV.1).

Dass der Verkehrswert eines Grundstücks regelmäßig den Einheitswert nicht um mehr als 20 5 überstieg, lässt sich auch nicht aus der Genehmigungspraxis der Preisbildungs- und Überwachungsstellen auf der Grundlage der Verordnung über das Verbot von Preiserhöhungen vom 26. November 1936 (RGBl I S. 955) herleiten. Sie kannte zwar eine “120 %-Formel”. Diese taugt jedoch nicht als Grundlage einer das Wiedergutmachungsrecht betreffenden Vermutungsregel. Nach dem Runderlass Nr. 12 des Stadtpräsidenten der Reichshauptstadt Berlin (Preisbildungsstelle) vom 9. Oktober 1939 (abgedruckt in Heft 6, S. 18, der Schriftenreihe des Bundesamtes zur Regelung offener Vermögensfragen, Behandlung der vermögensrechtlichen Ansprüche der NS-Verfolgten) konnte für die Ermittlung des volkswirtschaftlich gerechtfertigten Grundstückswertes bei dem Verkauf von Grundstücken aus “arischem Besitz” von einer ins Einzelne gehenden Berechnung abgesehen werden, wenn der Grundstückspreis 120 % des Einheitswertes 1935 nicht überstieg. Aus dieser Genehmigungspraxis lässt sich allenfalls auf eine damals (1939) vorhandene Vorstellung schließen, ein Kaufpreis in Höhe von 120 % des Einheitswerts übersteige den Verkehrswert nicht, der Verkehrswert liege vielmehr regelmäßig oberhalb der so bezeichneten Preisspanne, sodass bei ihrem Unterschreiten nähere Prüfungen hinsichtlich eines zu hohen und daher genehmigungsunfähigen Kaufpreises verzichtbar seien. Der Runderlass stützt sich dabei nicht einmal auf Erfahrungen aus den bis dahin bearbeiteten Fällen. Maßgebend für die empfohlene Genehmigungspraxis waren vielmehr, wie es in dem Runderlass ausdrücklich heißt, Gründe der Verwaltungsvereinfachung: Die Personalschwierigkeiten bei den mit der “Grundstücksentjudung” befassten Dienststellen machten es dringend erforderlich, unter gewissen Voraussetzungen bei der Preisermittlung ein vereinfachtes Verfahren anzuwenden. Schon deshalb kann offen bleiben, ob dieser Runderlass Aussagekraft für Grundstückspreise in früheren Jahren und außerhalb Berlins hat.

Die Vorschriften über die Festsetzung der Einheitswerte geben gleichfalls nichts für ein festes Verhältnis zwischen Einheitswert und Verkehrswert her.

Zwar war gemäß § 10 Abs. 1 des Reichsbewertungsgesetzes (RBewG) vom 16. Oktober 1934 (RGBl I S. 1035) bei Bewertungen, soweit nichts anderes vorgeschrieben war, der gemeine Wert zugrunde zu legen. Der gemeine Wert wird durch den Preis bestimmt, der im gewöhnlichen Geschäftsverkehr nach der Beschaffenheit des Wirtschaftsguts bei einer Veräußerung zu erzielen wäre (§ 10 Abs. 2 RBewG). Er war damit gleichbedeutend mit dem Verkehrswert. Nach den Durchführungsbestimmungen zum Reichsbewertungsgesetz für die Bewertung des Vermögens nach dem Stand vom 1. Januar 1935 (RBewDB 1935) vom 2. Februar 1935 (RGBl I S. 81) waren Mietwohngrundstücke und gemischt genutzte Grundstücke mit einem Vielfachen der Jahresrohmiete zu bewerten. Das galt selbst dann, wenn der sich hiernach ergebende Betrag wesentlich hinter dem geschätzten gemeinen Wert zurückblieb (vgl. RFH vom 9. April 1937, RStBl 1937, 634; RFH vom 25. Mai 1938, RStBl 1938, 612). Die Jahresrohmiete war das Gesamtentgelt, das die Mieter für die Benutzung des Grundstücks aufgrund vertraglicher oder gesetzlicher Bestimmungen nach dem Stand des Feststellungszeitpunkts, umgerechnet auf ein Jahr, zu entrichten hatten (§ 34 Abs. 1 RBewDB). Der Vervielfältiger war “nach den Verhältnissen auf dem Grundstücksmarkt” zu bestimmen (§ 36 Abs. 1 RBewDB). Er wurde als grobe Durchschnittszahl aus Kaufpreisen abgeleitet. Der Wert eines Grundstücks, der sich aus dem Vielfachen der Jahresrohmiete ergab, war zu ermäßigen oder zu erhöhen, wenn Umstände tatsächlicher Art vorlagen, die von den bei der Bildung der Vervielfältiger zugrunde gelegten Verhältnissen des Bezirks und der Grundstücksgruppe wesentlich abwichen (§ 37 Abs. 1 Satz 1 RBewDB). Solche Umstände waren grundsätzlich nur der bauliche Zustand, das Alter oder die Errichtung des Gebäudes, die Lage des Grundstücks, die Art der Bebauung, Schadensgefahren und die Belastung mit Gebäudeentschuldungsteuer (§ 37 Abs. 1 Satz 2 RBewDB). Bezogen auf das konkrete Grundstück wurden diese Umstände als nicht in der Regel, sondern nur ausnahmsweise bewertet. Sie sind indes im Verkaufsfall für den Wert des Grundstücks von wesentlicher Bedeutung. Das Jahresrohmietenverfahren hatte also nicht die Veräußerung als Vergleichsfall vor Augen. Es bezog sich auf die laufende Nutzung. Zudem typisierte es stark, wie der Vervielfältiger zeigt. Damit konnte es zu einer erheblichen Schwankungsbreite im Verhältnis von Einheitswert und Verkehrswert kommen.

Hiernach lassen die Einheitswerte eine generelle positive Aussage über die Höhe der Verkehrswerte nicht zu. Sie begründen – da sie immerhin am Verkehrswert ausgerichtet waren – lediglich den bereits erwähnten negativen Erfahrungssatz des Inhalts, dass die Verkehrswerte regelmäßig nicht niedriger als die ermittelten Einheitswerte waren. Dieser Erfahrungssatz beantwortet indes nur die Frage, welche Gegenleistung regelmäßig nicht mehr angemessen war. Erreichte der Kaufpreis nicht einmal den Einheitswert, kann daraus, vorbehaltlich besonderer Umstände, auf eine Unterschreitung des Verkehrswertes und damit auf die Unangemessenheit des Kaufpreises geschlossen werden. Nur von einem solchen Erfahrungssatz ist das Bundesverwaltungsgericht auch in seiner Rechtsprechung zum Lastenausgleichsrecht (§ 2 Abs. 2 der 7. FeststellungsDV) ausgegangen (vgl. insbesondere Urteil vom 26. Februar 1970 – BVerwG 3 C 84.68 – RzW 1970, 522; die Entscheidung wird deshalb zu Unrecht in Heft 6 der Schriftenreihe des Bundesamtes zur Regelung offener Vermögensfragen, Behandlung der vermögensrechtlichen Ansprüche der NS-Verfolgten, S. 49, für die dort vertretene 120 %-Formel in Anspruch genommen.

Eine weiter gehende Aussage über ein regelhaftes Verhältnis zwischen Einheitswert und Verkehrswert lässt sich nicht treffen. Der Einheitswert kann aber wegen der in ihn eingehenden Faktoren als Indiz für den Verkehrswert und damit für den angemessenen Kaufpreis herangezogen werden. Als ein solches Indiz haben ihn sowohl die rückerstattungsrechtliche Rechtsprechung als auch die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu § 1 Abs. 6 VermG betrachtet. Der Einheitswert kann demnach aus anderen Umständen hergeleitete Aussagen zum Verkehrswert ergänzen, bestätigen und absichern. Das wird umso eher möglich sein, wenn bekannt ist, welche Umstände mit welcher Bewertung in seine Festsetzung konkret eingegangen sind. Nach dem Vortrag der Klägerin sind die Steuerakten über die Festsetzung des Einheitswertes noch vorhanden. Ihre Beiziehung könnte Aufschluss darüber geben, inwieweit hier der Einheitswert einen brauchbaren Anhalt für den Verkehrswert des streitigen Grundstücks im Zeitpunkt der Veräußerung bietet.

Im konkreten Fall liegt nahe, dass der Verkehrswert des streitigen Grundstücks durch den um 20 % erhöhten Einheitswert nicht hinreichend erfasst wird. Das Grundstück war intensiv baulich genutzt. Es war mit einem massiven dreigeschossigen Hauptgebäude und einem gewerblich genutzten Hintergebäude bebaut. Der Gebäudewert war offensichtlich erheblich. Er spiegelt sich in dem hohen Feuerversicherungswert wider, der 50 000 DM betragen haben soll. Ohne einen Abgleich mit den offenbar noch vorhandenen Steuerakten durfte das Verwaltungsgericht die 120 %-Formel nicht anwenden. Dementsprechend ist der Rechtsstreit zur weiteren Aufklärung, ob der von den Eheleuten K.… erzielte Kaufpreis angemessen war, zurückzuweisen.

2. Von einer solchen Zurückverweisung kann auch nicht deshalb abgesehen werden, weil die Ursächlichkeit der Verfolgung für den Abschluss des Kaufvertrages durch andere Tatsachen im Sinne von § 1 Abs. 6 Satz 2 VermG, Art. 3 Abs. 2 REAO bewiesen ist oder doch andere Tatsachen für einen solchen Ursachenzusammenhang in dem Sinne sprechen, dass sie die Verfolgungsbedingtheit des Vermögensverlustes überwiegend wahrscheinlich machen (vgl. BVerwG, Urteil vom 18. Dezember 1998 – BVerwG 8 C 14.98 – BVerwGE 108, 157, 168). Das Verwaltungsgericht hat auch in dieser Hinsicht den Sachverhalt nicht hinreichend aufgeklärt.

Eine andere Tatsache im Sinne des Art. 3 Abs. 2 REAO kann der enge zeitliche Zusammenhang zwischen einer verfolgungsbedingten Auswanderung und der Veräußerung des streitigen Vermögenswerts sein. Ist jemand, der zum Personenkreis der Kollektivverfolgten gehörte, wegen dieser Verfolgung aus Deutschland ausgewandert und hat er im engen zeitlichen Zusammenhang damit ein in Deutschland gelegenes Grundstück veräußert, spricht dies im Sinne von Art. 3 Abs. 2 REAO dafür, dass die Veräußerung des Grundstücks der Vorbereitung und Abwicklung der verfolgungsbedingten Auswanderung diente und damit selbst durch die Verfolgung bedingt war.

Bei der Veräußerung von Grundstücken durch Bürger jüdischer Herkunft ist das Bundesverwaltungsgericht zwar für die Zeit ab Sommer 1938 von einem Anscheinsbeweis dafür ausgegangen, dass diese Veräußerungen auf die allgemeine Diskriminierung und Verfolgung durch den NS-Staat zurückzuführen waren, wenn die Veräußerung im engen zeitlichen Zusammenhang mit einer nachfolgenden Auswanderung aus Deutschland stand (Beschluss vom 22. Oktober 1996 – BVerwG 7 B 254.96 – Buchholz 428 § 1 VermG Nr. 92). Für den Sommer 1935 wird von einem solchen Anscheinsbeweis noch nicht ausgegangen werden. Das Bundesverwaltungsgericht hat in seiner Entscheidung auf die historische Erfahrungstatsache abgehoben, dass Grundstücksveräußerungen durch Bürger jüdischer Herkunft im Sommer 1938 in aller Regel nicht (mehr) freiwillig, sondern im Hinblick darauf getätigt wurden, die wegen des zunehmenden staatlichen Verfolgungsdrucks dringlich gewordene Emigration in materieller Hinsicht abzusichern, solange derartige Verkäufe noch möglich waren. Diese Wertung knüpft wesentlich an die Verordnung über die Anmeldung des Vermögens von Juden vom 26. April 1938 (RGBl I S. 414) an. Mit dieser Verordnung hatte der Staat einen weiteren Schritt in Richtung auf das Ziel getan, sich des Vermögens jüdischer Bürger zu bemächtigen. Die Verordnung über die Anmeldung des Vermögens ließ weitere Schritte zu seiner Entziehung befürchten. Während die Ausgrenzung von Bürgern jüdischer Herkunft immer mehr Lebensbereiche erfasste und der Verfolgungsdruck dadurch zunahm, wurde es andererseits mit Blick auf die genannte Verordnung dringlich, vorhandenes Vermögen zu veräußern, um sich die notwendigen Geldmittel für eine Auswanderung zu verschaffen. Für die hier in Rede stehende Zeit besteht ein derartiger Zusammenhang noch nicht, auf den sich ein regelhafter Verlauf im Sinne eines Beweises des ersten Anscheins stützen ließe. Ergeben jedoch die näheren Umstände, dass eine Auswanderung verfolgungsbedingt war, so kann eine zuvor im engen zeitlichen Zusammenhang vorgenommene Veräußerung eines Grundstücks der Vorbereitung und Abwicklung dieser Auswanderung gedient haben und damit die Verfolgungsbedingtheit des Verkaufs im Sinne des Art. 3 Abs. 2 REAO überwiegend wahrscheinlich machen.

Im vorliegenden Fall ergeben sich für einen solchen Zusammenhang aus den Akten Anhaltspunkte, denen das Verwaltungsgericht nicht nachgegangen ist. Die Auswanderung der Eheleute K.… nach Palästina ist in dem Verfahren nach dem Bundesentschädigungsgesetz aufgrund der damaligen, noch einigermaßen zeitnahen Ermittlungen als verfolgungsbedingt anerkannt worden, weil als erwiesen angesehen wurde, dass die Eheleute K.… weiteren Verfolgungsmaßnahmen wegen ihrer jüdischen Abstammung entgehen wollten. Die für diese Annahme maßgeblichen Unterlagen sind offenbar noch vorhanden und können ausgewertet werden. Ein enger zeitlicher Zusammenhang zwischen der Auswanderung und der Veräußerung des Grundstücks ist nicht ausgeschlossen. Das Verwaltungsgericht hat festgestellt, die Eheleute K.… seien spätestens Ende 1936 nach Palästina ausgewandert. Die noch vorhandenen Unterlagen der Zollfahndungsstelle Leipzig und der Divisenstelle Leipzig legen nahe, dass die Auswanderungsabsichten der Eheleute K.… schon früher, nämlich bereits im Herbst 1935, bei den Behörden aktenkundig waren. Die notwendige Beschaffung von Devisen für eine Auswanderung deutet auf einen solchen Vorlauf hin (zu diesen Voraussetzungen vgl. Wilmanns, Aus- und Einwanderung, 1937, S. 111, dort auch – S. 118 – abgedruckt das “Merkblatt für die Auswanderung nach Palästina”). Sofern keine anderen Gründe für die Aufgabe des Sackgeschäfts und die Auswanderung nach Palästina ersichtlich sind, liegt nach dem Akteninhalt die Annahme nahe, dass die Auswanderung als verfolgungsbedingt anzusehen ist; unter diesen Umständen kann eine überwiegende Wahrscheinlichkeit dafür bestehen, dass die Veräußerung des Grundstücks der Vorbereitung und Abwicklung dieser Auswanderung diente und damit selbst durch die Verfolgung bedingt war. Dessen Verlust ist bezeichnenderweise auch in dem lastenausgleichsrechtlichen Verfahren als Entziehungsschaden anerkannt worden.

 

Unterschriften

Dr. Franßen, Dr. Bardenhewer, Kley, Herbert, Neumann

 

Fundstellen

BuW 2001, 38

ZAP-Ost 2000, 685

GuG 2001, 111

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