Entscheidungsstichwort (Thema)

Spätaussiedlerin aus der früheren Sowjetunion. – Aufnahmebescheid. – Angabe einer nichtdeutschen Nationalität bei Ausstellung des ersten sowjetischen Inlandspasses. – mehrfacher Wechsel der äußeren Bekenntniserklärung. Wahrunterstellung, keine – entscheidungserheblicher Tatsachen im Verwaltungsprozeß

 

Leitsatz (amtlich)

Zu den Anforderungen an das Bekenntnis zum deutschen Volkstum bei mehrfachem Wechsel der äußeren Bekenntniserklärung.

 

Normenkette

BVFG § 6 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 n.F.; VwGO § 86 Abs. 1 S. 1, § 108 Abs. 1

 

Verfahrensgang

OVG für das Land NRW (Entscheidung vom 19.01.1999; Aktenzeichen 2 A 7369/95)

VG Köln (Entscheidung vom 11.10.1995; Aktenzeichen 9 K 7835/93)

 

Tenor

Das Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 19. Januar 1999 wird aufgehoben.

Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen zurückverwiesen.

Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlußentscheidung vorbehalten.

 

Tatbestand

I.

Die Klägerin begehrt die Erteilung eines Aufnahmebescheides.

Die am 3. Oktober 1962 in Kemerowo geborene Klägerin ist Tochter des 1934 geborenen russischen Volkszugehörigen Alexander P. und seiner dem deutschen Volk zugehörigen, 1933 geborenen Ehefrau Valentina, geborene Sch. Ihr Vater war Berufsoffizier der Roten Armee, zuletzt im Range eines Obersten. Ihre in Moskau aufgewachsene Mutter wurde 1941 mit ihrer Familie nach Nowosibirsk zwangsumgesiedelt. 1987 heiratete die Klägerin Alexander W. Aus dieser – 1991 geschiedenen – Ehe stammt ihr am 21. März 1989 geborener Sohn Christian W.

Die Klägerin beantragte unter dem 24. März 1991 die Aufnahme als Aussiedlerin in die Bundesrepublik Deutschland. In ihrem 1978 ausgestellten Inlandspaß war sie mit russischer Nationalität eingetragen. Im Antrag gab sie an: Sie sei deutsche Volkszugehörige mit deutscher Muttersprache; ihre jetzige Umgangssprache in der Familie sei Russisch. Ihre Mutter habe als Kind unter ihrem Deutschtum gelitten. Von den Russen sei sie immer als Faschistin bezeichnet worden. Ihre Erlebnisse und Gefühle hätten sie dazu gebracht, es ihr – der Klägerin – streng zu verbieten, die deutsche Nationalität für den Paß anzugeben. Ihre Mutter habe ihr nicht all die Schikanen gewünscht, die sie selbst ihr ganzes Leben zu ertragen gehabt habe. Mit Schreiben vom 3. April 1992 führte sie weiter aus: Die Frage der Nationalitätenwahl sei für sie das erste Mal 1978 aktuell geworden, als sie im Alter von 16 Jahren ihren Paß habe bekommen wollen. Sie habe schon damals offiziell die deutsche Nationalität ihrer Mutter in den Paß eingetragen haben wollen, was ihrer deutschen Lebensweise, ihren Interessen sowie ihrem zukünftigen Beruf in vollem Maße entsprochen hätte. Das strenge Verbot der Mutter, die deutsche Nationalität eintragen zu lassen, habe jedoch ihren Beschluß sehr stark beeinflußt. Es tue ihr noch heute leid, daß sie im Alter von 16 Jahren nicht selbständig genug beim Beschlußfassen gewesen sei. Nach Abschluß ihres Studiums (Deutsch/Englisch) habe sie versucht, die deutsche Nationalität in den Paß zu bekommen. Dies habe die Miliz jedoch abgelehnt.

Mit Bescheid vom 30. April 1993 lehnte das Bundesverwaltungsamt den Aufnahmeantrag nach § 5 Nr. 1 d) BVFG ab, weil die Klägerin durch die herausgehobene Stellung ihres Vaters begünstigt worden sei. Auf den im Widerspruch erhobenen Einwand, sie habe sich bereits im Jahre 1980 von ihrem Vater gelöst und sei von zu Hause ausgezogen, änderte das Bundesverwaltungsamt seine ablehnende Begründung und wies mit Bescheid vom 15. Oktober 1993 den Widerspruch zurück: Die Klägerin erfülle nicht die Voraussetzungen des § 6 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 BVFG, weil sie sich im Alter von 16 Jahren für die russische Nationalität entschieden habe. Daß sie am 7. Juni 1993 einen neuen Inlandspaß mit deutscher Nationalität erhalten habe, ändere hieran nichts; denn es sei eine durchgängige Erklärung zur deutschen Nationalität bis zum Verlassen des Herkunftsgebietes erforderlich.

In der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht hat die Klägerin die Umstände ihrer ersten Paßausstellung noch einmal eingehend geschildert und erklärt: Sie habe zunächst ein Formular abgegeben, in dem sie sich, weil dies für sie selbstverständlich gewesen sei, zur deutschen Nationalität bekannt habe, sei dann weggeschickt worden, ohne daß ihr ein Abholtermin genannt worden sei. Davon habe sie ihrer Mutter erzählt. Kurz darauf, etwa einen oder zwei Tage später habe sich ihre Mutter auf einen Schlag geändert; sie habe zum ersten Mal Angst in ihren Augen gehabt. Sie habe von ihr – der Klägerin – mit den Worten „Entweder machst du es, oder es gibt ein schlechtes Verhältnis zwischen uns” verlangt, daß sie zur Miliz gehe, um sich dort mit russischer Nationalität eintragen zu lassen. Eine Begründung habe ihr ihre Mutter damals nicht gegeben. Erst Jahre später habe ihr die Mutter erzählt, daß ihr Vater wegen des ursprünglichen Antrags seiner Tochter, sich als Deutsche eintragen zu lassen, von der Staatssicherheit mit Benachteiligungen und Schikanen bedroht worden sei und sie deshalb aus Angst ihrer Tochter dringend geraten habe, sich als Russin eintragen zu lassen. Im Alter von 20 bis 22 Jahren habe sie zwei- bis dreimal versucht, ihren Nationalitäteneintrag ändern zu lassen, denn sie habe die Zwiespältigkeit, als Russin geführt zu werden, sich offiziell aber immer als Deutsche auszugeben, nicht ertragen können. Auch als sie im Jahre 1987 anläßlich ihrer Eheschließung einen neuen Inlandspaß erhalten habe, habe sie versucht, ihren Nationalitäteneintrag ändern zu lassen. Alle Anträge seien mit der Begründung abgelehnt worden, eine einmal eingetragene Nationalität könne nicht geändert werden. Nach ihrem 16. Geburtstag hätten zwei bis drei Volkszählungen stattgefunden. Bei ihnen habe sie immer angegeben, Deutsche zu sein, man habe aber die Eintragung der Nationalität nach ihrem Paßeintrag vorgenommen.

Das Verwaltungsgericht hat die Klage abgewiesen. Hiergegen hat die Klägerin Berufung eingelegt und in der mündlichen Verhandlung vor dem Oberverwaltungsgericht (hilfsweise) die Zeugeneinvernahme ihres Vaters und des Herrn Valerius W. zum Beweis der Tatsache beantragt, daß sie sich bei der erstmaligen Beantragung des Inlandspasses mit deutscher Nationalität eingetragen hat und erst auf intensives Bitten der Mutter die Eintragung der russischen Nationalität hingenommen hat, sich danach aber bei Abschluß ihres Studiums und bei der Eheschließung darum bemüht hat, wieder als Deutsche eingetragen zu werden. Das Oberverwaltungsgericht hat den beantragten Zeugenbeweis nicht erhoben, vielmehr die unter Beweis gestellten Tatsachen als wahr unterstellt und die Berufung zurückgewiesen:

Der Klägerin stehe ein Anspruch auf Erteilung eines Aufnahmebescheides nach § 27 Abs. 1 Satz 1 BVFG n.F. nicht zu, denn sie sei keine deutsche Volkszugehörige i.S. des § 6 Abs. 2 BVFG n.F., weil sie die Voraussetzungen der Nr. 3 des Satzes 1 dieser Bestimmung nicht erfülle. Sie habe bei der Beantragung ihres ersten Inlandspasses aus freien Stücken ein die deutsche Volkszugehörigkeit ausschließendes Gegenbekenntnis zum russischen Volkstum abgegeben. Um eine frühere Erklärung zu einer nichtdeutschen Nationalität rückgängig zu machen, reiche es nicht aus, wenn eine Lebensführung, die ohne das Gegenbekenntnis die Annahme der deutschen Volkszugehörigkeit aufgrund schlüssigen Gesamtverhaltens gerechtfertigt hätte, lediglich beibehalten werde. Es bedürfe vielmehr eines darüber hinausgehenden Verhaltens, aus dem sich eindeutig der Wille ergebe, nur dem deutschen Volk und keinem anderen Volkstum zuzugehören. Werde die Nationalität im Inlandspaß – wie hier – erst während des Aufnahmeverfahrens geändert, reiche die damit verbundene Erklärung, der deutschen Nationalität zuzugehören, regelmäßig nicht aus, um die Hinwendung zum deutschen Volkstum zu belegen. Vielmehr müsse ein nach Ausstellung des ersten Inlandspasses eingetretenes konkretes Ereignis dargetan und nachgewiesen werden, aus dem sich schlüssig ein Wandel des Volkstumsbewußtseins herleiten lasse. Schließlich müsse der Wandel des Volkstumsbewußtseins sich auch in der äußeren Lebensführung des Betreffenden niedergeschlagen haben, etwa dahin, daß er auch von seiner Umgebung fortan als deutscher Volkszugehöriger angesehen worden sei. Diesen besonderen Nachweis habe die Klägerin nicht erbracht; denn sie habe ausdrücklich vorgetragen, daß sich ihre Lebenseinstellung nicht geändert habe.

Mit ihrer Revision verfolgt die Klägerin ihr Verpflichtungsbegehren weiter. Sie rügt Verletzung des materiellen Rechts und macht geltend, sie habe bei Eintritt ihrer Bekenntnisfähigkeit ein Bekenntnis zum deutschen Volkstum abgegeben, das durch das spätere unter Druck erfolgte „Lippenbekenntnis” zum russischen Volkstum nicht entkräftet werde.

Die Beklagte und der Oberbundesanwalt beim Bundesverwaltungsgericht verteidigen das angefochtene Urteil.

 

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision der Klägerin ist begründet. Die Erwägungen, mit denen das Berufungsgericht den von der Klägerin geltend gemachten Anspruch auf Erteilung eines Aufnahmebescheides nach den §§ 26, 27 Abs. 1 Satz 1 BVFG in der hier maßgeblichen Fassung des Art. 1 Nr. 25 und 26 des Kriegsfolgenbereinigungsgesetzes (vgl. dazu BVerwGE 99, 133 ≪135 ff.≫) verneint hat, stehen mit Bundesrecht nicht in vollem Umfang in Einklang. Das führt zur Aufhebung des Berufungsurteils und mangels Entscheidungsreife zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO).

Der Klägerin, die nach dem 31. Dezember 1923 geborene Tochter einer volksdeutschen Mutter ist, deren Muttersprache nach ihren unbestrittenen Angaben in ihrem Antrag Deutsch ist und die die deutsche Sprache nach den behördlichen Feststellungen perfekt spricht (§ 6 Abs. 2 Nr. 1 und 2 BVFG), kann die deutsche Volkszugehörigkeit und damit auch ihre Eigenschaft als Spätaussiedlerin (§ 4 Abs. 1 Nr. 3 BVFG) nur abgesprochen werden, wenn sie ein die Anerkennung der Voraussetzungen des § 6 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 BVFG ausschließendes und auch heute noch wirksames Gegenbekenntnis zur russischen Nationalität abgegeben hätte. Das wirft das Berufungsgericht der Klägerin mit Hinblick auf die Eintragung der Nationalität „Russin” in ihrem ersten Inlandspaß auf der Grundlage des von ihm als wahr unterstellten Sachverhalts zu Unrecht vor.

Zwar kann nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts späteren Bemühungen, die entsprechend dem damaligen Antrag im ersten Inlandspaß eingetragene nichtdeutsche Nationalität in „Deutsch” ändern zu lassen, nur ausnahmsweise ein Bekenntnis zum deutschen Volkstum entnommen werden. Während nämlich die äußere Erklärung, ausschließlich einem bestimmten Volk als national geprägter Kulturgemeinschaft anzugehören, als „punktuelles” Ereignis jederzeit abgegeben werden kann, bildet sich das innere Bewußtsein, einem bestimmten Volkstum zuzugehören, im Verlauf der Entwicklung eines Menschen und ist mit der Bekenntnisfähigkeit in der Regel abgeschlossen. Um gleichwohl einer nach Ablegung eines Bekenntnisses zu einem bestimmten Volkstum abgegebenen äußeren Erklärung, nunmehr einem anderen Volkstum zuzugehören, Bekenntnischarakter beimessen zu können, bedarf es deshalb des Nachweises weiterer äußerer Tatsachen, die einen Bewußtseinswandel erkennen lassen (BVerwGE 99, 133 ≪146 f.≫; 102, 214 ≪218 f.≫; 105, 60 ≪64 f.≫). Erforderlich ist dabei regelmäßig der Nachweis eines konkreten Ereignisses, das Anlaß für den Bewußtseinswandel gewesen ist, sowie eines Wandels der Lebensführung, in dem dieser (innere) Bewußtseinswandel seinen (äußeren) Niederschlag gefunden hat.

Das Berufungsgericht übersieht jedoch, daß diese Grundsätze nur dann gelten, wenn die Erklärung, sich mit einer nichtdeutschen Nationalität im ersten Inlandspaß eintragen lassen zu wollen, die erstmalige Ablegung eines Volkstumsbekenntnisses war. Das trifft jedoch nach dem vom Berufungsgericht als wahr unterstellten Sachverhalt für die Erklärung der Klägerin, als „Russin” eingetragen werden zu wollen, nicht zu. Die erste Bekenntniserklärung, die die Klägerin abgegeben hat, war vielmehr nach dem vom Berufungsgericht als wahr unterstellten Sachverhalt diejenige der Zugehörigkeit zum deutschen Volkstum. Dieser äußere Bekenntnisvorgang war mit der Abgabe des unterschriebenen Formularantrags bei der Paßbehörde abgeschlossen. Daß nach dem eigenen Vortrag der Klägerin dieser Antrag bei ihrer zweiten Vorsprache bei der Paßbehörde nicht (mehr) auffindbar war, beeinträchtigt – entgegen der Auffassung des Beklagtenvertreters in der mündlichen Verhandlung vor dem erkennenden Senat – nicht die Wirksamkeit der Bekenntniserklärung, sondern allein ihre Beweisbarkeit. Bei einer solchen ersten Bekenntniserklärung ist in der Regel ohne Prüfung der Motive, die zur Abgabe der Erklärung geführt haben, davon auszugehen, daß dem äußeren Erklärungsinhalt auch – wie es der Bekenntnisbegriff verlangt – ein entsprechendes inneres Bewußtsein zugrunde gelegen hat (vgl. BVerwGE 92, 70 ≪76≫; 101, 205 ≪208≫; 102, 214 ≪ 217 f.≫). Die verschärften Anforderungen an den Nachweis der subjektiven Seite des Bewußtseinswandels treffen deshalb nach dem vom Berufungsgericht als wahr unterstellten Sachverhalt nicht den 1993 erfolgten Wechsel des Paßeintrags in „Deutsche”, sondern den 1978 im ersten Inlandspaß erfolgten Eintrag als „Russin”.

Insoweit hat das Berufungsgericht zwar ein konkretes Ereignis festgestellt, das die Klägerin veranlaßt hat, ihre Nationalitätenerklärung gegenüber der Paßbehörde von „Deutsche” in „Russin” zu ändern, nämlich das nachhaltige Einwirken ihrer Mutter auf sie („entweder machst du es ≪die Angabe der russischen Nationalität≫, oder es gibt ein schlechtes Verhältnis zwischen uns”). Die Vorinstanz hat aber außer der äußeren Erklärung, zur russischen Nationalität gehören zu wollen, keine weiteren äußeren Tatsachen festgestellt, aus denen auf einen inneren Bewußtseinswandel der Klägerin geschlossen werden könnte, vielmehr unzulässigerweise aus dem Wechsel der äußeren Erklärung auf einen Wandel des inneren Bewußtseins geschlossen. Denn das Berufungsgericht hat nicht begründet, daß und warum das Gespräch mit ihrer Mutter seinem Inhalt nach geeignet gewesen sein sollte, die Klägerin zu einem Wechsel ihres Volkstumsbewußtseins von Deutsch in Russisch zu veranlassen. Statt dessen hat es sich darauf konzentriert nachzuweisen, daß die Klägerin sich bei der Änderung ihrer Nationalitätenerklärung weder einer „Weisung” noch einem „Verbot” ihrer Mutter noch einem bekannten Erpressungsdruck auf ihren Vater gebeugt, sondern nach tagelangem Überlegen eine eigenständige Entscheidung getroffen habe. Damit läßt sich jedoch nur eine trotz intensiven Bittens und Drängens ihrer Mutter freie Willensentschließung der Klägerin zur Änderung der äußeren Nationalitätenerklärung begründen, nicht aber eine Wandlung der inneren Bewußtseinslage, ausschließlich dem deutschen Volk als national geprägter Kulturgemeinschaft anzugehören, die der ersten Nationalitätenerklärung zugrunde lag. Daß das Bitten und Drängen der Mutter einen solchen Wandel hätte bewirken können, liegt auch fern. Denn die Mutter hat nach dem vom Berufungsgericht als wahr unterstellten Sachverhalt für ihr Einwirken auf die Klägerin keine Begründung gegeben, diese insbesondere nicht davon zu überzeugen versucht, daß sie in Wahrheit dem russischen Volkstum zugehöre. Bei dieser Sachlage liegt deshalb auf der Grundlage des vom Berufungsgericht als wahr unterstellten Sachverhalts der Schluß nahe, die Klägerin habe mit der nunmehrigen Angabe der russischen Nationalität lediglich das Verhältnis zu ihrer Mutter nicht trüben wollen und in diesem Sinne lediglich ein „Lippenbekenntnis” zum russischen Volkstum abgegeben.

Ebensowenig hat das Berufungsgericht äußere Tatsachen festgestellt, aus denen sich schlüssig herleiten ließe, daß der von ihm angenommene Wandel des Volkstumsbewußtseins der Klägerin hin zur russischen Nationalität in der späteren Lebensführung der Klägerin nach 1978 seinen Niederschlag gefunden hat. Hierfür ergibt sich auch sonst nichts aus den vom Berufungsgericht wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes in Bezug genommenen Verwaltungs- und Gerichtsakten. Im Gegenteil hat die Klägerin im Verwaltungsverfahren, ohne daß dies von der Beklagten in Zweifel gezogen worden wäre, vorgetragen, daß sie von 1977 bis 1980 Vorsitzende des deutsch-sowjetischen Klubs der Mittelschule in Nowosibirsk und von 1980 bis 1985 Mitglied der Singegruppe des deutschen Volkslieds unter der Leitung von Helga D. gewesen sei (Verwaltungsakte Bl. 2 R, 62 f., 66) und mit ihrem Sohn Christian seit seiner Geburt (21. März 1989) Deutsch spreche (Verwaltungsakte Bl. 66).

Nach alledem ist auf der Grundlage des vom Berufungsgericht als wahr unterstellten Sachverhalts kein Anhaltspunkt dafür ersichtlich, daß die 1978 erfolgte Abgabe der äußeren Erklärung, der russischen Nationalität anzugehören, von einem entsprechenden Wandel des inneren Volkstumsbewußtseins begleitet gewesen sein könnte. Vielmehr spricht nach dem vom Berufungsgericht als wahr unterstellten Sachverhalt mehr dafür, daß die Klägerin sich trotz dieser Erklärung weiterhin ausschließlich als dem deutschen Volk als national geprägter Kulturgemeinschaft zugehörig gefühlt hat.

Allerdings ist durch die nachträgliche Wahl des russischen Nationalitäteneintrags der nach außen hervorgetretene Teil des Bekenntnisses zum deutschen Volkstum zurückgenommen worden (vgl. BVerwG, Urteil vom 4. Juni 1996 – BVerwG 9 C 129.95 – ≪Buchholz 412.3 § 6 BVFG Nr. 85 S. 95≫). Ein inneres Bewußtsein, dem deutschen Volk anzugehören, das nach außen nicht mehr hervortritt, reicht aber für die Annahme eines Bekenntnisses zum deutschen Volkstum nicht aus. Nach dem vom Berufungsgericht als wahr unterstellten Sachverhalt jedoch hat die Klägerin nach Absolvierung der Fremdsprachenfakultät in den Jahren zwischen 1982 bis 1984 und bei der Eheschließung 1987 erfolglos versucht, ihren Nationalitäteneintrag in „Deutsche” ändern zu lassen. Weiterhin hat die Klägerin in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht vorgetragen, im Rahmen der nach ihrem 16. Lebensjahr abgehaltenen zwei bis drei Volkszählungen sich als Deutsche ausgegeben zu haben, was aber wegen ihres Paßeintrages ignoriert worden sei. Volkszählungen haben in der früheren Sowjetunion 1979 und 1989 stattgefunden (vgl. BVerwGE 98, 367 ≪375≫). Damit hätte sich die Klägerin bereits kurz nach ihrem Paßeintrag als „Russin” und danach mehrfach wiederum durch eine äußere Erklärung zum deutschen Volkstum bekannt (vgl. auch BVerwG, Urteil vom 4. Juni 1996 ≪a.a.O. S. 96≫), und das Bekenntnis zum deutschen Volkstum läge mit seinen beiden Komponenten – äußerer Erklärungsinhalt und subjektive Bewußtseinslage – vor.

Gleichwohl ist eine Entscheidung im Sinne des Klagebegehrens durch das Revisionsgericht nicht möglich. Denn die von der Klägerin vorgetragenen und unter Beweis gestellten Tatsachen hat das Berufungsgericht lediglich „als wahr unterstellt”, weil es davon ausging, daß es auf sie für die Entscheidung des Rechtsstreits nicht ankam. Nachdem sich im Revisionsverfahren herausgestellt hat, daß im Gegensatz zur Rechtsauffassung des Berufungsgerichts der als wahr unterstellte Sachverhalt sehr wohl entscheidungserheblich ist, kann eine revisionsgerichtliche Entscheidung auf die Wahrunterstellung nicht gestützt werden (BVerwG, Urteil vom 17. Januar 1990 – BVerwG 9 C 39.89 – ≪Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 122 S. 208 = NVwZ-RR 1990, 510≫). Für eine Wahrunterstellung entscheidungserheblicher Tatsachen ist im Verwaltungsprozeß – anders als im Strafprozeß (§ 244 Abs. 3 Satz 2 StPO) – regelmäßig kein Raum, weil sich hier stets mindestens zwei Parteien gegenüberstehen und eine das Ergebnis des Rechtsstreits beeinflussende Wahrunterstellung zugunsten einer Partei sich in aller Regel zu Lasten der anderen Partei auswirken würde (BVerwGE 77, 150 ≪156≫). Deshalb fordern § 86 Abs. 1 und § 108 Abs. 1 VwGO hinsichtlich der entscheidungserheblichen Tatsachen die richterliche Überzeugung von ihrem Vorliegen und erlauben es dem Gericht nicht, ihr Vorliegen nur „als wahr zu unterstellen” und damit offenzulassen, ob sie vorliegen oder nicht (BVerwG, Urteil vom 17. Januar 1990 ≪a.a.O.≫).

Das nötigt zur Zurückverweisung der Sache an das Oberverwaltungsgericht. Es wird nunmehr zunächst den Vortrag der Klägerin über die Angabe der deutschen Nationalität anläßlich der Beantragung ihres ersten Inlandspasses 1978 und ihr Bemühen danach, wieder mit deutscher Nationalität eingetragen zu werden, unter dem Gesichtspunkt zu prüfen haben, ob es ihn für zutreffend ansehen kann oder die angebotenen Beweise erheben muß.

 

Unterschriften

Dr. Säcker, Dr. Pietzner, Dr. Bender, Schmidt, Dr. Rothkegel

 

Veröffentlichung

Veröffentlicht am 23.03.2000 durch Müller Justizangestellte als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle

 

Fundstellen

Dokument-Index HI558301

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