Entscheidungsstichwort (Thema)

Ausnahme vom Zweckentfremdungsverbot bei Existenzgefährdung einer Anwalts- und Steuerberaterkanzlei infolge Raumnot; Zweckentfremdungsgenehmigung mit unzulässiger "Mieterschutzklausel"; Beiladung des Mieters; Bedeutung der Genehmigung für den evtl. Kündigungsschutzprozeß

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Die materiellrechtlichen Voraussetzungen, unter denen eine Zweckentfremdungsgenehmigung erteilt werden darf, sind sämtlich und abschließend dem Bundesrecht zu entnehmen. Die Ermächtigung zum Erlaß eines Zweckentfremdungsverbots in Art. 6 § 1 Abs. 1 Satz 1 MRVerbG beschränkt die Befugnis der Landesregierungen auf die verwaltungsverfahrensrechtliche Ausgestaltung des Genehmigungsverfahrens.

2. Eine Ermessensentscheidung über die (ohne ein beachtliches Ersatzraumangebot) beantragte Erteilung einer Zweckentfremdungsgenehmigung hat die zuständige Behörde von Rechts wegen nur dann zu treffen, wenn an der Erteilung der Genehmigung entweder ein vorrangiges öffentliches Interesse oder ein schutzwürdiges berechtigtes Eigentümerinteresse besteht.

3. Der Eigentümer von Wohnraum hat ein schutzwürdiges berechtigtes Interesse an der Genehmigung einer Zweckentfremdung, wenn durch deren Versagung seine Existenz ursächlich und unausweichlich ernsthaft gefährdet würde.

4. Für eine beachtliche Existenzgefährdung als Folge des Zweckentfremdungsverbots muß aufgrund einer umfassenden Würdigung der Verhältnisse des Einzelfalles eine so überwiegende Wahrscheinlichkeit bestehen, daß ernstliche Zweifel an einem solchen Kausalverlauf auszuschließen sind.

5. Einen Erfahrungssatz des Inhalts, daß der Rückgang des Ertrages einer gewerblichen oder (frei-)beruflichen Tätigkeit - namentlich einer Rechtsanwalts- und Steuerberatungskanzlei oder einer Arztpraxis - auf der Verhinderung einer räumlichen Betriebserweiterung durch das Zweckentfremdungsverbot beruht, gibt es nicht.

6. Der Eigentümer von Wohnraum kann sich nicht durchgreifend auf eine Existenzgefährdung durch das Zweckentfremdungsverbot berufen, wenn er diese Gefahrenlage durch ein von ihm zu vertretendes Unterlassen gebotener und möglicher Abwendungsmaßnahmen selbst herbeigeführt hat.

7. Der vom Zweckentfremdungsverbot betroffene Eigentümer von Wohnraum muß sich grundsätzlich darauf verweisen lassen, benötigten Geschäfts- oder Gewerberaum zu mieten, wenn für seinen Bedarf genügend derartiger Raum in der jeweiligen Gemeinde vorhanden ist.

8. Ein die (Ermessens-)Ausnahme vom Zweckentfremdungsverbot rechtfertigendes schutzwürdiges Eigentümerinteresse ist unter dem Blickwinkel einer geltend gemachten Existenzgefährdung nicht anzuerkennen, wenn es dem Betroffenen finanziell möglich und zuzumuten ist, Ersatzwohnraum zu schaffen und auf diese Weise einen Anspruch auf Erteilung einer uneingeschränkten Zweckentfremdungsgenehmigung zu begründen.

9. Ein schutzwürdiges Interesse an der Zweckentfremdung einer Mietwohnung hat deren Eigentümer nicht, wenn er seinen persönlichen beruflichen Raumbedarf durch eine ihm ausnahmsweise zuzumutende Mitbenutzung eines Teils der Wohnfläche seiner eigenen Wohnung zu beruflichen oder gewerblichen Zwecken decken kann und wenn dies zur Erhaltung seiner wirtschaftlichen Existenz genügt.

10. Eine Zweckentfremdungsgenehmigung darf nicht mit einer Nebenbestimmung des Inhalts versehen werden, daß der Eigentümer oder sonstige Verfügungsberechtigte den von der beabsichtigten Zweckentfremdung betroffenen Mieter zuvor anderweitig angemessen unterzubringen hat ("Mieterschutzklausel").

11. In dem Verwaltungsrechtsstreit des Eigentümers, der von der zuständigen Behörde eine Zweckentfremdungsgenehmigung begehrt, ist der von der Zweckentfremdung betroffene Mieter nicht notwendig beizuladen. Der Mieter kann eine erteilte Genehmigung mangels Klagebefugnis auch nicht anfechten.

12. Im Kündigungsrechtsstreit zwischen Vermieter und Mieter hat die Zweckentfremdungsgenehmigung nur eine Tatbestandswirkung dahin, daß die dem Vermieter gestattete Zweckentfremdung nicht gegen das im öffentlichen Interesse erlassene Zweckentfremdungsverbot verstößt.

 

Normenkette

GG Art. 12 Abs. 1, Art. 14 Abs. 1; MietRVerbG Art. 6 § 1 Abs. 1 S. 1; WoZwEntfrV BY 1 § 1 S. 1; VwGO § 65 Abs. 2

 

Verfahrensgang

Bayerischer VGH (Entscheidung vom 29.04.1992; Aktenzeichen 7 B 90.2294)

VG Ansbach (Entscheidung vom 21.05.1990; Aktenzeichen AN 18 K 89.1627)

 

Fundstellen

BVerwGE, 341

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