Entscheidungsstichwort (Thema)

Rücknahmefiktion. fiktive Klagerücknahme. Voraussetzungen der Beitreibensaufforderung. unterbliebene Klagebegründung

 

Leitsatz (amtlich)

Die fiktive Klagerücknahme gemäß § 92 Abs. 2 Satz 1 VwGO setzt – wie die vergleichbare asylverfahrensrechtliche Regelung (vgl. hierzu BVerwGE 71, 213 ≪218 f.≫) – voraus, dass im Zeitpunkt der Beitreibensaufforderung sachlich begründete Anhaltspunkte für einen Wegfall des Rechtsschutzinteresses bestehen.

Die Erfolglosigkeit einer ohne Fristsetzung erfolgten gerichtlichen Aufforderung zur Klagebegründung allein genügt hierfür im Anwendungsbereich des Vermögensgesetzes bei der gebotenen Berücksichtigung der Gesamtumstände nicht ohne weiteres.

 

Normenkette

VwGO § 92 Abs. 2 S. 1

 

Verfahrensgang

VG Berlin (Entscheidung vom 21.03.2000; Aktenzeichen 16 A 249.98)

 

Tenor

Das Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin vom 21. März 2000 wird aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Verwaltungsgericht zurückverwiesen.

Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.

Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 970 530 DM festgesetzt.

 

Tatbestand

I.

Die Klägerin begehrt die Rückübertragung zweier Grundstücke nach den Vorschriften des Vermögensgesetzes. Die in der Klageschrift vom 17. Juli 1998 angekündigte Klagebegründung wurde – nachdem die zuvor erbetene Akteneinsicht Ende September 1998 erfolgte – trotz einer ohne Fristsetzung Mitte Januar 1999 ergangenen Bitte des Gerichts nicht vorgelegt. Daraufhin forderte der Berichterstatter die Klägerin mit Schreiben vom 1. April 1999 unter Hinweis auf die Rücknahmefiktion des § 92 Abs. 2 Satz 1 VwGO und deren weitere Voraussetzungen sowie die Kostenfolge erneut auf, das Verfahren weiter zu betreiben und die Klage zu begründen. Da die Klägerin darauf nicht reagierte, hat der Vorsitzende durch Beschluss festgestellt, dass die Klage als zurückgenommen gelte, und das Verfahren auf Kosten der Klägerin eingestellt. Auf den Antrag der Klägerin, dem Verfahren „Fortgang zu geben”, hat das Verwaltungsgericht – nach vorherigem Erlass eines entsprechenden Gerichtsbescheides – gemäß § 6 VwGO durch Urteil des Einzelrichters vom 21. März 2000 die Klage abgewiesen, weil die Klagerücknahme wirksam sei und deshalb über die Sachanträge nicht mehr entschieden werden könne.

 

Entscheidungsgründe

II.

Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision ist begründet. Ihre Verfahrensrüge führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Verwaltungsgericht (§ 132 Abs. 2 Nr. 3, § 133 Abs. 6 VwGO). Das Verwaltungsgericht hat unter Verstoß gegen § 92 Abs. 2 Satz 1 VwGO die Klage als zurückgenommen behandelt und sich deshalb verfahrensfehlerhaft zur Sache nicht mehr eingelassen; darin liegt zugleich eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (§ 108 Abs. 2 VwGO, Art. 103 Abs. 1 GG).

1. Das Verwaltungsgericht, das sich weder in dem angefochtenen Urteil noch in dem zuvor ergangenen Gerichtsbescheid – auf den es gemäß § 84 Abs. 4 VwGO Bezug genommen hat – erkennbar mit den verfassungsrechtlichen Implikationen der Rücknahmefiktion des § 92 Abs. 2 Satz 1 VwGO befasst hat, ist zu Unrecht stillschweigend von der Rechtmäßigkeit der Betreibensaufforderung und damit unzutreffend von der Wirksamkeit der fiktiven Klagerücknahme ausgegangen. Aus verfassungsrechtlichen Gründen (Art. 19 Abs. 4, 103 Abs. 1 GG) setzt diese nämlich voraus, dass im Zeitpunkt des Erlasses der Betreibensaufforderung gemäß § 92 Abs. 2 Satz 1 VwGO – hier also am 1. April 1999 – bestimmte, sachlich begründete Anhaltspunkte für einen Wegfall des Rechtsschutzinteresses der Klägerin bestanden haben (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 19. Mai 1993 – 2 BvR 1972/92 – NVwZ 1994, 62 ≪63≫; Urteil vom 23. April 1985 – BVerwG 9 C 48.84 – BVerwGE 71, 213 ≪218 f.≫). Dieses in ständiger Rechtsprechung zu der entsprechenden asylverfahrensrechtlichen Regelung entwickelte, ungeschriebene Tatbestandsmerkmal gilt auch für die dem Asylverfahrensrecht nachgebildete und durch das 6. VwGO-Änderungsgesetz in das allgemeine Verwaltungsprozessrecht eingeführte Vorschrift des § 92 Abs. 2 Satz 1 VwGO (vgl. Clausing in Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, § 92 Rn. 46; Kopp/Schenke, VwGO, 11. Aufl., § 92 Rn. 17 f.; Kuntze in Bader, VwGO, § 92 Rn. 19; Decker, BayVBl 1997, 673 ≪675≫). Wenn an einem Fortbestand des Rechtsschutzinteresses vernünftigerweise keine Zweifel bestehen können, verfehlt eine Aufforderung zum Betreiben des Verfahrens ihren Zweck und vermag die Rechtsfolge des § 92 Abs. 2 Satz 1 VwGO nicht herbeizuführen. Solche konkreten Zweifel können sich etwa aus dem den Verfahrensakten zu entnehmenden fallbezogenen Verhalten des jeweiligen Klägers, aber auch daraus ergeben, dass der Kläger prozessuale Mitwirkungspflichten verletzt hat. Stets muss sich daraus aber der Schluss auf den Wegfall des Rechtsschutzinteresses, also auf ein Desinteresse des jeweiligen Klägers an der weiteren Verfolgung seines Begehrens ableiten lassen können. Denn § 92 Abs. 2 Satz 1 VwGO ist kein Hilfsmittel zur bequemen Erledigung lästiger Verfahren oder zur vorsorglichen Sanktionierung prozessleitender Verfügungen (Clausing, a.a.O., Rn. 39; vgl. auch Kopp/Schenke, a.a.O., Rn. 19).

2. Das Verwaltungsgericht ist im vorliegenden Fall – stillschweigend – zu Unrecht von derartigen konkreten Anhaltspunkten für den Wegfall des Rechtsschutzinteresses ausgegangen. Zwar kann hierfür auch auf die unterbliebene Klagebegründung zurückgegriffen werden. Im Anwendungsbereich des Vermögensgesetzes und damit des § 92 Abs. 2 Satz 1 VwGO ist aber zu berücksichtigen, dass die Klägerin – anders als den Kläger im Asylverfahren gemäß § 74 Abs. 2 Satz 1 AsylVfG – keine gesetzliche Pflicht zur Begründung der Klage innerhalb einer bestimmten Frist trifft und deshalb die bloße Untätigkeit insoweit keine Verletzung prozessualer Mitwirkungspflichten darstellt. Aber auch die Erfolglosigkeit einer – zumal ohne Fristsetzung erfolgten – gerichtlichen Aufforderung zur Klagebegründung vermag nicht ohne weiteres die von § 92 Abs. 2 Satz 1 VwGO geforderten konkreten Anhaltspunkte für den Wegfall des Rechtsschutzinteresses zu begründen. Das Verwaltungsgericht darf im maßgeblichen Zeitpunkt des Erlasses der von ihm beabsichtigten Betreibensaufforderung den ihm bekannten gesamten Verfahrensablauf nicht aus den Augen verlieren. Danach rechtfertigte sich hier trotz der bis zum Erlass der Verfügung vom 1. April 1999 unterbliebenen Klagebegründung der Rückschluss auf ein Desinteresse der Klägerin an der Weiterverfolgung ihres vermögensrechtlichen Begehrens aus folgenden Gründen nicht:

Der Klageschrift waren die angefochtenen, umfangreich begründeten Bescheide beigefügt, aus denen sich die Gründe der Klägerin für den von ihr geltend gemachten vermögensrechtlichen Anspruch ergaben, ohne dass insoweit ein Wegfall des Rechtsschutzinteresses erkennbar geworden wäre; auch aus den Beiakten ergaben sich insoweit keinerlei tragfähige Hinweise. Die von der anwaltlich vertretenen Klägerin angekündigte Klagebegründung war ferner – berücksichtigt man die zuvor noch durchzuführende Akteneinsicht – noch nicht all zu lange überfällig. Überdies enthielt die einzige, vor der Betreibensaufforderung ergangene gerichtliche Bitte zur Klagebegründung vom 12. Januar 1999 keine Fristsetzung; am 1. April 1999 ließ sich deshalb daraus allein noch nicht ein die Vermutung des entfallenen Rechtsschutzinteresses rechtfertigender „Verzug” der Klägerin herleiten (vgl. Clausing, a.a.O., Rn. 46). Ihre Nichtbeachtung erscheint vielmehr als gewiss vorwerfbare, aber zunächst dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin zurechenbare Nachlässigkeit. Etwas anderes kann sich bei der gebotenen Einbeziehung der Gesamtumstände des Falles dann ergeben, wenn der jeweilige Kläger unter Fristsetzung – gar mehrfach oder gemäß § 87 b VwGO – erfolglos aufgefordert worden ist oder der Zeitraum seiner Untätigkeit – anders als hier – beträchtlich ist.

Aus alledem konnte das Verwaltungsgericht deshalb am 1. April 1999 bei Erlass der Betreibensaufforderung nicht den Schluss ziehen, die Klägerin sei offenbar an der weiteren Verfolgung ihrer vermögensrechtlichen Ansprüche nicht mehr interessiert und ihr Rechtsschutzinteresse deshalb vermutlich entfallen.

Der Senat nimmt den Verfahrensfehler im Hinblick auf die bislang völlig fehlende Aufbereitung des Falles in tatsächlicher und materiellrechtlicher Hinsicht zum Anlass, das angefochtene Urteil gemäß § 133 Abs. 6 VwGO durch Beschluss aufzuheben und den Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Verwaltungsgericht zurückzuverweisen.

Die Streitwertfestsetzung beruht auf den §§ 13, 14 GKG.

 

Unterschriften

Dr. Müller, Sailer, Krauß

 

Fundstellen

BuW 2001, 168

NVwZ 2000, 1297

ZIP 2000, 1859

NJ 2000, 662

BayVBl. 2001, 25

DVBl. 2001, 307

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