Verfahrensgang

KG Berlin (Beschluss vom 22.06.2009; Aktenzeichen 27 U 173/08)

 

Tenor

1. Der Beschluss des Kammergerichts vom 22. Juni 2009 – 27 U 173/08 – verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 3 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes.

Der Beschluss wird aufgehoben. Die Sache wird an das Kammergericht zurückverwiesen.

2. Das Land Berlin hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten.

 

Tatbestand

Gegenstand der Verfassungsbeschwerde ist die Bewilligung von Prozesskostenhilfe zur Verteidigung gegen eine Berufung nach einem Obsiegen in der ersten Instanz.

I.

1. Der Beschwerdeführer war als ehemaliger Testamentsvollstrecker vom Erben auf Schadensersatz wegen einer Veruntreuung des Nachlasses und ungerechtfertigter Entnahme eines Testamentsvollstreckerhonorars aus dem Nachlass in Anspruch genommen worden.

a) Für das erstinstanzliche Verfahren war dem Beschwerdeführer auf seine Beschwerde gegen eine ablehnende Entscheidung des Landgerichts durch das Kammergericht Prozesskostenhilfe gewährt worden. Das Landgericht hatte die Klage in der Folge abgewiesen.

b) Für das Berufungsverfahren versagte das Kammergericht dem Beschwerdeführer mit dem angegriffenen Beschluss die beantragte Prozesskostenhilfe. Die Verteidigung des Beschwerdeführers gegen das Rechtsmittel des Erben habe bei der gegenwärtigen Prozesslage keine Erfolgsaussichten (§ 114 ZPO). Die Berufung sei zulässig und beim aktuellen Verfahrensstand auch begründet.

Dem Berufungsführer stehe gegen den Beschwerdeführer der in zweiter Instanz in Höhe von 137.877,37 EUR weiterverfolgte Zahlungsanspruch zu. Er ergebe sich aus §§ 2218, 667 BGB. Nachdem die Testamentsvollstreckung durch den Beschwerdeführer beendet worden sei, sei dieser verpflichtet, den Nachlass an den Erben beziehungsweise den neuen Testamentsvollstrecker herauszugeben. Einwendungen gegen den Anspruch habe der Beschwerdeführer selbst nachvollziehbar darzulegen, was nicht geschehen sei. Hinsichtlich des von ihm beanspruchten Honorars könne die Frage der Sittenwidrigkeit der Honorarvereinbarung dahinstehen. Selbst wenn sich der Beschwerdeführer auf die Honorarvereinbarung berufen könne, obliege es ihm, den Umfang seiner Tätigkeit im Einzelnen darzulegen, was unterblieben sei. Der Senat verkenne nicht, dass bei einem Schadensersatzanspruch aus § 2219 BGB der Erbe die Beweislast für eine Pflichtverletzung des Testamentsvollstreckers trage. Hierauf komme es aber dann nicht an, wenn sich – wie hier – aus dem Vortrag der Parteien bereits ergebe, dass der Testamentsvollstrecker den nach Abschluss seiner Tätigkeit bei ihm rechnerisch vorhandenen Nachlass nicht herausgegeben habe und er offenbar nicht in der Lage sei, weitergehende Auszahlungen, Honoraransprüche etc. zu belegen.

Es hindere die Versagung der Prozesskostenhilfe nicht, dass der Beschwerdeführer in erster Instanz obsiegt und allein der Erbe Berufung gegen das Urteil des Landgerichts eingelegt habe. Zwar sei in der zweiten Instanz dem Berufungsbeklagten grundsätzlich unabhängig von den Erfolgsaussichten seiner Rechtsverteidigung Prozesskostenhilfe zu gewähren (§ 119 Abs. 1 Satz 2 ZPO). Anderes gelte aber dann, wenn das erstinstanzliche Urteil offensichtlich falsch sei und daher keinen Bestand haben könne. Ein solcher Fall liege hier vor, denn das Landgericht habe die oben skizzierte Verteilung der Darlegungslast verkannt. Die Abweisung der Klage halte der Senat zumindest von dem Zeitpunkt an für offensichtlich unrichtig, in dem der Beschwerdeführer einerseits mit Schriftsatz vom 23. Mai 2008 zum Wert der Nachlassgegenstände nach Verkauf vorgetragen habe und andererseits die Verwendung beziehungsweise Auszahlung der Beträge nicht nachvollziehbar darlege. Dass der Senat in anderer Besetzung dem Beschwerdeführer auf seine sofortige Beschwerde Prozesskostenhilfe für die erste Instanz zugesprochen habe, sei insoweit nicht von entscheidender Bedeutung. Der Beschwerdeführer hätte im Zeitpunkt dieser Beschwerdeentscheidung noch nicht detailliert zum Wert des liquidierten Nachlasses vorgetragen. Dies sei erst mit Schriftsatz vom 23. Mai 2008 erfolgt.

c) Gegen den in der Berufungsverhandlung nicht erschienenen und nicht vertretenen Beschwerdeführer erging daraufhin ein Versäumnisurteil, das ihn zur Zahlung von 137.877,37 EUR verurteilte.

2. Mit seiner gegen die Versagung von Prozesskostenhilfe für die Berufungsinstanz gerichteten Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer sinngemäß die Verletzung seiner Rechte aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG.

3. Die Senatsverwaltung für Justiz des Landes Berlin und der Gegner des Ausgangsverfahrens erhielten Gelegenheit zur Stellungnahme.

 

Entscheidungsgründe

II.

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde gemäß § 93c Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG zur Entscheidung an und gibt ihr statt.

1. Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung liegen vor (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG). Die für die Verfassungsbeschwerde maßgeblichen Rechtsfragen hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden (vgl. BVerfGE 81, 347; 92, 122 ≪124≫; 122, 39 ≪48 f.≫). Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist zur Durchsetzung des Grundrechts des Beschwerdeführers aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG angezeigt (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und offensichtlich begründet. Die angegriffene Entscheidung verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf Rechtsschutzgleichheit.

a) Art. 3 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip gebietet keine vollständige Gleichstellung, aber eine weitgehende Angleichung der Situation von Bemittelten und weniger Bemittelten bei der Verwirklichung des Rechtsschutzes (vgl. BVerfGE 81, 347 ≪356≫). Danach darf weniger Bemittelten die Rechtsverfolgung und -verteidigung im Vergleich zu Bemittelten nicht unverhältnismäßig erschwert werden (vgl. BVerfGE 9, 124 ≪130 f.≫; 22, 83 ≪86≫; 63, 380 ≪394 f.≫). Der weniger Bemittelte muss grundsätzlich ebenso wirksamen Rechtsschutz in Anspruch nehmen können wie ein Begüterter (vgl. BVerfGE 9, 124 ≪130 f.≫; 63, 380 ≪395≫; 122, 39 ≪49≫). Er braucht aber nur einem solchen Bemittelten gleichgestellt zu werden, der seine Prozessaussichten vernünftig abwägt und dabei auch das Kostenrisiko berücksichtigt (vgl. BVerfGE 81, 347 ≪357≫; 92, 122 ≪124≫; 122, 39 ≪49≫).

Das Bundesverfassungsgericht hat bislang offengelassen, in welchen Grenzen entgegen dem für sich eindeutigen Wortlaut des § 119 Abs. 1 Satz 2 ZPO möglicherweise eine Prüfung der Erfolgsaussichten oder des Mutwillens auch bei dem in der Vorinstanz siegreichen Verfahrensbeteiligten erlaubt oder gar geboten ist (vgl. BVerfGE 71, 122 ≪133≫). Insbesondere, ob die Prüfung der Erfolgsaussichten erlaubt oder geboten ist, wenn sich das angefochtene Urteil als eindeutige Fehlentscheidung erweist, hat das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich dahinstehen lassen (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 9. Januar 1990 – 2 BvR 1631/88 –, juris).

b) Auch die vorliegende Verfassungsbeschwerde zwingt nicht zur Entscheidung, ob eine derartige Auslegung entgegen dem Wortlaut des § 119 Abs. 1 Satz 2 ZPO verfassungsrechtlich zulässig ist.

Selbst wenn man davon ausginge, dass die Auslegung der Gerichte, wonach offensichtlich fehlerhafte Urteile grundsätzlich keine Bewilligung von Prozesskostenhilfe zur Verteidigung gegen ein Rechtsmittel erfordern, verfassungsrechtlich Bestand haben könnte, verkennt das Kammergericht in der angegriffenen Entscheidung die Bedeutung der in Art. 3 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG verbürgten Rechtsschutzgleichheit grundlegend. Denn es entfernt sich in seiner Rechtsanwendung so weit von dem § 119 Abs. 1 Satz 2 ZPO zugrunde liegenden Rechtsgedanken, wonach mit dem Obsiegen in der Vorinstanz eine gewisse Erfolgsaussicht auch für die nächste Instanz erwiesen ist (vgl. BVerfGE 71, 122 ≪132≫), dass der Beschwerdeführer von der Rechtsverteidigung in der Berufungsinstanz in verfassungsrechtlich nicht mehr hinnehmbarer Weise ausgeschlossen wird.

Das Kammergericht lehnt die beantragte Prozesskostenhilfe für die Berufungsinstanz trotz § 119 Abs. 1 Satz 2 ZPO wegen mangelnder Erfolgsaussichten der Rechtsverteidigung ab, weil das Landgericht die Darlegungslast verkannt habe. Zu einer vom Landgericht abweichenden Beurteilung der Darlegungslast kommt es jedoch allein deshalb, weil es die Voraussetzungen einer vom Landgericht nicht angesprochenen Anspruchsgrundlage bejaht.

aa) Diesbezüglich kann offenbleiben, ob es verfassungsrechtlich zulässig ist, dem Rechtsmittelgegner in der zweiten Instanz wegen einer aus dem Übersehen einer Anspruchsnorm folgenden offensichtlichen Fehlerhaftigkeit Prozesskostenhilfe zu versagen. Zum einen begründet das Kammergericht seine Ablehnung der Prozesskostenhilfe nicht damit, dass das Erstgericht eine offensichtlich einschlägige Anspruchsgrundlage übersehen hätte. Zum anderen steht einer offensichtlichen Fehlerhaftigkeit des erstinstanzlichen Urteils insoweit entgegen, dass auch das Kammergericht selbst – allerdings in anderer Besetzung – in seinem Beschluss, durch den es dem Beschwerdeführer Prozesskostenhilfe für das erstinstanzliche Verfahren gewährt hatte, einen Herausgabeanspruch nicht angesprochen hatte. Das Kammergericht beruft sich in der hier angegriffenen Entscheidung zwar darauf, dass der Beschwerdeführer in jenem Zeitpunkt (der Beschwerdeentscheidung über das erstinstanzliche Prozesskostenhilfegesuch) noch nicht detailliert zum Wert des liquidierten Nachlasses vorgetragen habe, sondern dies erst mit Schriftsatz vom 23. Mai 2008 erfolgt sei. Allerdings hatte der Beschwerdeführer seinem Antrag auf Prozesskostenhilfe bereits dieselbe Aufstellung zu den Nachlasswerten als Anlage beigefügt, die auch dem Schriftsatz vom 23. Mai 2008 beilag. Damit waren bereits bei der Entscheidung über die Beschwerde gegen die Ablehnung der Prozesskostenhilfe für das erstinstanzliche Verfahren jene Unterlagen vorgelegt, die das Kammergericht nach den Gründen der hier angegriffenen Entscheidung für maßgeblich ansieht.

bb) Dass sich die Verteilung der Darlegungslast zwischen dem Berufungskläger und dem Beschwerdeführer änderte, war lediglich die logische Folge des Austausches der Anspruchsgrundlage und kein offenkundiger Fehler des Landgerichts hinsichtlich der Beurteilung der Darlegungslasten. Denn das Landgericht hatte die Darlegungs- und Beweislast im Rahmen der geprüften Anspruchsgrundlage einfachrechtlich zutreffend beurteilt, wovon auch das Kammergericht ausgeht. Darauf soll es nach Ansicht des Kammergerichts allein wegen der Erfüllung der Voraussetzungen eines Herausgabeanspruchs nicht ankommen.

Aus Sicht einer besonnenen Prozesspartei wäre es unter diesen Umständen jedoch nicht unvernünftig gewesen, das Kostenrisiko einer erfolglosen Verteidigung gegen die Berufung auf sich zu nehmen. Sie hätte bei ihrer Entscheidungsfindung nicht nur berücksichtigt, dass sie in erster Instanz ein für sich günstiges Urteil erstritten hatte und ihr das Kammergericht, wenn auch in anderer Besetzung, für das erstinstanzliche Verfahren auf ihre Beschwerde hin Prozesskostenhilfe bewilligt hatte, weil die beabsichtigte Rechtsverteidigung Aussicht auf Erfolg habe. Um trotz der nunmehr vertretenen Auffassung des Kammergerichts eine Klageabweisung zu erreichen, hätte sie mit der Verteidigung gegen die Berufung auch erstmalig die Möglichkeit ergreifen können, auf die nach Ansicht des Kammergerichts ihr obliegende Darlegungslast mit entsprechendem Parteivortrag zu reagieren.

cc) Das Kammergericht durfte von Verfassungs wegen daher nicht nach Austausch der Anspruchsgrundlage die Erfolgsaussichten der Berufung prüfen und darauf abstellen, dass der Beschwerdeführer Einwendungen gegen den mit der Klage verfolgten Anspruch nicht nachvollziehbar dargelegt habe. Vielmehr hätte es unter Zugrundelegung seiner Rechtsansicht dem Beschwerdeführer zur Wahrung der Rechtsschutzgleichheit erst die Möglichkeit einräumen müssen, im Berufungsverfahren auf diese geänderte Rechtsansicht zu reagieren und entsprechend der abweichenden Verteilung der Darlegungslast Einwendungen gegen einen Herausgabeanspruch vorzubringen.

Dem steht nicht entgegen, dass das Kammergericht im angegriffenen Beschluss annahm, der Beschwerdeführer sei offenbar nicht in der Lage, weitergehende Auszahlungen, Honoraransprüche etc. zu belegen. Der Beschwerdeführer war nicht verpflichtet, der nach Ansicht des Kammergerichts bestehenden Darlegungslast bereits im Prozesskostenhilfeverfahren zu genügen, da die Erfolgsaussicht der Rechtsverteidigung gegen die Berufung aus den dargelegten Gründen nicht zu prüfen war.

2. Die angegriffene Entscheidung, die auf dem Verfassungsverstoß beruht, ist aufzuheben und die Sache an das Kammergericht zurückzuverweisen (§ 93c Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2 BVerfGG).

3. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.

 

Unterschriften

Papier, Bryde, Schluckebier

 

Fundstellen

Haufe-Index 2280321

NJW 2010, 987

FamRZ 2010, 530

FF 2010, 218

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