Verfahrensgang

KG Berlin (Beschluss vom 01.07.1998; Aktenzeichen 3 Ws 314/98)

 

Tenor

Der Beschluß des Kammergerichts vom 1. Juli 1998 – Zs 116/98 – 3 Ws 314/98 – verletzt das Grundrecht des Beschwerdeführers aus Artikel 19 Absatz 4 Satz 1 des Grundgesetzes. Die Entscheidung wird aufgehoben und die Sache an das Kammergericht zurückverwiesen.

Das Land Berlin hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.

 

Gründe

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die formalen Anforderungen an einen zulässigen Antrag im Klageerzwingungsverfahren. Ihr liegt ein Strafantrag zur Aufarbeitung von DDR-Unrecht zugrunde.

I.

1. Der Beschwerdeführer, der zum Tatzeitpunkt in Berlin (West) lebte, wurde im August 1968 im Zusammenhang mit einer Fluchthilfe an der ungarischen Grenze zu Jugoslawien zusammen mit zwei fluchtwilligen DDR-Bürgern verhaftet und dann in Ungarn wegen Beihilfe zur Grenzverletzung zu acht Monaten Freiheitsentzug verurteilt. Auf Betreiben der Behörden der DDR wurde er während dieser Haftzeit an die DDR ausgeliefert und dort wegen Spionage zu einer Freiheitsstrafe von 15 Jahren verurteilt.

Nach der Wiedervereinigung führten Strafverfahren gegen eine am Verfahren beteiligte Richterin und gegen eine die Anklage vertretende Staatsanwältin zu deren Verurteilungen wegen Rechtsbeugung im Strafverfahren gegen den Beschwerdeführer.

2. Der Beschwerdeführer begehrt nunmehr die strafrechtliche Verfolgung der Beamten des MfS, die seine Auslieferung aus Ungarn erwirkt hatten. Um die Auslieferung zu erreichen, hätten sie wider besseres Wissen den Vorwurf der Spionage erhoben. Ohne die erschlichene Auslieferung hätte es nicht zu seiner Verurteilung in der DDR kommen können. Die Auslieferung sei demnach ursächlich für die gegen ihn verhängte Höchststrafe von 15 Jahren gewesen. Die Staatsanwaltschaft entsprach der Strafanzeige des Beschwerdeführers nicht.

Auf die Beschwerde des Beschwerdeführers hin wurden die Ermittlungen zunächst wieder aufgenommen, dann aber mit Bescheid der Staatsanwaltschaft vom 18. Dezember 1997 wiederum eingestellt. In seiner erneuten Beschwerde rügte der Beschwerdeführer unter anderem, daß ihm das Ergebnis der Ermittlungen seit deren Wiederaufnahme nicht mitgeteilt worden sei. Mit Bescheid vom 22. April 1998 wies die Staatsanwaltschaft bei dem Kammergericht die Beschwerde zurück.

Den dagegen gerichteten Klageerzwingungsantrag verwarf das Kammergericht mit Beschluß vom 1. Juli 1998 als unzulässig, weil ihm nicht entnommen werden könne, welchen Gang das Ermittlungsverfahren genommen habe und welche Beweismittel die Staatsanwaltschaft mit welchem Ergebnis erhoben habe.

3. Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer die Verletzung rechtlichen Gehörs. Er trägt vor, daß es dem Verletzten nicht zumutbar sei, über die Mitteilungen in den Einstellungsbescheiden hinaus die Ermittlungstätigkeit der Staatsanwaltschaft und deren Ergebnisse vorzutragen.

Die Äußerungsberechtigten hatten Gelegenheit zur Stellungnahme.

II.

Die Verfassungsbeschwerde wird zur Entscheidung angenommen, weil dies zur Durchsetzung von Grundrechten des Beschwerdeführers angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Kammer ist zur Sachentscheidung berufen, da das Bundesverfassungsgericht die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits entschieden hat und die Verfassungsbeschwerde im Sinne der §§ 93b Satz 1, 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG begründet ist. Die Entscheidung des Kammergerichts verletzt das Grundrecht des Beschwerdeführers aus Art. 19 Abs. 4 GG.

1. Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG gewährleistet den Rechtsweg im Rahmen der jeweiligen einfachgesetzlichen Prozeßordnungen. Der Zugang zu den Gerichten und zu den in den Verfahrensordnungen eingeräumten Instanzen darf nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden (vgl. BVerfGE 40, 272 ≪274 f.≫; 78, 88 ≪99≫; 88, 118 ≪124≫). Das muß auch der Richter bei der Auslegung prozessualer Normen beachten (vgl. BVerfGE 77, 275 ≪284≫). Bei der Auflösung des sich aus dem Rechtsstaatsprinzip ergebenden Widerstreits zwischen dem allgemeinen Interesse an Verfahrensbeschleunigung einerseits und dem subjektiven Interesse des Einzelnen an einem möglichst uneingeschränkten Rechtsschutz andererseits, hat das Gericht einen angemessenen Ausgleich zu finden. Soweit die einschlägigen Verfahrensregeln einen Auslegungsraum belassen, darf ein Gericht diesen nicht in einem Sinne ausfüllen, der zu einem Widerspruch mit den Prinzipien des Grundrechts auf einen wirkungsvollen Rechtsschutz führen würde (vgl. BVerfGE 88, 118 ≪125≫).

2. Die Entscheidung des Kammergerichts genügt diesen Anforderungen nicht.

a) Überwiegend folgern die Oberlandesgerichte aus § 172 Abs. 3 StPO, daß der Antrag auf gerichtliche Entscheidung eine aus sich selbst heraus verständliche Schilderung des Sachverhalts enthalten müsse, der bei Unterstellung des hinreichenden Tatverdachts die Erhebung der öffentlichen Klage in materieller und formeller Hinsicht rechtfertigt, und daß die Sachdarstellung in großen Zügen den Gang des Ermittlungsverfahrens, den Inhalt der angegriffenen Bescheide und die Gründe für ihre Unrichtigkeit wiederzugeben habe. Das Oberlandesgericht soll dadurch in die Lage versetzt werden, ohne Rückgriff auf die Ermittlungsakten eine Schlüssigkeitsprüfung vorzunehmen. Diese formalen Anforderungen sind verfassungsrechtlich unbedenklich (vgl. BVerfG ≪Vorprüfungsausschuß≫, Beschluß vom 26. Oktober 1978 – 2 BvR 684/78 –, NJW 1979, S. 364; BVerfG ≪Beschluß der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 16. April 1992 – 2 BvR 877/89 –≫, NJW 1993, S. 382). Die Anforderungen an Form und Inhalt des Klageerzwingungsantrages sollen die Oberlandesgerichte vor einer Überlastung durch unsachgemäße und nicht hinreichend substantiierte Anträge bewahren. Da von der Erfüllung der formellen Anforderungen an den Klageerzwingungsantrag die Gewährung des Rechtsschutzes abhängt, dürfen die Formerfordernisse aber nicht weitergehen, als es durch ihren Zweck geboten ist (vgl. BVerfGE 88, 118 ≪126 f.≫ für die formalen Anforderungen an einen Wiedereinsetzungsantrag).

b) Im vorliegenden Fall überdehnt das Kammergericht die Anforderungen an die Darstellung des Gangs des Ermittlungsverfahrens. Der Beschwerdeführer hatte in seiner Beschwerde gegen die zweite Einstellung des Strafverfahrens ausdrücklich gerügt, daß die Einstellung nicht erkennen lasse, welche weiteren Ermittlungen seit der Wiederaufnahme des Ermittlungsverfahrens durchgeführt worden seien und wie sich die erneute Einstellung zu diesen Ermittlungen verhalte. Gleichwohl nahm der daraufhin ergangene Beschwerdebescheid zur Frage erfolgter Ermittlungen nicht Stellung. Der Beschwerdeführer konnte daher zum Gang des Ermittlungsverfahrens nur das Datum seiner Strafanzeige, das Zugangsdatum und den Inhalt des ersten Einstellungsbescheides mitteilen, ebenso das Eingangsdatum seiner Beschwerde, die Wiederaufnahme der Ermittlungen, das Zugangsdatum und den Inhalt des zweiten Einstellungsbescheides, das Eingangsdatum seiner Beschwerde gegen diesen zweiten Bescheid, das Datum des Zugangs und den Inhalt des Beschwerdebescheides sowie die Tatsache, daß er zeugenschaftlich vernommen worden war. Diese Angaben enthält der Klageerzwingungsantrag.

Bei dieser Sachlage sind keine sachlichen Gründe für die Forderung nach einer detaillierten Schilderung des Ermittlungsverfahrens erkennbar, und es wäre auch nicht gerechtfertigt, vom Beschwerdeführer zu erwarten, daß er sich durch Akteneinsicht eines Rechtsanwaltes nach § 406e Abs. 1 StPO Kenntnis von den ihm nicht mitgeteilten Ermittlungen verschafft. Insoweit steht die Entscheidung des Kammergerichts in Widerspruch zu den Erfordernissen des Grundrechts auf einen wirkungsvollen Rechtsschutz.

3. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

 

Unterschriften

Limbach, Kirchhof, Jentsch

 

Fundstellen

Haufe-Index 1276315

NJW 2000, 1027

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