Entscheidungsstichwort (Thema)

Wiedereinsetzung in den vorigen Stand: Glaubhaftmachung der rechtzeitigen Posteinlieferung

 

Leitsatz (redaktionell)

Ist die schlichte Erklärung des Antragstellers zum Zeitpunkt der Absendung eines Schriftstücks nicht von vornherein unglaubhaft, so hat das Gericht bei seiner Überzeugungsbildung den Umstand in Rechnung zu stellen, daß es dem Antragsteller unmöglich ist, die rechtzeitige Posteinlieferung nachzuweisen, wenn der Umschlag der Einspruchsschrift als einzig sicherer Beweis vom Gericht nicht zu den Akten genommen wurde, obwohl bei einfacher Briefsendung nur anhand des Poststempels auf dem Briefumschlag hätte festgestellt werden können, ob die Angaben zum Zeitpunkt des Einwurfs des Briefes zutreffend sind.

 

Normenkette

GG Art. 103 Abs. 1; StPO § 410

 

Verfahrensgang

LG Heilbronn (Beschluss vom 04.03.1996; Aktenzeichen 5 Qs 83/95)

LG Heilbronn (Beschluss vom 29.05.1995; Aktenzeichen 5 Qs 83/95)

AG Öhringen (Beschluss vom 15.02.1995; Aktenzeichen 3 Cs 13 Js 20890/94, AK 599/94)

 

Tenor

Die Beschlüsse des Landgerichts Heilbronn vom 29. Mai 1995 und vom 4. März 1996 – 5 Qs 83/95 – und der Beschluß des Amtsgerichts Öhringen vom 15. Februar 1995 – 3 Cs 13 Js 20890/94 – AK 599/94 – verletzen Artikel 19 Absatz 4 und Artikel 103 Absatz 1 des Grundgesetzes. Sie werden aufgehoben. Die Sache wird an das Amtsgericht Öhringen zurückverwiesen.

Das Land Baden-Württemberg hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.

 

Gründe

Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen die Versagung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand in einem Strafverfahren.

I.

Durch Strafbefehl des Amtsgerichts vom 12. Oktober 1994 wurde gegen den Beschwerdeführer wegen vorsätzlicher Gewässerverunreinigung in Tateinheit mit vorsätzlicher umweltgefährdender Abfallbeseitigung und wegen vorsätzlichen unerlaubten Betreibens einer Abfallentsorgungsanlage eine Gesamtgeldstrafe in Höhe von 120 Tagessätzen zu je 200 DM verhängt. Der Strafbefehl wurde durch persönliche Übergabe an den Beschwerdeführer am 15. Oktober 1994 zugestellt. Das durch die Post übersandte Einspruchsschreiben ging ausweislich des Eingangsstempels des Amtsgerichts nach Ablauf der Einspruchsfrist – am 3. November 1994 – dort ein. Der Briefumschlag mit dem Poststempel wurde nicht zu den Akten genommen.

Der Beschwerdeführer beantragte daraufhin Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und brachte zur Begründung vor, er habe das Einspruchsschreiben am 23. Oktober 1994, einem Sonntag, verfaßt, mit dem Datum des 24. Oktober 1994 versehen, in einen Briefumschlag eingelegt und den Brief in den Postausgangskorb seines Unternehmens gelegt. Von dort sei die Post am 24. Oktober 1994 versandfertig gemacht und beim Postamt abgegeben worden. Nach der Rückkehr von einer Reise habe er keine unerledigte Post vorgefunden. Dieses Vorbringen wurde durch eine eidesstattliche Versicherung des Beschwerdeführers und zweier seiner Mitarbeiter glaubhaft gemacht.

Durch den Beschluß vom 15. Februar 1995 wies das Amtsgericht den Wiedereinsetzungsantrag zurück und führte zur Begründung aus, eine verzögerte Beförderung durch die Post sei nicht ausreichend dargetan. Den vorgelegten eidesstattlichen Versicherungen der Mitarbeiter des Beschwerdeführers lasse sich nicht entnehmen, daß diese das Einspruchsschreiben befördert hätten. Beide sprächen nur davon, daß sie die angefallene Tagespost weitergegeben hätten. Bei dieser Sachlage beruhe die Fristversäumung auf einem Verschulden des Beschwerdeführers. Da er seine Mitarbeiter eingesetzt habe, um die Einspruchsschrift zur Post zu geben, habe er sich vor Ablauf der Einspruchsfrist Gewißheit darüber verschaffen müssen, ob das Schreiben tatsächlich rechtzeitig abgeschickt worden sei.

Mit der sofortigen Beschwerde brachte der Beschwerdeführer unter anderem vor, ihm könne nicht angelastet werden, daß der Briefumschlag, dessen Poststempel Urkundenbeweis für die rechtzeitige Aufgabe zur Post erbracht hätte, nicht zu den Akten genommen worden sei; die Beweislast hierfür dürfe ihm daher nicht aufgebürdet werden.

Mit Beschluß vom 29. Mai 1995 verwarf das Landgericht die sofortige Beschwerde als unbegründet. In den Gründen ist ausgeführt, die behaupteten Tatsachen müßten soweit bewiesen werden, daß das Gericht sie für wahrscheinlich halte. Eine Postlaufzeit von 10 Tagen zwischen nahegelegenen Gemeinden sei so unwahrscheinlich, daß es besonders starker Indizien bedürfe, um dies zu belegen. Dem werde die Darstellung des Beschwerdeführers nicht gerecht, denn diese enthalte Widersprüche. So sei es widersprüchlich, wenn ein am 23. Oktober 1994 eigenhändig verfaßtes Schreiben mit dem Datum des 24. Oktober 1994 versehen werde, denn solche Schreiben würden üblicherweise mit dem Datum des Tages versehen, an dem sie verfaßt würden. Allenfalls wenn diktiert werde, könne Anlaß bestehen, das Schreiben mit dem Datum des folgenden Tages zu versehen. Wenn aber der Beschwerdeführer nach seinem Vortrag die folgenden Tage unterwegs gewesen sei, so könne bei einem nur diktierten Schreiben und bei gleichzeitiger Urlaubsabwesenheit einer Mitarbeiterin, bei der es sich um seine Sekretärin gehandelt haben könne, darin der wahre Grund für die Versäumung der Frist liegen. Die Entdeckung des noch nicht verfaßten Einspruchsschreibens entspräche dann dem am 3. November 1994 erfolgten Eingang bei Gericht. Anlaß, die Darstellung des Beschwerdeführers anzuzweifeln, ergebe sich schon daraus, daß er in seinem auf den 24. Oktober 1994 datierten Einspruchsschreiben vorgebracht habe, ihm sei wegen eines Auslandsaufenthalts der Strafbefehl erst jetzt zur Kenntnis gelangt, obwohl ihm der Strafbefehl ausweislich der Zustellungsurkunde am 15. Oktober 1994 persönlich übergeben worden sei. Damit bestünden nicht behebbare Zweifel an der Richtigkeit der vom Beschwerdeführer behaupteten Tatsachen, die sich zu seinen Lasten auswirkten. Die sofortige Beschwerde sei danach als unbegründet zu verwerfen. Angesichts seines widersprüchlichen Vorbringens komme es auf den nicht zu den Akten gelangten Briefumschlag des Einspruchsschreibens nicht mehr an.

Die Gegenvorstellung, mit der der Beschwerdeführer versuchte, die vom Landgericht angeführten Widersprüche zu entkräften, wurde durch den Beschluß des Landgerichts vom 4. März 1996 zurückgewiesen. In den Gründen ist ausgeführt, die Kammer halte die Darlegungen nach wie vor nicht für wahrscheinlich. Unwahrscheinlich sei schon, daß der Beschwerdeführer am Tage der Aushändigung des Strafbefehls hiervon keine Kenntnis genommen haben wolle. Selbst wenn er an diesem Tag keine Post mehr bearbeitet habe, habe er aufgrund der Zustellung und des Absenders davon ausgehen müssen, daß es sich um keine alltägliche Post handle. Daß der nicht vorbestrafte Beschwerdeführer seine Reisevorbereitungen fortgesetzt habe, ohne sich Kenntnis vom Inhalt zu verschaffen, überzeuge nicht. Auch sei das Vorbringen unrichtig, er sei zum Tatvorwurf noch nicht gehört worden. Die zum Zeitpunkt der Beschlußfassung am 29. Mai 1995 bestehenden Zweifel an der Richtigkeit seien daher durch die Gegenvorstellung nicht behoben.

II.

1. Mit der fristgerecht erhobenen Verfassungsbeschwerde wird die Verletzung der Art. 19 Abs. 4, 103 Abs. 1 und 20 Abs. 3 GG gerügt. Die Gerichte hätten die Anforderungen, die nach Fristversäumung an den Vortrag und die Glaubhaftmachung der Versäumnisgründe gestellt werden dürften, überspannt (unter Berufung auf BVerfG, 3. Kammer des Zweiten Senats, StV 1995, S. 393). Die Gerichte stellten Anforderungen an die Einhaltung von Sorgfaltspflichten und deren Glaubhaftmachung, denen nicht entsprochen werden könne. Wer sich bei der Posterledigung zuverlässiger Mitarbeiter bediene, müsse sich nicht durch persönliche Nachfrage bei Gericht Gewißheit über den rechtzeitigen Eingang verschaffen. Dies gelte jedenfalls so lange, wie keine Anhaltspunkte für Unregelmäßigkeiten bestünden. Das Landgericht überspanne die Anforderungen an die Glaubhaftmachung, wenn es die Versicherung des Beschwerdeführers über die rechtzeitige Erstellung der Einspruchsschrift und deren Einlage in den Postausgang nicht genügen lasse, denn andere Mittel der Glaubhaftmachung hätten nicht zur Verfügung gestanden. Das Gericht habe berücksichtigen müssen, daß Versäumnisse in der Sphäre des Gerichts dem Beschwerdeführer eine weitere Beweisführung unmöglich gemacht hätten, da der mit dem Poststempel versehene Briefumschlag des unstreitig bei Gericht eingegangenen Einspruchsschreibens nicht zu den Akten genommen worden sei.

2. Das Justizministerium des Landes Baden-Württemberg hat von einer Stellungnahme abgesehen.

III.

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an (§ 93b BVerfGG), weil es zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG).

Die Verfassungsbeschwerde ist – bei Anwendung des in ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vertretenen verfassungsrechtlichen Maßstabs – offensichtlich begründet (§ 93c Abs. 1 BVerfGG). Die Beschlüsse des Land- und Amtsgerichts verletzen die verfassungsrechtlichen Rechtsschutzgarantien des Art. 19 Abs. 4 GG und des Art. 103 Abs. 1 GG.

1. Im Strafbefehlsverfahren ist der Anspruch des Beschuldigten auf ersten Zugang zu Gericht und auf rechtliches Gehör durch die Möglichkeit des Einspruchs gewährleistet. Wird die Einspruchsfrist unverschuldet versäumt, so hängt die Verwirklichung dieser Rechte aus Art. 19 Abs. 4 GG und Art. 103 Abs. 1 GG davon ab, daß Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt wird. Es ist ein in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gefestigter Grundsatz, daß in diesem Fall bei der Anwendung und Auslegung der die Wiedereinsetzung regelnden Vorschriften die Anforderungen zur Erlangung der Wiedereinsetzung nicht überspannt werden dürfen. Der Grundsatz begrenzt auch die Anforderungen, die nach Fristversäumung an den Vortrag und die Glaubhaftmachung der Versäumungsgründe gestellt werden dürfen (vgl. BVerfGE 26, 315 ≪319, 320≫; 37, 93 ≪97 f.≫; 37, 100 ≪103≫; 38, 35 ≪39≫; 40, 42 ≪44≫).

Hieraus folgt, daß es zur Wahrung der Rechte aus Art. 19 Abs. 4 GG und 103 Abs. 1 GG in bestimmten Fallkonstellationen in Betracht kommen kann, eine “schlichte”, d.h. nicht durch weitere Mittel der Glaubhaftmachung unterstützte Erklärung als geeignet anzusehen, die richterliche Überzeugung von der Wahrscheinlichkeit des behaupteten Versäumungsgrunds zu begründen. Dies kann der Fall sein, wenn andere Mittel der Glaubhaftmachung in der jeweiligen Fallgestaltung nicht zur Verfügung stehen (vgl. BVerfGE 41, 332 ≪337 f.≫) und gilt zumal dann, wenn behördliche Vorkehrungen, durch die der Zeitpunkt der Aufgabe des Schriftstücks zur Beförderung dokumentiert werden soll, versagen und der Bürger keine anderen Möglichkeiten der Glaubhaftmachung hat. Das Versagen organisatorischer Vorkehrungen, auf die der Bürger keinen Einfluß hat, darf ihm im Rahmen der Wiedereinsetzung nicht zur Last gelegt werden (vgl. BVerfGE 41, 23 ≪26≫; 53, 25 ≪29≫zur Verzögerung von Postlaufzeiten; 62, 216 ≪221≫zum behördlichen Abholdienst). Das Bundesverfassungsgericht hat für den Nachweis, ob ein Betroffener den Anforderungen für eine Wiedereinsetzung, insbesondere für eine rechtzeitige Versendung eines fristgebundenen Rechtsmittelschriftsatzes, ausreichend Rechnung getragen hat, darauf hingewiesen, daß sich dies in aller Regel dem Briefumschlag mit dem Poststempel entnehmen lasse, der deshalb zweckmäßigerweise bei den Akten aufzubewahren sei (vgl. BVerfGE 41, 23 ≪28≫; ähnlich BVerfGE 41, 356 ≪360≫; vgl. hierzu auch Beschlüsse der 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 17. Dezember 1987 – 1 BvR 474/87 –, Umdruck S. 7 f., der 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 22. Februar 1988 – 1 BvR 1267/87 –, Umdruck S. 5, und der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 2. Februar 1993 – 2 BvR 390/92 –, Umdruck S. 5). Auch in der fachgerichtlichen Rechtsprechung und Literatur wird die Auffassung vertreten, daß es nicht zu Lasten der Partei gehen dürfe, wenn der Briefumschlag nicht ordnungsgemäß aufbewahrt wird (vgl. BFH, BStBl II 1978, S. 390 ≪393≫; BVerwG, Buchholz 310, § 60 VwGO Nr. 73 S. 68; OLG Celle, Nds.Rpfl 1986, S. 280 f.; OLG Düsseldorf, NStZ 1990, S. 149 f.; Löwe/Rosenberg, StPO, 24. Aufl., § 44 Rn. 38).

Ist in einem solchen Fall die schlichte Erklärung des Antragstellers zum Zeitpunkt der Absendung des Schriftstücks nicht von vornherein unglaubhaft, so hat das Gericht bei seiner Überzeugungsbildung den Umstand in Rechnung zu stellen, daß es dem Antragsteller aus Gründen, die in der Sphäre einer Behörde liegen, auf deren Tätigkeit er keinen Einfluß hat, unmöglich ist, eine Tatsache glaubhaft zu machen, die bei fehlendem behördlichen Versagen unschwer aufzuklären wäre (vgl. BVerfG, 3. Kammer des Zweiten Senats, Beschluß vom 2. Februar 1993 – 2 BvR 390/92 – , Umdruck S. 5, und Beschluß vom 14. Februar 1995 – 2 BvR 1950/94 –, NJW 1995, S. 2545 = StV 1995, S. 393).

2. Ein solcher Fall liegt hier vor. Der Umschlag der Einspruchsschrift wurde vom Amtsgericht nicht zu den Akten genommen. Wäre dies geschehen, hätte anhand des Poststempels festgestellt werden können, ob die Angaben des Beschwerdeführers zum Zeitpunkt des Einwurfs des Briefes zutreffend sind. Dies war der einzig sichere Beweis, der einem Betroffenen bei der – zur Wahrung der Frist zugelassenen – Einlegung eines fristgebundenen Rechtsbehelfs durch einfache Briefsendung zur Verfügung steht.

a) Das Landgericht hat diesen Umstand bei seinen Ausführungen im Beschluß vom 29. Mai 1995 außer Betracht gelassen. Zwar hat das Landgericht die eigene Erklärung des Beschwerdeführers nicht als zur Glaubhaftmachung ungeeignet zurückgewiesen. Es hat sie daraufhin gewürdigt, ob sich aus ihr die Glaubhaftigkeit des Vorbringens ergibt und dies letztendlich verneint. Die umfangreichen Ausführungen des Landgerichts zu angeblichen Widersprüchen im Verhalten des Beschwerdeführers, die es vor allem aus einem Vergleich seines Verhaltens mit dem “üblichen” Verhalten beim Einlegen von Einsprüchen gegen Strafbefehle herleitet, lassen aber erkennen, daß es den Vortrag des Beschwerdeführers nicht als von vornherein unglaubhaft gewertet hat. Dies ergibt sich schon daraus, daß die Annahme, ein Verhalten sei nicht üblich, nicht notwendigerweise dazu führt, daß die Schilderung eines solchen Verhaltens als von vornherein unglaubhaft anzusehen ist. Das Landgericht verkennt dabei, daß die von ihm als nicht behebbar bezeichneten Zweifel an der Richtigkeit der Angaben des Beschwerdeführers nur deshalb nicht ausgeräumt werden konnten, weil der Briefumschlag mit dem Poststempel nicht zu den Akten gelangte. Damit hat sich das Versagen der organisatorischen Maßnahmen des Amtsgerichts und die dadurch bedingte Unmöglichkeit des Nachweises der rechtzeitigen Aufgabe des Einspruchsschreibens zur Post zum Nachteil des Beschwerdeführers ausgewirkt.

b) Der Beschluß vom 4. März 1996 leidet unter den gleichen Rechtsfehlern, denn auch dort hält das Gericht das vorgetragene Verhalten des Beschwerdeführers zwar für unwahrscheinlich; es sieht es aber nicht als von vornherein unglaubhaft an. Hierfür gaben die Erklärungen des Beschwerdeführers auch keine Veranlassung, denn das Verhalten des Beschwerdeführers mag nicht den Vorstellungen des Landgerichts vom üblichen und wahrscheinlichen Verhalten einer Person, der ein Strafbefehl zugestellt wurde, entsprochen haben. Dies genügt aber nicht, um dem Vorbringen jede Glaubhaftigkeit abzusprechen.

c) Auch der amtsgerichtliche Beschluß verfehlt die verfassungsrechtlichen Vorgaben. Die Erwägungen lassen nicht erkennen, daß das Gericht bei Würdigung des Vortrags und der eidesstattlichen Versicherungen berücksichtigt hat, daß dem Beschwerdeführer durch das Verschulden des Gerichts unmöglich gemacht wurde nachzuweisen, daß das Einspruchsschreiben am 24. Oktober 1994 zur Post gegeben wurde. Damit hat das Amtsgericht im Wiedereinsetzungsverfahren aus dem Versagen seiner organisatorischen Vorkehrungen Beweisnachteile für den Beschwerdeführer hergeleitet.

Auch die weitere Erwägung des Amtsgerichts, der Beschwerdeführer habe sich über die rechtzeitige Absendung des Einspruchsschreibens vergewissern müssen, vermag die Entscheidung nicht in verfassungsrechtlich unbedenklicher Weise zu tragen. Dies würde voraussetzen, daß das Einspruchsschreiben nicht rechtzeitig zur Post gebracht wurde, denn nur dann hätte der Beschwerdeführer durch eine Nachfrage die Versäumung der Frist abwenden können und das Unterlassen wäre ursächlich geworden. Eine verspätete Absendung hat das Amtsgericht jedoch nicht festgestellt. Dies läßt sich nach dem derzeitigen Erkenntnisstand auch nicht feststellen. Die Herleitung eines Verschuldensvorwurfs aus dem Umstand, daß der Beschwerdeführer eine Nachfrage unterließ, deren Relevanz für die Versäumung der Frist nicht feststeht, überspannt ebenfalls die Anforderungen an die Erlangung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand.

Waren somit die Erklärungen des Beschwerdeführers nicht von vornherein unglaubhaft, mußten die Gerichte in ihren Erwägungen zur Glaubhaftmachung der Versäumungsgründe berücksichtigen, daß der zum Beweis für den rechtzeitigen Einwurf des Einspruchsschreibens geeignete Briefumschlag vernichtet wurde.

3. Die angegriffenen Entscheidungen beruhen auf diesem Verstoß. Es kann nicht ausgeschlossen werden, daß das Amts- und das Landgericht bei Berücksichtigung des dem Beschwerdeführer nicht anzulastenden Verlustes des Beweismittels eine andere Entscheidung getroffen hätten. Auf die weiteren vom Beschwerdeführer erhobenen Rügen mußte daher nicht mehr eingegangen werden.

4. Die angegriffenen Beschlüsse waren daher gemäß § 95 Abs. 2 BVerfGG aufzuheben und die Sache an das Amtsgericht zurückzuverweisen.

Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

 

Unterschriften

Limbach, Graßhof, Kirchhof

 

Fundstellen

NJW 1997, 1770

NStZ 1997, 349

SozSi 1998, 317

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