Verfahrensgang

Bayerisches LSG (Beschluss vom 29.01.2007; Aktenzeichen L 15 B 25/07 SB PKH)

 

Tenor

1. Der Beschluss des Bayerischen Landessozialgerichts vom 29. Januar 2007 – L 15 B 25/07 SB PKH – verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes. Er wird aufgehoben. Die Sache wird an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

2. Der Freistaat Bayern hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten.

3. Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit wird für das Verfassungsbeschwerdeverfahren auf 4.000 Euro (in Worten: viertausend Euro) festgesetzt.

 

Gründe

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Ablehnung von Prozesskostenhilfe für ein sozialgerichtliches Verfahren.

I.

1. Der Beschwerdeführer begehrt im Ausgangsverfahren wegen verschiedener körperlicher Beeinträchtigungen die Feststellung eines höheren Grades der Behinderung (GdB) als 60 gemäß § 69 Abs. 1 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch (SGB IX) sowie die Zuerkennung des Merkzeichens “G…” im Sinne von § 146 Abs. 1 SGB IX. Nach den Feststellungen des zuständigen Versorgungsamtes leidet der Beschwerdeführer unter anderem an einer hochgradigen Schwerhörigkeit beiderseits. Mit Beschluss vom 11. Dezember 2006 lehnte das Sozialgericht Regensburg einen Antrag des Beschwerdeführers auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe ab. Die hiergegen eingelegte Beschwerde wurde vom Bayerischen Landessozialgericht mit Beschluss vom 29. Januar 2007 zurückgewiesen. Zur Begründung führte das Landessozialgericht aus, eine Vertretung nach § 121 Abs. 2 der Zivilprozessordnung (ZPO) sei nicht geboten, weil die Bevollmächtigten der Beschwerdegegnerin anders als Rechtsanwälte gehalten seien, auch die sozialen Rechte des Beschwerdeführers möglichst weitgehend zu verwirklichen. In Angelegenheiten nach §§ 2, 69 SGB IX sei im Übrigen die Beiordnung eines Rechtsanwalts nicht erforderlich, weil der Ausgang des Verfahrens regelmäßig vom Ergebnis der Sachverhaltsermittlung abhänge, die im Rahmen der für die Sozialgerichte geltenden Untersuchungsmaxime anzustellen sei. Ob noch weitere Gutachten einzuholen seien, werde das Sozialgericht im Rahmen pflichtgemäßen Ermessens entscheiden. Insoweit bedürfe es keiner anwaltschaftlichen Vertretung gleichsam als Mittler zwischen einem gegebenenfalls noch zu hörenden ärztlichen Sachverständigen und dem Beschwerdeführer.

Der Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 18. Dezember 2001 (1 BvR 391/01, JURIS) stütze das Begehren des Beschwerdeführers nicht. Im Rahmen der dort aufgehobenen Beschlüsse seien Einschränkungen der intellektuellen Leistungsfähigkeit des damaligen Klägers nicht ausreichend gewürdigt worden. Vergleichbar schwerwiegende Funktionsstörungen auf nervenfachärztlichem Gebiet seien hier jedoch nicht aktenkundig. Die hochgradige Schwerhörigkeit des Beschwerdeführers schränke zwar seine Kommunikationsfähigkeit ein, mache es jedoch nicht unmöglich, vor allem das Ausmaß der gegebenen Hörstörung zu prüfen und zu bewerten.

2. Der Beschwerdeführer hat gegen den Beschluss des Landessozialgerichts Verfassungsbeschwerde erhoben. Er sieht sich durch die Auslegung des Begriffs der “Erforderlichkeit” anwaltlicher Vertretung im Sinne von § 73a des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) in Verbindung mit § 121 Abs. 2 Satz 1 ZPO durch das Landessozialgericht in Art. 3 Abs. 1 GG verletzt.

3. Das Bayerische Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen hatte Gelegenheit zur Äußerung.

II.

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde nach § 93a Abs. 2 Buchstabe b in Verbindung mit § 93b Satz 1 BVerfGG zur Entscheidung an und gibt ihr nach § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG statt. Das Bundesverfassungsgericht hat die hierfür maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits entschieden (vgl. BVerfGE 81, 347 ≪356 f.≫ m.w.N.; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 17. Februar 1997, 1 BvR 1440/96, NJW 1997, S. 2103 f.; Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 18. Dezember 2001, 1 BvR 391/01, NZS 2002, S. 420).

1. Der Beschluss des Bayerischen Landessozialgerichts verletzt den Beschwerdeführer in seinem Anspruch auf Rechtsschutzgleichheit (Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG).

a) Art. 3 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsgrundsatz, der in Art. 20 Abs. 3 GG allgemein niedergelegt ist und für die Rechtsschutzgewährung in Art. 19 Abs. 4 GG besonderen Ausdruck findet, gebietet eine weitgehende Angleichung der Situation von Bemittelten und Unbemittelten bei der Verwirklichung des Rechtsschutzes (vgl. BVerfGE 81, 347 ≪357≫; stRspr). Mit dem Institut der Prozesskostenhilfe wollte der Gesetzgeber auch Unbemittelten einen weitgehend gleichen Zugang zu den Gerichten ermöglichen.

b) Gemäß § 73a SGG in Verbindung mit § 121 Abs. 2 Satz 1 ZPO ist auf Antrag der Partei ein Rechtsanwalt beizuordnen, wenn die Vertretung durch einen Rechtsanwalt erforderlich erscheint. Den Rechtsbegriff der Erforderlichkeit, dessen Auslegung und Anwendung in erster Linie den Fachgerichten obliegt, hat das Landessozialgericht hier in einer Weise ausgelegt, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der in Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG verbürgten Rechtsschutzgleichheit beruht (vgl. BVerfGE 81, 347 ≪358≫ m.w.N.).

aa) Ob die Beiordnung eines Rechtsanwalts erforderlich im Sinne des § 121 Abs. 2 ZPO erscheint, beurteilt sich nicht nur nach Umfang und Schwierigkeit der Sache, sondern auch nach der Fähigkeit des Beteiligten, sich mündlich und schriftlich auszudrücken (vgl. BVerfGE 63, 380 ≪394≫). Entscheidend ist, ob ein Bemittelter in der Lage des Unbemittelten vernünftigerweise einen Rechtsanwalt mit der Wahrnehmung seiner Interessen beauftragt hätte. Davon ist regelmäßig dann auszugehen, wenn im Kenntnisstand und in den Fähigkeiten der Prozessparteien ein deutliches Ungleichgewicht besteht (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 17. Februar 1997, 1 BvR 1440/96, NJW 1997, S. 2103 f.).

bb) Diese Maßstäbe verkennt das Landessozialgericht. Für die Frage der Erforderlichkeit einer Vertretung durch einen Rechtsanwalt kommt es nach Ansicht des Landessozialgerichts darauf an, ob der Ausgang des Verfahrens regelmäßig vom Ergebnis der Sachverhaltsermittlung im Sinne von § 103 ff. SGG, also von der Geltung des Amtsermittlungsgrundsatzes, abhängt. Das Bundesverfassungsgericht hat indes bereits wiederholt entschieden, dass ein derartiges pauschales Abstellen auf den Amtsermittlungsgrundsatz im sozialgerichtlichen Verfahren gegen das Prinzip der Rechtsschutzgleichheit verstößt. Dies gilt auch dann, wenn ausschließlich oder schwerpunktmäßig tatsächliche Fragen im Streit sind, die möglicherweise durch eine Beweiserhebung im Wege der Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens geklärt werden müssen (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senat, vom 18. Dezember 2001, 1 BvR 391/01, NZS 2002, S. 420).

Ohne Belang ist es auch, ob – wie das Landessozialgericht meint – ein Rechtsanwalt als Mittler zwischen einem gegebenenfalls noch zu hörenden Sachverständigen und dem Beschwerdeführer wirken kann. Aufgabe des Rechtsanwalts ist es nicht, zwischen dem Sachverständigen und dem Beschwerdeführer zu vermitteln, sondern die Rechte seines Mandanten gegenüber der anderen Prozesspartei und gegebenenfalls dem Gericht zu vertreten. Die Aufklärungs- und Beratungspflicht des Anwalts geht dabei über die Reichweite der Amtsermittlungspflicht des Richters hinaus. Insbesondere kann der Anwalt verpflichtet sein, auch solche tatsächlichen Ermittlungen anzuregen und zu fördern, die für den Richter aufgrund des Beteiligtenvorbringens nicht veranlasst sind (vgl. BVerfG, a.a.O.).

Schließlich ist auch ohne Bedeutung, ob es die hochgradige Schwerhörigkeit des Beschwerdeführers unmöglich macht, das Ausmaß der Hörstörung und der weiterhin vorgetragenen Gehbehinderung zu prüfen und zu bewerten. Das Landessozialgericht bewertet vor dem Hintergrund seiner Erwägungen zur Bedeutung des Amtsermittlungsgrundsatzes die besonderen persönlichen Verhältnisse des Beschwerdeführers lediglich danach, ob sie Erschwernisse bei der medizinischen Begutachtung mit sich bringen. Damit reduziert es die Rolle des Beschwerdeführers im sozialgerichtlichen Verfahren darauf, sich medizinischen Begutachtungen zu unterziehen. Bewertungsmaßstab für die Frage der Beiordnung eines Rechtsanwalts ist es indes, ob die besonderen persönlichen Verhältnisse dazu führen, dass der Grundsatz der “Waffengleichheit” zwischen den Parteien verletzt ist. Angesichts dessen hätte es insbesondere eines Eingehens auf die Frage bedurft, ob die vom Landessozialgericht festgestellten Beeinträchtigungen des Beschwerdeführers zu einem derartigen Ungleichgewicht zwischen den Parteien führen und inwieweit dieses Ungleichgewicht gegebenenfalls durch andere gerichtliche Maßnahmen – etwa nach § 186 GVG – behoben werden kann.

3. Der angefochtene Beschluss ist demnach aufzuheben und die Sache an das Landessozialgericht zurückzuverweisen (§ 95 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 BVerfGG). Es ist nicht auszuschließen, dass das Landessozialgericht auf der Grundlage der Rechtsauffassung des Bundesverfassungsgerichts zu einer anderen Entscheidung gelangt.

4. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG, die Festsetzung der Werts der anwaltlichen Tätigkeit auf § 37 Abs. 2 Satz 2 des Rechtsanwaltsvergütungsgesetzes in Verbindung mit den dazu vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Grundsätzen (vgl. BVerfGE 79, 365 ≪366 ff.≫).

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

 

Unterschriften

Papier, Steiner, Gaier

 

Fundstellen

Haufe-Index 1779377

NJW 2008, 430

NJW-RR 2007, 1713

NZS 2008, 88

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