Verfahrensgang

LG Köln (Urteil vom 06.11.1997; Aktenzeichen 6 S 525/96)

 

Tenor

Das Urteil des Landgerichts Köln vom 6. November 1997 – 6 S 525/96 – verletzt Artikel 103 Absatz 1 des Grundgesetzes. Es wird aufgehoben. Die Sache wird an das Landgericht zurückverwiesen.

Das Land Nordrhein-Westfalen hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.

 

Tatbestand

I.

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Zurückweisung neuer Beweisanträge in der Berufungsinstanz nach § 528 Abs. 2 ZPO.

  • Der Beschwerdeführer stellte dem Kläger des Ausgangsverfahrens den Verkauf eines Hausgrundstücks in Aussicht, woraufhin dieser an den Beschwerdeführer einen “Kaufpreisvorschuß” in Höhe von 10.000 DM leistete. Das Grundstück befand sich nicht im Eigentum des Beschwerdeführers, sondern eines Dritten, mit dem der Beschwerdeführer seinerseits zuvor einen notariellen Kaufvertrag abgeschlossen hatte. Zum Abschluß eines Kaufvertrages zwischen dem Beschwerdeführer und dem Kläger kam es in der Folgezeit jedoch nicht. Statt dessen wurde der Kaufvertrag zwischen dem Grundstückseigentümer und dem Beschwerdeführer wieder aufgehoben, wobei sich der Eigentümer gleichzeitig verpflichtete, das Grundstück unmittelbar an den Kläger und dessen Ehefrau zu veräußern, was schließlich auch geschah.
  • Im Ausgangsverfahren nahm der Kläger den Beschwerdeführer wegen ungerechtfertigter Bereicherung auf Rückzahlung der 10.000 DM in Anspruch. Der Beschwerdeführer trat der Klage mit der Behauptung entgegen, er habe sich mit dem Kläger nachträglich darauf geeinigt, daß er – der Beschwerdeführer – den ursprünglich als Kaufpreisanzahlung geleisteten Betrag als Provision für die Vermittlung des Kaufvertrags zwischen dem Kläger und dem Grundstückseigentümer behalten dürfe.

    Das Amtsgericht verurteilte den Beschwerdeführer nach Einvernahme von drei Zeugen antragsgemäß zur Rückzahlung der 10.000 DM. Durch die Beweisaufnahme sei nicht erwiesen, daß zwischen den Parteien die streitige Provisionsvereinbarung zustandegekommen sei. Dagegen erhob der Beschwerdeführer Berufung. In seiner am 30. Januar 1997 beim Landgericht eingegangenen Berufungsbegründung vom 24. Januar 1997 benannte er zum Beweis dafür, daß der Kläger ihm die 10.000 DM als Provision zugesagt habe, zwei weitere Zeugen. Mit Schriftsatz vom 3. März 1997 bestritt der Kläger den Vortrag des Beschwerdeführers und benannte seinerseits gegenbeweislich zwei neue Zeugen.

    Die mündliche Verhandlung über die Berufung fand am 16. Oktober 1997 statt. Mit Urteil vom 6. November 1997 wies das Landgericht die Berufung unter Bezugnahme auf die Beweiswürdigung des Amtsgerichts zurück. Soweit der Beschwerdeführer in zweiter Instanz zwei weitere Zeugen für den Abschluß der behaupteten Provisionsvereinbarung benannt habe, werde sein Vorbringen gemäß § 528 Abs. 2 ZPO als verspätet zurückgewiesen. Die Berücksichtigung dieses Beweisantritts hätte eine Verzögerung der Erledigung des Rechtsstreits zur Folge, weil nicht nur die beiden vom Beschwerdeführer benannten Zeugen, sondern auch die hierzu vom Kläger neu benannten Gegenzeugen vernommen werden müßten. Die Benennung der neuen Zeugen durch den Beschwerdeführer sei in erster Instanz unter Verletzung der Prozeßförderungspflicht gemäß § 282 Abs. 1 ZPO aus grober Nachlässigkeit unterblieben.

  • Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer, das Landgericht habe bei der Anwendung des § 528 Abs. 2 ZPO gegen Art. 103 Abs. 1 GG verstoßen. In der Berufungsbegründungsschrift seien die neuen Beweisantritte abschließend und präzise formuliert worden. Die Berufungskammer hätte bereits im Zeitpunkt der Ladungsverfügung erkennen müssen, daß eine weitere Beweisaufnahme erforderlich werde. Aufgrund der weiträumigen Terminierung auf den 16. Oktober 1997 habe die Kammer ausreichend Zeit gehabt, auf die neuen Beweisantritte in angemessener Form zu reagieren. Das angegriffene Urteil beruhe auf dem Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG, weil nicht ausgeschlossen werden könne, daß nach Vernehmung der zusätzlich benannten Zeugen die Klage abgewiesen worden wäre.
  • Der Kläger des Ausgangsverfahrens hält die Verfassungsbeschwerde für unbegründet. Das Justizministerium des Landes Nordrhein-Westfalen hat von einer Stellungnahme abgesehen.
 

Entscheidungsgründe

II.

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung des Anspruchs des Beschwerdeführers auf Gewährung rechtlichen Gehörs angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung liegen vor (§ 93c Abs. 1 BVerfGG). Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen Fragen hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden (vgl. insbesondere BVerfGE 69, 145 ≪148 ff.≫; 75, 302 ≪312 ff.≫; 81, 264 ≪269 ff.≫).

  • Die angegriffene Entscheidung des Landgerichts verletzt den Beschwerdeführer in seinem Recht aus Art. 103 Abs. 1 GG.

    a) Dem Anspruch der Beteiligten eines gerichtlichen Verfahrens auf rechtliches Gehör entspricht die Verpflichtung des Gerichts, Anträge und Ausführungen der Prozeßparteien zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Erhebliche Beweisanträge muß das Gericht berücksichtigen (BVerfGE 69, 145 ≪148≫ m.w.N.). Zwar hindert Art. 103 Abs. 1 GG den Gesetzgeber nicht, durch Präklusionsvorschriften auf eine Prozeßbeschleunigung hinzuwirken, sofern die betroffene Partei ausreichend Gelegenheit hatte, sich zu allen für sie wichtigen Punkten zur Sache zu äußern, dies aber aus von ihr zu vertretenden Gründen versäumt hat (BVerfGE 69, 145 ≪149≫ m.w.N.). Diese das rechtliche Gehör beschränkenden Vorschriften haben jedoch wegen der einschneidenden Folgen, die sie für die säumige Partei nach sich ziehen, strengen Ausnahmecharakter (BVerfGE 69, 126 ≪136≫; 69, 145 ≪149≫; stRspr). Die Fachgerichte sind daher bei der Auslegung und Anwendung der Präklusionsvorschriften einer strengeren verfassungsgerichtlichen Kontrolle unterworfen, als dies üblicherweise bei der Anwendung einfachen Rechts geschieht. Die verfassungsgerichtliche Überprüfung muß über eine bloße Willkürkontrolle hinausgehen (BVerfGE 75, 302 ≪312≫). Art. 103 Abs. 1 GG ist jedenfalls dann verletzt, wenn die Anwendung der einfachrechtlichen Präklusionsvorschrift durch das Fachgericht offenkundig unrichtig ist (vgl. BVerfGE 69, 145 ≪149≫). Wie das Bundesverfassungsgericht bereits mehrfach entschieden hat, ist eine Präklusion insbesondere dann nicht mit dem Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs zu vereinbaren, wenn eine unzulängliche Verfahrensleitung oder eine Verletzung der gerichtlichen Fürsorgepflicht die Verzögerung mitverursacht hatte (BVerfGE 81, 264 ≪273≫ m.w.N.).

    b) Gemessen an diesen Grundsätzen hält die Anwendung des § 528 Abs. 2 ZPO durch das Landgericht einer verfassungsgerichtlichen Überprüfung nicht stand.

    § 528 Abs. 2 ZPO ist so zu verstehen, daß die Nichtzulassung der erstmals in zweiter Instanz vorgebrachten Angriffs- und Verteidigungsmittel nur erfolgen darf, wenn beide Voraussetzungen der Vorschrift, also die Verzögerung des Rechtsstreits und die grobe Nachlässigkeit der Prozeßpartei, kumulativ vorliegen (vgl. BGH, NJW 1989, 717 ≪718≫ m.w.N.; Zöller/Gummer, ZPO, 21. Aufl., § 528 Rn. 18; Thomas/Putzo, ZPO, 21. Aufl., § 528 Rn. 20). Ob die Säumnis des Beschwerdeführers im vorliegenden Fall auf grober Nachlässigkeit beruhte, kann dahingestellt bleiben. Denn der Verstoß des Landgerichts gegen Art. 103 Abs. 1 GG liegt bereits allein darin begründet, daß es eine Verzögerung der Erledigung des Rechtsstreits bejaht hat, obwohl es diese ohne weiteres durch zumutbare und damit prozeßrechtlich gebotene Maßnahmen der Terminsvorbereitung gemäß §§ 523, 273 Abs. 2 Nr. 4 ZPO hätte abwenden können.

    Zwischen dem Eingang der Berufungsbegründungsschrift vom 24. Januar 1997, mit der der Beschwerdeführer die beiden weiteren Zeugen benannt hat, und dem Termin zur mündlichen Verhandlung am 16. Oktober 1997 lagen mehr als acht Monate. Bei dieser langfristigen Terminbestimmung hätte das Gericht die für die Vernehmung der benannten Zeugen erforderliche Verhandlungszeit einplanen können und müssen. Angesichts des unkomplizierten, klar abgegrenzten Beweisthemas hätte bei entsprechender Vorbereitung die Beweisaufnahme ohne Schwierigkeiten in einem Termin bewältigt werden können.

    Etwas anderes ergibt sich auch nicht daraus, daß nach Auffassung des Landgerichts im Falle einer Zulassung des erweiterten Zeugenangebots des Beschwerdeführers die beiden von dem Kläger in der Berufungserwiderung benannten Gegenzeugen ebenfalls hätten vernommen werden müssen. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist dem Gericht die Vernehmung mehrerer Zeugen zu einem eingegrenzten Beweisthema im Rahmen eines Verhandlungstermins stets zuzumuten. Dabei stellt es keine nennenswerte Verzögerung des Verfahrens dar, wenn vier oder sogar sechs Zeugen zu vernehmen sind (vgl. BGH, VersR 1991, 1172 ≪1174≫ m.w.N.; BVerfGE 81, 264 ≪271≫). Da auch die Gegenzeugen bereits mehr als sieben Monate vor dem Verhandlungstermin benannt worden waren, hätte das Gericht auch insoweit noch ausreichend Zeit gehabt, die erforderlichen vorbereitenden Anordnungen nach § 273 ZPO zu treffen.

    Der Verpflichtung des Gerichts, die Säumnis der Partei durch geeignete vorbereitende Maßnahmen auszugleichen, kann auch nicht entgegengehalten werden, daß eine rechtzeitige Prüfung des Parteivortrags wegen Überlastung des Gerichts nicht möglich gewesen wäre. Sind Richter wegen der Zahl der anhängigen Sachen nicht in der Lage, vermeidbare Verzögerungen zu verhindern, mag dies den einzelnen Richter vom Vorwurf unzulänglicher Sachbearbeitung befreien. Der in der Sphäre des Staates liegende Grund für die zögerliche Behandlung des Verfahrens darf aber nicht über den Begriff der Zumutbarkeit auf die in erster Instanz säumige Partei abgewälzt werden (BVerfGE 81, 264 ≪272≫).

    Die Zurückweisung des verspäteten Vorbringens diente somit im Ergebnis nicht mehr der Verhinderung von Folgen säumigen Parteiverhaltens, sondern wirkte einer erst infolge unzureichender richterlicher Verfahrensleitung drohenden Verzögerung entgegen. Unter solchen Umständen ist aber eine Sanktion, die sich als Versagung rechtlichen Gehörs auswirkt, mit rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht zu vereinbaren (vgl. BVerfGE 81, 264 ≪273 f.≫).

    c) Es kann nicht ausgeschlossen werden, daß das Landgericht hinsichtlich der entscheidungserheblichen Frage einer Provisionsvereinbarung zwischen dem Beschwerdeführer und dem Kläger zu einem anderen Ergebnis gelangt wäre, wenn es das Vorbringen des Beschwerdeführers berücksichtigt und die Beweisaufnahme durchgeführt hätte. Damit beruht die Entscheidung auch auf einer Verletzung des rechtlichen Gehörs.

  • Gemäß § 34a Abs. 2 BVerfGG sind dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.

    Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

 

Unterschriften

Papier, Grimm, Hömig

 

Fundstellen

Haufe-Index 1276193

NWB 1999, 2164

NJW-RR 1999, 1079

ZAP 1999, 550

SGb 1999, 625

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