Entscheidungsstichwort (Thema)

Darlegungslast im Rahmen eines Wiedereinsetzungsantrages bei Inanspruchnahme des Postverteildienstes eines Anwaltvereins

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Die Gerichte dürfen aufgrund des Anspruchs auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes bei der Auslegung und Anwendung der Vorschriften über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand die Anforderungen nicht überspannen. Verzögerungen der Briefbeförderung oder Zustellung durch die Deutsche Post AG sind dem Bürger nicht als Verschulden anzurechnen.

2. Das Gericht überspannt die Anforderungen an die Darlegung zur Erlangung der Wiedereinsetzung in die versäumte Berufungsfrist in verfassungswidriger Weise, wenn es von einem Anwalt, der sich zur Beförderung eines Berufungsschriftsatzes einer vom Anwaltverein betriebenen Postverteilstelle bedient, die Darlegung fordert, durch welche Maßnahmen Sorge dafür getragen war, dass die am Morgen in das entsprechende Fach eingelegten Schriftsätze dem Gericht am selben Tag zugehen, und ob die Beachtung der Anweisungen stichprobenartig überprüft wurde.

3. Für den Bürger muss vorhersehbar bleiben, welche Anforderungen an seine Darlegungen bei einem Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gestellt werden, und es muss ihm zumutbar und möglich sein, diese Anforderungen zu erfüllen. Dies verbietet im Regelfall, die Darlegung von Vorgängen innerhalb der Organisationsstruktur der Dienstleistungsanbieter zu verlangen, da diese sich regelmäßig der Kenntnis des Nutzers entziehen. Hier besteht kein Unterschied zwischen der Beförderung durch die Deutsche Post AG und der durch andere Anbieter.

 

Normenkette

GG Art. 2 Abs. 1, Art. 20 Abs. 3; ZPO § 233

 

Verfahrensgang

LG Wuppertal (Beschluss vom 08.06.2001; Aktenzeichen 9 S 93/01)

LG Wuppertal (Beschluss vom 09.05.2001; Aktenzeichen 9 S 93/01)

 

Tenor

Die Beschlüsse des Landgerichts Wuppertal vom 9. Mai 2001 – 9 S 93/01 – und vom 8. Juni 2001 – 9 S 93/01 – verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 1 des Grundgesetzes in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip. Sie werden aufgehoben. Die Sache wird an das Landgericht zurückverwiesen.

Der Wert des Gegenstandes der anwaltlichen Tätigkeit wird für das Verfassungsbeschwerde-Verfahren auf 12.000 DM (in Worten: zwölftausend) festgesetzt.

 

Tatbestand

I.

Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen gerichtliche Entscheidungen, durch die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsfrist versagt und die Berufung verworfen worden ist.

1. Im Ausgangsverfahren verurteilte das Amtsgericht den Beschwerdeführer zur Zahlung von 3.100 DM nebst Zinsen. Seine hiergegen gerichtete Berufung ging einen Tag nach Ablauf der Berufungsfrist beim Landgericht ein. Nach einem entsprechenden Hinweis beantragte der Beschwerdeführer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und führte zur Begründung aus: Eine Auszubildende seines Prozessbevollmächtigten habe die Berufungsschrift am Tag des Fristablaufs gegen 8.00 Uhr in das mit der Aufschrift „Zivilkammern” versehene Fach im Anwaltszimmer des Landgerichts eingelegt. Von hier aus werde die Gerichtspost noch am selben Vormittag durch eine Mitarbeiterin des Anwaltvereins auf die einzelnen Geschäftsstellen bzw. an die Posteingangsstelle des Landgerichts verteilt. Sei die Angestellte erkrankt, stelle der Anwaltverein sicher, dass eine zuverlässige Ersatzkraft die Verteilung der Post übernehme.

Das Landgericht wies den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand durch Beschluss vom 9. Mai 2001 zurück und verwarf die Berufung als unzulässig. Die Leerung des Gerichtsfachs im Anwaltszimmer gehöre zur anwaltlichen Organisation. Wenn sich ein Rechtsanwalt zur Übermittlung eines fristwahrenden Schriftsatzes unter Ausschöpfung der Frist des Fachs im Anwaltszimmer bediene, müsse er – wie bei den Angehörigen seiner eigenen Kanzlei – durch organisatorische Maßnahmen Sorge dafür tragen, dass der Schriftsatz dem Gericht noch am selben Tag zugehe. Es sei nicht dargelegt, dass es insoweit strikte Anweisungen gegeben habe, deren Einhaltung stichprobenartig überprüft worden sei.

Die hiergegen gerichtete Gegenvorstellung des Beschwerdeführers wies das Landgericht durch Beschluss vom 8. Juni 2001 zurück.

2. Mit der Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer die Verletzung von Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip und von Art. 103 Abs. 1 GG. Es sei einer Prozesspartei unbenommen, sich zum Zwecke der Zustellung von fristwahrenden Schriftsätzen eines Kurierdienstes zu bedienen. In derartigen Fällen verbiete es sich, die Darlegung von Vorgängen innerhalb der Organisationsstruktur solcher Dienstleistungsanbieter zu verlangen. Insoweit bestehe kein Unterschied zwischen der Beförderung durch die Deutsche Post AG und durch andere Anbieter. Ob und inwieweit die Angestellte des Anwaltvereins instruiert und überwacht werde, sei nur dem Vereinsvorstand bekannt, dem die Prozessbevollmächtigten des Beschwerdeführers nicht angehörten.

3. Das Justizministerium des Landes Nordrhein-Westfalen und die Klägerin des Ausgangsverfahrens hatten Gelegenheit zur Stellungnahme.

 

Entscheidungsgründe

II.

1. Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt, weil dies zur Durchsetzung des Grundrechtes des Beschwerdeführers auf effektiven Rechtsschutz (Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip) angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Auch die weiteren Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung nach § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG liegen vor.

a) Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen sind durch das Bundesverfassungsgericht schon entschieden. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts dürfen bei der Auslegung und Anwendung der Vorschriften über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand die Anforderungen an das, was der Betroffene veranlasst haben muss, um Wiedereinsetzung zu verlangen, nicht überspannt werden (vgl. BVerfGE 40, 88 ≪91≫; 67, 208 ≪212 f.≫). Denn der Anspruch auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes, der für bürgerlich-rechtliche Streitigkeiten aus Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip folgt (vgl. BVerfGE 85, 337 ≪345≫ m.w.N.), verbietet es den Gerichten, den Parteien den Zugang zu einer in der Verfahrensordnung eingeräumten Instanz in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise zu erschweren (vgl. BVerfGE 41, 23 ≪26≫; 69, 381 ≪385≫; 88, 118 ≪123 ff.≫). Das Bundesverfassungsgericht hat es insbesondere als nicht zulässig angesehen, dem Bürger Verzögerungen der Briefbeförderung oder Zustellung durch die Deutsche Post AG als Verschulden anzurechnen (vgl. BVerfGE 41, 23 ≪25 f.≫; 53, 25 ≪28≫; 62, 334 ≪336≫; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 11. November 1999 – 1 BvR 762/99 –, NJW-RR 2000, S. 726). In der Verantwortung des Absenders liegt es allein, das zu befördernde Schriftstück so rechtzeitig und ordnungsgemäß zur Post zu geben, dass es bei normalem Verlauf der Dinge den Empfänger fristgerecht erreichen kann (vgl. BVerfGE 41, 23 ≪27≫).

Die Beurteilung, welche Anforderungen an die Darlegung im Rahmen eines Wiedereinsetzungsantrags gestellt werden, ist grundsätzlich Sache der Fachgerichte. Dies gilt auch im Hinblick auf die Nutzung privater Kurierdienste. Für den Bürger muss aber vorhersehbar bleiben, welche Anforderungen an seine Darlegungen bei einem Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gestellt werden, und es muss ihm zumutbar und möglich sein, diese Anforderungen zu erfüllen. Dies verbietet im Regelfall, die Darlegung von Vorgängen innerhalb der Organisationsstruktur der Dienstleistungsanbieter zu verlangen, da diese sich regelmäßig der Kenntnis des Nutzers entziehen. Hier besteht kein Unterschied zwischen der Beförderung durch die Deutsche Post AG und der durch andere Anbieter (vgl. Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 23. August 1999 – 1 BvR 1138/97 – NJW 1999, S. 3701 f. – dort zum Kurierdienst eines Anwaltvereins).

b) Bei Anwendung dieser Grundsätze ist die Verfassungsbeschwerde im Sinne von § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG offensichtlich begründet.

Der Beschwerdeführer hat sich für den Transport der Berufungsschrift vom Anwaltszimmer des Landgerichts zur Geschäftsstelle der Berufungskammer eines privaten Kurierdienstes, nämlich des Postverteildienstes des Anwaltvereins bedient. In der Auswahl dieses Dienstes hat auch das Berufungsgericht ein Verschulden nicht erblickt. Es hat vom Beschwerdeführer jedoch verlangt, darzulegen, durch welche Maßnahmen Sorge dafür getragen war, dass die am Morgen in das entsprechende Fach des Anwaltszimmers eingelegten Schriftsätze dem Gericht am selben Tag zugehen, und ob die Beachtung der Anweisungen stichprobenartig überprüft wurde. Dabei hat es verkannt, dass die vom Anwaltverein betriebene Postverteilstelle nicht zum Organisationsbereich der sie benutzenden Anwälte gehört. Die Organisation der Postverteilung obliegt allein dem Anwaltverein. Der einzelne Anwalt ist, selbst wenn er Mitglied des Anwaltvereins sein sollte, gegenüber den Angestellten des Anwaltvereins weder weisungs- noch kontrollbefugt.

Der Beschwerdeführer hat dargelegt, bis wann die Schriftsätze in die Fächer des Anwaltszimmers eingelegt sein müssen, um bei regelmäßigem Betriebsablauf noch am selben Tag an die einzelnen Geschäftsstellen des Amts- und Landgerichts sowie der Staatsanwaltschaften verteilt zu werden. Verlangt man weiteren Vortrag zur Organisationsstruktur des in Anspruch genommenen Kurierdienstes, so wird die Benutzung eines solchen Dienstes faktisch ausgeschlossen, denn einem Anwalt ist es regelmäßig nicht möglich und nicht zumutbar, bei Inanspruchnahme eines Kurierdienstes weiterreichende Erkundigungen einzuholen (vgl. Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 23. August 1999 – 1 BvR 1138/97 –, NJW 1999, S. 3701 f.).

2. Da der Beschluss vom 9. Mai 2001 und der ihn bestätigende Beschluss vom 8. Juni 2001 schon wegen Verstoßes gegen Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip aufzuheben sind (§ 95 Abs. 2 BVerfGG), kann offen bleiben, ob die Entscheidungen auch Art. 103 Abs. 1 GG verletzen.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG, die Festsetzung des Wertes des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit auf § 113 Abs. 2 Satz 3 BRAGO i.V.m. den vom Bundesverfassungsgericht dazu entwickelten Grundsätzen (vgl. BVerfGE 79, 365 ≪366 ff.≫).

Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 93d Abs. 1 Satz 2 BVerfGG).

 

Fundstellen

NJW-RR 2002, 1005

KammerForum 2002, 386

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