Verfahrensgang

OLG Nürnberg (Beschluss vom 07.07.2010; Aktenzeichen 1 Ws 342/10)

LG Regensburg (Beschluss vom 04.06.2010; Aktenzeichen StVK 209/1994)

 

Tenor

Der Beschluss des Oberlandesgerichts Nürnberg vom 7. Juli 2010 – 1 Ws 342/10 – und der Beschluss der auswärtigen Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Regensburg mit dem Sitz in Straubing vom 4. Juni 2010 – StVK 209/1994 – verletzen den Beschwerdeführer in seinen Grundrechten aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 in Verbindung mit Artikel 104 Absatz 1 Satz 1 des Grundgesetzes und Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes.

Die Bundesrepublik Deutschland und der Freistaat Bayern haben dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen jeweils zur Hälfte zu erstatten.

 

Tatbestand

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Fortdauer der Sicherungsverwahrung über zehn Jahre hinaus in einem sogenannten „Altfall” im Anwendungsbereich des § 67d Abs. 3 Satz 1 StGB.

I.

1. a) Der 1960 geborene Beschwerdeführer wurde unter anderem am 24. August 1983 durch das Landgericht Schweinfurt wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit Körperverletzung, versuchter Vergewaltigung in vier Fällen, davon in drei Fällen in Tateinheit mit Körperverletzung, sexueller Nötigung in Tateinheit mit Körperverletzung unter Einbeziehung des Urteils des Amtsgerichts Mellrichstadt vom 7. Februar 1983 zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und einer weiteren Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt. Das Landgericht Würzburg verurteilte ihn am 31. Januar 1989 zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren wegen sexueller Nötigung. Mit Urteil des Landgerichts Aschaffenburg vom 17. November 1992 wurde der Beschwerdeführer wegen sexueller Nötigung in drei Fällen, davon in zwei Fällen in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung in Tatmehrheit mit Diebstahl und Hausfriedensbruch, letzterer in Tateinheit mit Sachbeschädigung, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt. Zugleich wurde seine Unterbringung in der Sicherungsverwahrung angeordnet.

b) Die Sicherungsverwahrung wird seit 29. Mai 1996 gegen den Beschwerdeführer vollzogen; am 28. Mai 2006 waren zehn Jahre der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung vollstreckt.

c) Mit angegriffenem Beschluss vom 4. Juni 2010 – StVK 209/1994 – ordnete die auswärtige Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Regensburg mit dem Sitz in Straubing nach Anhörung des Beschwerdeführers und Einholung eines Gutachtens die Fortdauer der Sicherungsverwahrung an. Zur Begründung führte es aus, es bestehe weiterhin die Gefahr, dass der Beschwerdeführer aufgrund seines Hanges Straftaten begehen werde, durch die die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt würden, und stützte sich dabei auf die Stellungnahme der Justizvollzugsanstalt und ein psychiatrisches Gutachten vom 12. März 2010, das sich hinsichtlich der äußerst ungünstigen Prognose mit einem früher eingeholten Gutachten deckte. Wegen der mit hoher Wahrscheinlichkeit drohenden Sexualdelikte sei die Unterbringung weiterhin verhältnismäßig. Ein Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot liege trotz der Dauer der Sicherungsverwahrung entgegen der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 17. Dezember 2009, die für die Strafvollstreckungskammer nicht bindend sei, nicht vor. Darüber hinaus setzte die Kammer eine Sperrfrist nach § 67e Abs. 2, Abs. 3 Satz 2 StGB fest, vor deren Ablauf ein weiterer Antrag des Beschwerdeführers auf Prüfung unzulässig sei.

d) Hiergegen richtete sich die sofortige Beschwerde zum Oberlandesgericht Nürnberg, die mit Beschluss vom 7. Juli 2010 – 1 Ws 342/10 – als unbegründet verworfen wurde. Der Senat schloss sich der Gefahrenprognose des Landgerichts an und führte aus, er nehme die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zur Kenntnis, könne ihr jedoch nicht folgen, weil sie insbesondere gegen den Schutz der Grundrechte der potentiellen Opfer der Sicherungsverwahrten aus Art. 2 Abs. 2 GG verstoße.

e) Hiergegen richtet sich die Verfassungsbeschwerde vom 7. August 2010. Sie war mit einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung verbunden, der darauf abzielte, den Beschwerdeführer sofort auf freien Fuß zu setzen.

Das Bundesverfassungsgericht lehnte den Erlass der einstweiligen Anordnung mit Beschluss vom 16. August 2010 ab.

f) Mit Beschluss vom 27. Oktober 2011 hat die auswärtige Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Regensburg mit dem Sitz in Straubing die Unterbringung des Beschwerdeführers in der Sicherungsverwahrung mittlerweile für erledigt erklärt. Eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten könne aus konkreten Umständen, die in der Person des Beschwerdeführers liegen, nicht festgestellt werden. Die hohen Anforderungen an eine Fortdauer der Sicherungsverwahrung über zehn Jahre hinaus seien nicht erfüllt, auch wenn ein hohes Risiko hinsichtlich versuchter oder vollendeter Vergewaltigungen aufgrund einer psychischen Störung des Beschwerdeführers im Sinne des Therapieunterbringungsgesetzes bestehe.

Gegen den Beschluss richtete sich die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft Aschaffenburg, die mit Beschluss vom 15. Dezember 2011 durch das Oberlandesgericht Nürnberg als unbegründet verworfen wurde. Es schloss sich der Auffassung des Landgerichts an, dass die hochgradige Gefahr einer Begehung „schwerster” Sexualdelikte nicht ersichtlich sei.

2. Mit seiner gegen den Beschluss des Landgerichts vom 4. Juni 2010 und den Beschluss des Oberlandesgerichts vom 7. Juli 2010 gerichteten Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer die Verletzung seiner Rechte aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG in Verbindung mit Art. 104 GG und Art. 20 Abs. 3 GG.

 

Entscheidungsgründe

II.

Das Bayerische Staatsministerium der Justiz und für Verbraucherschutz und das Bundesministerium der Justiz hatten Gelegenheit zur Stellungnahme. Dem Bundesverfassungsgericht hat das Vollstreckungsheft der Staatsanwaltschaft Aschaffenburg vorgelegen.

III.

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung der Grundrechte des Beschwerdeführers angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG), und gibt ihr statt. Nach den Maßstäben, die in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bereits geklärt sind (vgl. BVerfGE 128, 326 ff.), ist die Verfassungsbeschwerde zulässig und offensichtlich begründet (§ 93b, § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).

1. Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig. Der mit der Fortdauer der Sicherungsverwahrung über zehn Jahre hinaus einhergehende erhebliche Grundrechtseingriff (BVerfGE 128, 326 ≪389≫) lässt das Feststellungsinteresse des Beschwerdeführers trotz der zwischenzeitlich unter Bezugnahme auf das Senatsurteil vom 4. Mai 2011 (BVerfGE 128, 326 ff.) ergangenen Entscheidungen des Landgerichts und des Oberlandesgerichts fortbestehen (vgl. BVerfGE 91, 125 ≪133≫; 108, 251 ≪268≫).

2. Die Verfassungsbeschwerde ist auch begründet.

a) Der den angegriffenen Entscheidungen zugrundeliegende § 67d Abs. 3 Satz 1 StGB in der Fassung des Gesetzes zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten vom 26. Januar 1998 (BGBl I S. 160) ist, wie der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts mit Urteil vom 4. Mai 2011 (BVerfGE 128, 326 ff.) festgestellt hat, mit Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 GG und, soweit er in Verbindung mit § 2 Abs. 6 des Strafgesetzbuchs zur Anordnung der Fortdauer der Sicherungsverwahrung über zehn Jahre hinaus auch bei Verurteilten ermächtigt, deren Anlasstaten vor Inkrafttreten von Art. 1 des Gesetzes zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten vom 26. Januar 1998 begangen wurden, darüber hinaus mit Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG unvereinbar.

Aufgrund der Anordnung des Bundesverfassungsgerichts unter Nummer III.2. Buchstabe a des Tenors des Urteils vom 4. Mai 2011 ist die Vorschrift längstens bis zum 31. Mai 2013 weiter anwendbar, mit der Maßgabe, dass die Fortdauer der Sicherungsverwahrung nur noch angeordnet werden darf, wenn eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Untergebrachten abzuleiten ist und dieser an einer psychischen Störung im Sinne von § 1 Abs. 1 Nr. 1 des Gesetzes zur Therapierung und Unterbringung psychisch gestörter Gewalttäter (Therapieunterbringungsgesetz – ThUG) – Art. 5 des Gesetzes zur Neuordnung des Rechts der Sicherungsverwahrung und zu begleitenden Regelungen vom 22. Dezember 2010 (BGBl I S. 2300) – leidet. Zudem hatten die zuständigen Vollstreckungsgerichte unverzüglich zu überprüfen, ob die Voraussetzungen der Fortdauer einer Sicherungsverwahrung gegeben sind. Lagen die Voraussetzungen nicht vor, hatten sie die Freilassung der betroffenen Sicherungsverwahrten spätestens mit Wirkung zum 31. Dezember 2011 anzuordnen (vgl. Nummer III.2. Buchstabe b des Tenors des Urteils vom 4. Mai 2011). Die Überprüfungsfrist für die Erledigung der Sicherungsverwahrung beträgt überdies in der Konstellation des § 67d Abs. 3 Satz 1 StGB im Rahmen der Weitergeltung der Vorschrift abweichend von § 67e Abs. 2 des Strafgesetzbuchs ein Jahr (vgl. Nummer III.2. Buchstabe c des Tenors des Urteils vom 4. Mai 2011).

b) Dies zugrunde gelegt, verletzen die angegriffenen Entscheidungen den Beschwerdeführer in seinen Rechten aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG. Sie beruhen auf der verfassungswidrigen Vorschrift des § 67d Abs. 3 Satz 1 StGB in der Fassung des Gesetzes zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten vom 26. Januar 1998 (BGBl I S. 160) und genügen nicht den Anforderungen, die sich für eine verfassungsgemäße Entscheidung auf der Grundlage der für weiter anwendbar erklärten Vorschrift des § 67d Abs. 3 Satz 1 StGB aus den Maßgaben des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 ergeben. Die Fachgerichte haben in den angegriffenen Entscheidungen namentlich nicht geprüft, ob nach diesen Maßstäben eine Fortdauer der Unterbringung des Beschwerdeführers in der Sicherungsverwahrung zulässig war. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass sie im Zeitpunkt ihrer Entscheidungen das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 nicht berücksichtigen konnten, weil dieses noch nicht ergangen war (BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 8. Juni 2011 – 2 BvR 2846/09 –, EuGRZ 2011, S. 413 ≪415 f.≫). Denn für die Feststellung einer Grundrechtsverletzung kommt es allein auf die objektive Verfassungswidrigkeit der angefochtenen Urteile im Zeitpunkt der Entscheidung an; unerheblich ist hingegen, ob die Grundrechtsverletzung den Fachgerichten vorwerfbar ist (BVerfGE 128, 326 ≪408≫).

3. Es ist daher festzustellen, dass die angegriffenen Entscheidungen den Beschwerdeführer in seinen Rechten aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG verletzen (§ 93c Abs. 2, § 95 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG). Sie sind jedoch nicht aufzuheben, da sie durch die Entscheidungen der Strafvollstreckungskammer vom 27. Oktober 2011 und des Oberlandesgerichts vom 15. Dezember 2011 mittlerweile prozessual überholt sind. Die Fachgerichte haben damit die mit der in Nummer III.2. Buchstabe b des Tenors des Urteils vom 4. Mai 2011 angeordnete erneute Sachprüfung durchgeführt.

IV.

Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.

 

Unterschriften

Lübbe-Wolff, Huber, Kessal-Wulf

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2997558

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