Verfahrensgang

LG Arnsberg (Beschluss vom 15.02.1996; Aktenzeichen 3 Ns/Ds 20 Js 46/95 (8/96))

AG Brilon (Urteil vom 30.10.1995; Aktenzeichen 2 Ds 20 Js 46/95)

 

Tenor

Das Urteil des Amtsgerichts Brilon vom 30. Oktober 1995 – 2 Ds 20 Js 46/95 – und der Beschluß des Landgerichts Arnsberg vom 15. Februar 1996 – 3 Ns/Ds 20 Js 46/95 (8/96) – verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 5 Absatz 1 Satz 1 des Grundgesetzes. Die Entscheidungen werden aufgehoben. Die Sache wird an das Amtsgericht zurückverwiesen.

Das Land Nordrhein-Westfalen hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.

 

Gründe

Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen eine strafgerichtliche Verurteilung wegen Beleidigung.

I.

1. Der Beschwerdeführer betreibt als Rechtsanwalt seine Kanzlei in angemieteten Räumen. Der Mietvertrag enthielt zugunsten des Beschwerdeführers ein Vorkaufsrecht an dem Grundstück mit den Kanzleiräumen. Die Vermieter des Beschwerdeführers waren verpflichtet, das Vorkaufsrecht auf dessen Wunsch und Kosten in das Grundbuch eintragen zu lassen.

Nachdem der Beschwerdeführer von seinen Vermietern die Eintragung des Vorkaufsrechts verlangt hatte, beauftragten diese einen Notar mit der Eintragung. Der Notar arbeitete dazu einen Vertragsentwurf aus, der unter anderem das Recht der Vermieter zu weiteren Belastungen des Grundstücks und eine kurze Frist zur Ausübung des Vorkaufsrechts enthielt. Da der Beschwerdeführer mit dem Vertragsentwurf nicht einverstanden war, verfaßte er ein zweiseitiges Schreiben an den Notar, in dem er zunächst in mehreren Absätzen seine rechtlichen Einwände formulierte. Der vorletzte Absatz des Schreibens enthielt sodann folgenden Satz:

“Sie werden verstehen, daß wir diesen Vertragsentwurf unmöglich als ausgewogene Arbeit eines unparteiischen Notars akzeptieren können.”

Das Schreiben endet mit der Ankündigung des Beschwerdeführers, er werde die Kosten für den Vertragsentwurf nicht übernehmen und seinen Vermietern empfehlen, einen anderen Notar mit der Eintragung des Vorkaufsrechts zu beauftragen.

2. Das Amtsgericht verurteilte den Beschwerdeführer wegen Beleidigung des Notars gemäß § 185 StGB zu einer Geldstrafe von zehn Tagessätzen zu je 150 DM. Das Gericht begründete die Verurteilung damit, daß die Äußerung des Beschwerdeführers im vorletzten Absatz seines Schreibens einen objektiv beleidigenden Inhalt habe. Der Beschwerdeführer habe dem Notar vorgeworfen, parteiisch gehandelt und damit gegen seine Berufspflicht zur Unparteilichkeit verstoßen zu haben.

Der Inhalt des umstrittenen Satzes sei eindeutig. Durch die Verbindung der Satzbestandteile “unmöglich ausgewogene Arbeit” und “eines unparteiischen Notars” habe der Beschwerdeführer dem Notar einseitige Parteinahme zugunsten der Vermieter vorgeworfen. Eine solche Unterstellung sei nicht notwendig gewesen, wenn es dem Beschwerdeführer allein um inhaltliche Kritik gegangen wäre. Auf die Wahrnehmung berechtigter Interessen (§ 193 StGB) könne der Beschwerdeführer sich nicht berufen, da er mit seiner Äußerung über das Ziel hinausgeschossen habe. Er habe zwar inhaltliche Kritik an dem Vertragsentwurf äußern dürfen, und in seinem Schreiben finde sich auch inhaltliche Kritik, die wohl sogar berechtigt gewesen sei. Das ändere aber nichts daran, daß der Beschwerdeführer es bei dieser inhaltlichen Kritik hätte bewenden lassen müssen, zumal es sich bei dem Notar um einen Berufskollegen gehandelt habe.

3. Das Landgericht hat die Berufung des Beschwerdeführers gemäß § 313 Abs. 2 StPO als unzulässig verworfen. Bei der Prüfung der Frage, ob eine Beleidigung gemäß § 185 StGB vorliege, sei darauf abzustellen, wie eine Äußerung in ihrem Zusammenhang von einem verständigen Dritten wahrgenommen werde. Hier sei der objektive Sinngehalt der Äußerung des Beschwerdeführers geeignet gewesen, die Ehre des Notars zu beeinträchtigen. Ein objektiver Dritter müsse die Äußerung dahingehend verstehen, daß die Unausgewogenheit des Vertragsentwurfs auf der Parteinahme des Notars für die Vermieter beruhe. Eine solche Kritik des Beschwerdeführers sei nicht mehr unter dem Gesichtspunkt der Wahrnehmung berechtigter Interessen gerechtfertigt.

4. Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung seiner Grundrechte aus Art. 1, 2, 3, 5 und Art. 103 Abs. 1 GG. Er habe den Notar nicht beleidigt. Seine Äußerung sei keine Tatsachenbehauptung, sondern ein Werturteil gewesen. Er habe seinem Erstaunen darüber Ausdruck verleihen wollen, daß ein unparteiischer Notar einen dermaßen unausgewogenen Vertragsentwurf gefertigt habe. Insgesamt gehe die Auslegung seiner Äußerung durch die Gerichte entschieden zu weit. Jedenfalls halte sich seine Äußerung in den Grenzen des § 193 StGB bzw. der Meinungsfreiheit. Den Umstand, daß gerade ein Kollege Adressat seiner Kritik gewesen sei, hätten die Gerichte nicht strafschärfend berücksichtigen dürfen. Außerdem habe das Landgericht seine Argumente aus der Berufungsbegründung überhaupt nicht zur Kenntnis genommen und sich allein auf das Urteil des Amtsgerichts bezogen, worin eine Verletzung seines Grundrechts auf rechtliches Gehör liege.

5. Das Ministerium für Inneres und Justiz des Landes Nordrhein-Westfalen hat von einer Stellungnahme zu der Verfassungsbeschwerde abgesehen.

II.

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung von Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung liegen vor (§ 93c BVerfGG). Das Bundesverfassungsgericht hat die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen Fragen hinreichend geklärt (vgl. insbesondere BVerfGE 93, 266 ≪292 ff.≫).

1. Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig. Allerdings genügen die Rügen einer Verletzung der Art. 1, 2, 3 und des Art. 103 Abs. 1 GG nicht den Begründungsanforderungen der §§ 23 Abs. 1 Satz 2, 92 BVerfGG. Der Vortrag des Beschwerdeführers zu Art. 5 Abs. 1 GG läßt die Möglichkeit einer Grundrechtsverletzung hingegen mit hinreichender Deutlichkeit erkennen (vgl. BVerfGE 78, 320 ≪329≫).

2. Die Verfassungsbeschwerde ist begründet, weil die angegriffenen Entscheidungen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG verletzen.

a) Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen eine strafgerichtliche Verurteilung wegen Beleidigung. Die Auslegung und Anwendung der Strafgesetze ist grundsätzlich Sache der Strafgerichte. Dabei haben diese jedoch, handelt es sich um Gesetze, die die Meinungsfreiheit beschränken, das eingeschränkte Grundrecht aus Art. 5 Abs. 1 GG zu beachten, damit dessen wertsetzende Bedeutung auch auf der Rechtsanwendungsebene gewahrt bleibt (vgl. BVerfGE 7, 198 ≪208 f.≫).

aa) Das erfordert auf der Stufe der Normauslegung eine im Rahmen der Tatbestandsmerkmale des § 185 StGB vorzunehmende Abwägung zwischen der Bedeutung der Meinungsfreiheit einerseits und des Rechtsguts, in dessen Interesse sie eingeschränkt worden ist, andererseits. Damit ist eine Interpretation des strafrechtlichen Beleidigungstatbestandes unvereinbar, die den Begriff der Beleidigung so weit ausdehnt, daß er die Erfordernisse des Ehrenschutzes überschreitet oder für die Berücksichtigung der Meinungsfreiheit keinen Raum mehr läßt (vgl. BVerfGE 93, 266 ≪292≫).

bb) Auf der Stufe der Normanwendung verlangt Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG eine Gewichtung der Beeinträchtigung, die der persönlichen Ehre auf der einen und der Meinungsfreiheit auf der anderen Seite droht, bei der alle wesentlichen Umstände des Falles zu berücksichtigen sind. Das Ergebnis dieser Abwägung ist verfassungsrechtlich nicht vorgegeben. In der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung ist allerdings anerkannt, daß die Meinungsfreiheit regelmäßig zurücktreten muß, wenn sich die Äußerung als Angriff auf die Menschenwürde oder als Formalbeleidigung oder Schmähung darstellt. Andernfalls kommt es für die Abwägung auf die Schwere der Beeinträchtigung der betroffenen Rechtsgüter an. Bei Äußerungen, die einen Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung darstellen, spricht eine Vermutung zugunsten der Freiheit der Rede. Bei Äußerungen, die im Zuge einer ausschließlich privaten Auseinandersetzung gefallen sind, gilt hingegen keine derartige Vermutungsregel (vgl. BVerfGE 93, 266 ≪293 f.≫).

cc) Voraussetzung jeder Abwägung ist, daß der Sinn einer Äußerung zutreffend erfaßt wird. Die Auslegung hat vom Wortlaut der Äußerung auszugehen, darf aber auch den sprachlichen Kontext, in dem sie steht, sowie die für den Rezipienten erkennbaren Begleitumstände, unter denen sie gefallen ist, nicht unberücksichtigt lassen. Die isolierte Betrachtung eines bestimmten Äußerungsteils oder Satzes wird den Anforderungen einer zuverlässigen Sinnermittlung regelmäßig nicht gerecht (vgl. BVerfGE 93, 266 ≪295≫).

Schließlich ist der Einfluß des Grundrechts auch bei der Einstufung einer Äußerung als Werturteil oder Tatsachenbehauptung zu beachten. Das folgt daraus, daß Tatsachenbehauptungen im Rahmen der fallbezogenen Abwägung regelmäßig ein geringeres Gewicht zukommt als Werturteilen (vgl. BVerfGE 61, 1 ≪8≫). Schon in der unzutreffenden Einordnung einer Äußerung als Tatsachenbehauptung kann deshalb eine Grundrechtsverletzung liegen. Allerdings ist die Abgrenzung zwischen Werturteil und Tatsachenbehauptung nicht immer einfach. Während für Werturteile die subjektive Beziehung des sich Äußernden zum Inhalt seiner Äußerung charakteristisch ist, steht bei Tatsachenbehauptungen die objektive Beziehung zwischen der Äußerung und der Wirklichkeit im Vordergrund. Wer eine Tatsache behauptet, will etwas als objektiv gegeben hinstellen. Anders als Werturteile sind Tatsachenbehauptungen daher grundsätzlich einem Beweis zugänglich (vgl. BVerfGE 94, 1 ≪8≫).

b) Diesen verfassungsrechtlichen Erfordernissen genügen die angegriffenen Entscheidungen nicht.

aa) Auf der Deutungsebene haben das Amtsgericht und ihm folgend das Landgericht zwischen der (zulässigen) inhaltlichen Kritik auf den ersten anderthalb Seiten des Briefes und der (unzulässigen) vermeintlich persönlichen Kritik in dem ersten Satz des vorletzten Absatzes unterschieden. Der inkriminierte Satz habe zu der inhaltlichen Kritik nichts mehr beigetragen. Die Äußerung des Beschwerdeführers habe nur dazu gedient, den Notar persönlich zu verunglimpfen. Sie sei “objektiv beleidigend”.

Eine solche Deutung des umstrittenen Satzes wird dem Kontext, in dem er steht, nicht gerecht. Nur bei einer isolierten Betrachtung stellt er sich als ausschließlich persönliche Verunglimpfung des Notars dar. Der inkriminierte Satz folgt jedoch mehreren Absätzen, in denen der Beschwerdeführer sachlich seine Kritikpunkte gegen den notariellen Vertragsentwurf auflistet und seine rechtliche Position darlegt, und leitet die beiden abschließenden Absätze ein, in denen der Beschwerdeführer den Notar über die Konsequenzen seiner rechtlichen Bedenken unterrichtet (Ablehnung einer Kostenübernahme und Empfehlung an die Vermieter, einen anderen Notar einzuschalten). In Anbetracht dieses Kontextes läßt sich der umstrittene Satz nicht von der inhaltlichen Kritik trennen. Er hatte vielmehr ersichtlich den Zweck, die inhaltliche Kritik des Beschwerdeführers an dem Vertragsentwurf pointiert zusammenzufassen.

Die isolierte Betrachtung des umstrittenen Satzes hat auch in der rechtlichen Würdigung Niederschlag gefunden. Amtsgericht und Landgericht behandeln die umstrittene Äußerung zwar nicht terminologisch, der Sache nach aber als ehrenrührige und unzutreffende Tatsachenbehauptung. Hätten sich die Gerichte jedoch von ihrer isolierten Betrachtung des umstrittenen Satzes gelöst und den Zusammenhang der Äußerung mit der inhaltlichen Kritik beachtet, wäre der wertende Charakter der Kritik auch bei der Beurteilung der inkriminierten Äußerung zum Tragen gekommen. Bei einer kontextorientierten Auslegung der Äußerung ist es zumindest nicht fernliegend, den inkriminierten Satz statt als objektiv beleidigende Tatsachenbehauptung als Werturteil über die notarielle Arbeit zu verstehen.

bb) Auch auf der Normauslegungs- und Anwendungsebene halten die angegriffenen Entscheidungen den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht stand. Die Gerichte haben zwar geprüft, ob die Äußerung durch die Wahrnehmung berechtigter Interessen (§ 193 StGB) gedeckt sein könnte. Sie sind damit dem Erfordernis, diesen Rechtfertigungsgrund, der dem Einfluß des Art. 5 Abs. 1 GG in besonderer Weise offensteht, vor jeder Verurteilung wegen § 185 StGB zu prüfen, gerecht geworden (vgl. BVerfGE 93, 266 ≪291≫).

Doch haben die Gerichte bei der Abwägung unzureichende bzw. unzutreffende Erwägungen angestellt: Das Amtsgericht hat unter anderem darauf abgestellt, daß der Beschwerdeführer seinen Vorwurf gegenüber einem Berufskollegen geäußert habe. Diese Erwägung ist kein zulässiger Abwägungsgesichtspunkt, weil das Gewicht des Ehrenschutzes bei Äußerungen unter Berufskollegen nicht höher als bei Äußerungen gegenüber sonstigen Dritten ist. Ferner hat das Amtsgericht infolge der strikten Differenzierung zwischen inhaltlicher Kritik und vermeintlicher persönlicher Verunglimpfung des Notars den Umstand, daß die Äußerung des Beschwerdeführers im Zusammenhang mit einem auch nach Auffassung des Amtsgerichts jedenfalls nicht unproblematischen Vertragsentwurf des Notars stand, nicht hinreichend gewürdigt. Schließlich hat das Amtsgericht nicht beachtet, daß der Beschwerdeführer in dem inkriminierten (Neben-)Satz dem Wortlaut nach keine anklagende oder affirmative Behauptung beleidigenden Inhalts aufstellt, sondern durch die Wahl des Satzsubjekts (“wir”) und das Prädikat (“akzeptieren”) den subjektiv-wertenden Aussagegehalt für den Leser deutlich hervorhebt. Der landgerichtliche Beschluß bezieht sich weitgehend auf die amtsgerichtlichen Ausführungen und leidet deshalb an den gleichen Fehlern.

3. Die angegriffenen Entscheidungen beruhen auf den verfassungsrechtlichen Fehlern. Es ist nicht ausgeschlossen, daß die Gerichte bei einer erneuten Befassung mit der Sache zu einem anderen Ergebnis kommen. Die in Frage stehende Äußerung ist zwar im Rahmen einer ausschließlich privaten Auseinandersetzung gefallen, weshalb hier keine Vermutung für die Freiheit der Rede streitet. Andererseits ist die Äußerung weit von einer Formalbeleidigung oder Schmähung entfernt. Es ist nicht auszuschließen, daß die Fachgerichte bei einer zutreffenden Deutung der Äußerung und Beachtung der erforderlichen Abwägungsmaßstäbe zu einem Freispruch des Beschwerdeführers gelangen.

4. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

 

Unterschriften

Papier, Grimm, Hömig

 

Fundstellen

Haufe-Index 1276231

NJW 1999, 2262

StraFo 1999, 166

LL 1999, 602

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