Entscheidungsstichwort (Thema)

Räumgsschutz nach § 765a ZPO. Suizidgefahr

 

Beteiligte

Rechtsanwalt Bernd-Michael Jetter

 

Verfahrensgang

LG Stuttgart (Zwischenurteil vom 15.06.2001; Aktenzeichen 2 T 220/01)

 

Tenor

1. Der Beschluss des Landgerichts Stuttgart vom 15. Juni 2001 – 2 T 220/01 – verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 des Grundgesetzes. Er wird aufgehoben. Die Sache wird an das Landgericht zurückverwiesen.

2. Bis zur erneuten Entscheidung des Landgerichts über den Antrag des Beschwerdeführers gemäß § 765 a ZPO bleibt die Zwangsvollstreckung ausgesetzt.

3. Das Land Baden-Württemberg hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.

 

Tatbestand

Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen die Versagung von Räumungsschutz nach § 765 a ZPO wegen Suizidgefahr.

I.

1. Der Beschwerdeführer ist Inhaber eines Restaurants. Zum Betrieb dieser Gaststätte mietete er auf einem Nachbargrundstück befindliche, mit dem Hauptgebäude verbundene Nebenräume an, in denen sich unter anderem die Toilettenanlage befindet.

Die Vermieterin der Nebenräume, Frau M., kündigte im Dezember 1999 das Mietverhältnis fristlos mit der Begründung, der Beschwerdeführer befinde sich mit dem Mietzins in Zahlungsrückstand. Im März 2000 verkaufte sie das in ihrem Eigentum stehende Grundstück an die Firma B.

Auf die Klage der Frau M. hin verurteilte das Landgericht den Beschwerdeführer, die Geschäfts- und Nebenräume zu räumen und an die Firma B. herauszugeben. Die Berufung des Beschwerdeführers wies das Oberlandesgericht zurück, über die eingelegte Revision hat der Bundesgerichtshof noch nicht entschieden.

2. Am 12. März 2001 beantragte der Beschwerdeführer beim zuständigen Amtsgericht – Vollstreckungsgericht – unter Vorlage fachärztlicher Atteste, die von Frau M. aus dem vorläufig vollstreckbaren Urteil des Landgerichts betriebene Zwangsvollstreckung gemäß § 765 a ZPO bis zum Abschluss der Revisionsinstanz vorläufig einzustellen, da bei ihm im Falle der Zwangsräumung eine erhebliche Suizidgefahr bestehe.

a) Das Amtsgericht stellte zunächst die Zwangsvollstreckung einstweilen ein und holte ein amtsärztlich-psychiatrisches Gutachten des städtischen Gesundheitsamts ein. In dem Gutachten vom 4. April 2001 wird eine „depressive, verzweifelte Verfassung” des Beschwerdeführers bestätigt und ausgeführt, im Falle einer Zwangsräumung müsse „konkret mit suizidalen Handlungen gerechnet werden”.

Mit Beschluss vom 11. Mai 2001 wies das Amtsgericht den Antrag des Beschwerdeführers zurück.

b) Der Beschwerdeführer erhob hiergegen sofortige Beschwerde und legte eine weitere amtsärztlichnervenärztliche Stellungnahme des Gesundheitsamts vom 15. Mai 2001 vor, in der bestätigt wird, dass er sich in einer „hochgradig depressiven seelischen Verfassung” befinde, so dass „im Falle einer Zwangsräumung absolut mit einer Suizidhandlung gerechnet” werden müsse.

Die Gläubigerin, Frau M., machte demgegenüber unter anderem geltend, dass ihr aufgrund vertraglicher Vereinbarungen mit der Firma B. ein Gesamtschaden von bis zu 3,5 Mio. DM drohe, wenn die auf dem fraglichen Grundstück geplante Neubebauung nicht rechtzeitig fertig gestellt werden könne. Aufgrund der Räumungsstreitigkeiten leide sie selbst an einer massiven Depression, die bereits zu Suizidimpulsen bei ihr geführt hätte.

Das Landgericht holte zur Frage der Suizidgefahr beim Beschwerdeführer ein weiteres nervenfachärztliches Sachverständigengutachten ein. Der Sachverständige Prof. Dr. T. kam in seinem Gutachten vom 15. Juni 2001 zu dem Ergebnis, im Falle der Zwangsräumung bestehe für den Beschwerdeführer die konkrete Gefahr eines Suizids. Diese Gefahr beruhe auf seiner allgemeinen finanziellen Situation und werde verstärkt durch die bevorstehende Zwangsräumung, in der er die Besiegelung seines endgültigen Ruins sehe. Die Gefahr der Selbsttötung beruhe nicht auf einer geistigen oder psychischen Erkrankung, sondern wäre ein durch den Beschwerdeführer bei geistiger Gesundheit bewusst gesetzter Akt freier Willensbildung. Die Stimmungslage des Beschwerdeführers könne durch therapeutische Interventionen verbessert werden, der Beschwerdeführer nehme seine Medikamente aber nicht regelmäßig ein. Von einer stationären Aufnahme des Beschwerdeführers, die dieser ablehne, sei keine konkrete Hilfe zu erwarten.

Das Landgericht wies daraufhin am 15. Juni 2001 die sofortige Beschwerde zurück. Eine sittenwidrige Härte im Sinne von § 765 a ZPO könne zwar grundsätzlich darin bestehen, dass dem Schuldner bei Durchführung der Zwangsvollstreckung eine Gefahr für Leben oder Gesundheit drohe, die hinreichend wahrscheinlich sei und gerade auf die drohende Vollstreckungsmaßnahme zurückzuführen sei. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gebiete das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG eine ganz besonders gewissenhafte Prüfung der Voraussetzungen des § 765 a ZPO, wenn nach dem Vortrag des Schuldners eine schwerwiegende Gefährdung seines Lebens oder seiner Gesundheit zu besorgen sei. Insbesondere dem Vortrag einer Suizidgefahr sei besonders sorgfältig nachzugehen.

Aufgrund des eingeholten Sachverständigengutachtens sei zwar davon auszugehen, dass tatsächlich eine erhebliche Suizidgefahr bestehe. Aus dem Gutachten ergebe sich aber auch, dass der Beschwerdeführer bewusstseinsklar und voll orientiert sei und eine Bilanzierung seiner Lebenssituation für ihn so ausfalle, dass er seinem Leben ein Ende setzen möchte. Es liege daher möglicherweise ein Fall eines Bilanzselbstmordes vor. Dies könne man zwar missbilligen oder versuchen, den Schuldner von einem Suizid abzuhalten. Man müsse sich aber darüber im Klaren sein, dass es sich um die Entscheidung eines geistig gesunden Menschen handele, die in jedem Fall zu respektieren und zu akzeptieren sei.

Bei dieser Einschätzung des Sachverständigen, der sich das Gericht anschließe, könne nicht mehr vom Vorliegen einer sittenwidrigen Härte im Sinne des § 765 a ZPO ausgegangen werden. Soweit der Schuldner in der Lage sei, frei zu bestimmen, ob er sich seiner derzeitigen desolaten persönlichen und wirtschaftlichen Situation durch Suizid entziehen wolle, hätte er es ansonsten jederzeit in der Hand, gegen ihn gerichtete Zwangsvollstreckungsmaßnahmen auf diese Art und Weise zu vereiteln. Dies könne aber nicht Sinn und Zweck der Schuldnerschutzvorschrift des § 765 a ZPO sein, zumal im vorliegenden Fall auch gewichtige Interessen der Gläubigerin eine Durchführung der Zwangsräumung rechtfertigten. Soweit der Beschwerdeführer seinen Entschluss frei fassen und verschiedene Handlungsalternativen abwägen könne, sei er gegenüber der Gläubigerin nicht besonders schutzwürdig. Nachdem seine wirtschaftliche Situation ohnehin aufgrund anderer Verfahren bereits stark beeinträchtigt sei und er darüber hinaus im Falle eines Obsiegens in der Revisionsinstanz Schadensersatzansprüche gegen die Gläubigerin nach § 717 Abs. 2 ZPO habe, sei auch nicht in jedem Falle eine vollständige Zerstörung seiner wirtschaftlichen Existenz allein durch die vorliegende Zwangsräumung zu erwarten, so dass die Suizidgefahr nicht nur auf die konkrete Vollstreckungsmaßnahme zurückgeführt werden könne.

3. Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung von Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG. In Anbetracht der eindeutigen fachärztlichen Stellungnahmen habe das Landgericht dem Schutz des Lebens des Beschwerdeführers nicht die Bedeutung beigemessen, die Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG ihm verleihe. Die Auffassung, der Schuldner sei im Rahmen des § 765 a ZPO nicht besonders schutzwürdig, wenn er in der Lage sei, frei zu bestimmen, ob er sich seiner desolaten wirtschaftlichen und persönlichen Situation durch Suizid entziehen wolle, stehe im Widerspruch zu der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts.

4. Am 18. Juni 2001 hat die Kammer auf Antrag des Beschwerdeführers eine einstweilige Anordnung erlassen, mit der die Zwangsvollstreckung hinsichtlich des Räumungsanspruchs einstweilen untersagt worden ist.

5. Das Justizministerium des Landes Baden-Württemberg hat von einer Stellungnahme zu der Verfassungsbeschwerde abgesehen. Der Präsident des Bundesgerichtshofs hat Stellungnahmen der Vorsitzenden des VII. und des XII. Zivilsenats übersandt, in denen diese mitteilen, dass die Senate bislang mit den im vorliegenden Fall einschlägigen Rechtsfragen nicht befasst gewesen seien. Die Gegnerin des Ausgangsverfahrens hält die Verfassungsbeschwerde für unbegründet. Die von den Instanzgerichten vorgenommene Interessenabwägung sei im Ergebnis verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.

 

Entscheidungsgründe

II.

Die Kammer nimmt die zulässige Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung des Grundrechts des Beschwerdeführers aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG angezeigt ist (§ 93 a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung liegen vor (§ 93 c Abs. 1 BVerfGG). Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen Fragen hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden (vgl. BVerfGE 52, 214 ≪219 ff.≫).

1. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts verpflichtet das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG die Vollstreckungsgerichte, bei der Prüfung der Voraussetzungen des § 765 a ZPO auch die Wertentscheidungen des Grundgesetzes und die dem Schuldner in der Zwangsvollstreckung gewährleisteten Grundrechte zu berücksichtigen. Ergibt die erforderliche Abwägung, dass die der Zwangsvollstreckung entgegenstehenden, unmittelbar der Erhaltung von Leben und Gesundheit dienenden Interessen des Schuldners im konkreten Fall ersichtlich schwerer wiegen als die Belange, deren Wahrung die Vollstreckungsmaßnahme dienen soll, so kann der trotzdem erfolgende Eingriff das Prinzip der Verhältnismäßigkeit und das Grundrecht des Schuldners aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verletzen (vgl. BVerfGE 52, 214 ≪219 f.≫; 2. Kammer des Ersten Senats, NJW 1998, S. 295 f. m.w.N.). Das Bundesverfassungsgericht hat allerdings nur zu prüfen, ob das Vollstreckungsgericht das Verfassungsrecht und die Ausstrahlungswirkung der Grundrechte beachtet hat (vgl. BVerfGE 52, 214 ≪219≫).

2. Die angegriffene Entscheidung hält einer verfassungsrechtlichen Überprüfung anhand dieses Maßstabs nicht stand. Das Landgericht hat die genannte Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zwar zitiert und das Grundrecht des Beschwerdeführers aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG den Belangen der Gläubigerin gegenübergestellt. Die erfolgte Abwägung begegnet jedoch im Ergebnis durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken.

Das Landgericht hat den mit seiner Entscheidung verbundenen Risiken für Leben und Gesundheit des Beschwerdeführers nicht hinreichend Rechnung getragen. Es ist – in Übereinstimmung mit dem von ihm eingeholten Sachverständigengutachten und den amtsärztlichen Stellungnahmen – von der konkreten Gefahr eines Suizids im Falle der Zwangsräumung ausgegangen, hat dieser Gefahr aber letztlich allein deshalb keine ausschlaggebende Bedeutung beigemessen, weil sie nicht auf einer geistigen oder psychischen Erkrankung beruhe, sondern das Ergebnis einer „freien” Willensentscheidung des Beschwerdeführers sei.

Eine solche Sichtweise wird dem in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG enthaltenen Gebot zum Schutz des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit nicht in der erforderlichen Weise gerecht. Die Frage, ob eine Zwangsräumung zum Suizid des Schuldners führen kann, muss unabhängig davon beantwortet werden, ob die Suizidalität auf einer – psychischen oder sonstigen – Erkrankung oder auf anderen – persönlichkeitsbedingten – Ursachen beruht. Die Unfähigkeit, aus eigener Kraft oder mit zumutbarer fremder Hilfe die Konfliktsituation situationsangemessen zu bewältigen, verdient auch dann Beachtung, wenn ihr kein Krankheitswert zukommt (vgl. BVerfG, 2. Kammer des Ersten Senats, NJW 1994, S. 1719 ≪1720≫). Die Einstufung eines drohenden Suizids als „Bilanzselbstmord” ändert nichts daran, dass das Leben des Schuldners durch die bevorstehende Vollstreckungsmaßnahme konkret in Gefahr ist und diese Gefahr bei der Abwägung der widerstreitenden Interessen Berücksichtigung finden muss.

Dadurch, dass das Landgericht dies verkannt hat, hat es dem Schutz von Leben und Gesundheit des Beschwerdeführers nicht das von Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG geforderte Gewicht beigemessen. Insbesondere hätte es nicht außer Betracht lassen dürfen, dass im vorliegenden Fall – im Unterschied zu Fällen, in denen eine Suizidgefährdung des Schuldners nur vage im Raum steht – die für den Beschwerdeführer bestehende Selbstmordgefahr von den Ärzten als außerordentlich hoch eingeschätzt worden ist. Nach den – insoweit von dem Sachverständigen Prof. Dr. T. nicht in Abrede gestellten – amtsärztlichen Feststellungen ist mit einer Suizidhandlung des Beschwerdeführers „absolut” zu rechnen.

3. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Landgericht bei vollständiger Würdigung der Gefahr für das Leben des Beschwerdeführers zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre. Bislang hat es, da es den Beschwerdeführer gegenüber der Gläubigerin von vornherein als „nicht besonders schutzwürdig” angesehen hat, die gebotene Abwägung zwischen den Belangen des Schuldners und den – zweifellos ebenfalls gewichtigen – Belangen der Gläubigerin nicht in dem erforderlichen Umfang vorgenommen. Dies hat das Gericht – gegebenenfalls nach weiterer Aufklärung des Sachverhalts – nachzuholen. Ob die Voraussetzungen des § 765 a ZPO im Ergebnis zu bejahen sein werden, ist offen und vom Bundesverfassungsgericht nicht zu entscheiden.

4. Da die Aufhebung des angegriffenen Beschlusses noch nicht zu einer Einstellung der Zwangsvollstreckung führt, ist die weitere Aussetzung der Zwangsvollstreckung bis zum Erlass einer erneuten Entscheidung des Landgerichts anzuordnen (vgl. BVerfG, 2. Kammer des Ersten Senats, NJW 1994, S. 1719 ≪1720≫).

5. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen beruht auf § 34 a Abs. 2 BVerfGG.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

 

Unterschriften

Papier, Steiner, Hoffmann-Riem

 

Fundstellen

Haufe-Index 635221

NJW-RR 2001, 1523

NZM 2001, 951

ZMR 2001, 878

InVo 2001, 449

WuM 2001, 482

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