Entscheidungsstichwort (Thema)

Schriftsatzeinwurf in den Nachtbriefkasten durch Boten

 

Leitsatz (redaktionell)

Kurz vor Ablauf einer Berufungsbegründungsfrist besteht eine erhöhte Sorgfaltspflicht in bezug auf die Wahrung dieser Frist. Diese Pflicht verletzt der Rechtsanwalt indessen nicht, wenn er einen Boten, der ihm bekannt ist und der sich schon mehrfach in ähnlichen Fällen als zuverlässig erwiesen hatte, damit beauftragt, die Berufungsbegründungsschrift dem Berufungsgericht zu überbringen. Der Rechtsanwalt muß den Boten allerdings eindringlich darauf hinweisen, daß die Übergabe der Schrift an das Berufungsgericht zu dem im Auftrag bezeichneten Zeitpunkt erfolgen müsse, weil dies zur Fristwahrung erforderlich sei. Eine Verpflichtung, sich bei dem Boten nach der ordnungsmäßigen Ausführung des Auftrages zu erkundigen, besteht nicht.

 

Normenkette

GG Art. 2 Abs. 1, Art. 20 Abs. 3, Art. 103 Abs. 1; ZPO §§ 233, 85 Abs. 2

 

Verfahrensgang

LG Frankfurt am Main (Beschluss vom 01.11.1993; Aktenzeichen 2/11 S 345/93)

 

Gründe

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Frage nach verfassungsrechtlichen Vorgaben für die Entscheidung, wann im Zivilprozeß ein die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ausschließendes Verschulden des Prozeßbevollmächtigten (§ 233 in Verbindung mit § 85 Abs. 2 ZPO) angenommen werden darf, wenn der bevollmächtigte Rechtsanwalt sich zur Übermittlung einer Berufungsbegründung an das Berufungsgericht eines anderen Rechtsanwalts als Boten bedient und dieser es versäumt, den Schriftsatz rechtzeitig beim Berufungsgericht abzugeben.

I.

Am 27. Juli 1993 wurde dem damaligen Prozeßbevollmächtigten der Beschwerdeführerin, Rechtsanwalt A., das Urteil des Amtsgerichts Frankfurt am Main vom 16. Juli 1993 auf Räumung und Herausgabe ihrer Wohnung zugestellt. Dagegen legte Rechtsanwalt B. am 26. August 1993 Berufung bei dem Landgericht Frankfurt am Main ein. Mit Schreiben vom 5. Oktober 1993 wies das Berufungsgericht darauf hin, eine Berufungsbegründung sei bislang nicht zu den Akten gelangt. Rechtsanwalt B. beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand in die versäumte Berufungsbegründungsfrist mit einem Schriftsatz, der am 13. Oktober 1993 bei Gericht einging und dem eine Berufungsbegründung beigefügt war.

Zur Begründung führte Rechtsanwalt B. aus, er bilde eine Bürogemeinschaft mit Rechtsanwalt G. und mit Rechtsanwalt A., der die Beschwerdeführerin im Verfassungsbeschwerdeverfahren vertritt. Rechtsanwalt A. habe für ihn die Berufungsbegründung verfaßt, die er selbst, Rechtsanwalt B., am 23. September 1993 unterschrieben habe. Rechtsanwalt G. habe am 24. September 1993 einen Termin bei dem Landgericht Frankfurt gehabt. Bei solchen Gelegenheiten habe er zuvor bereits häufig fristwahrende Schriftsätze für seine Kollegen bei Gericht abgegeben, ohne daß es je Beanstandungen gegeben habe. Daher habe Rechtsanwalt A. noch am 23. September 1993 Rechtsanwalt G. die Berufungsbegründung gegeben, auf ihre Eilbedürftigkeit hingewiesen und ihn gebeten, sie am nächsten Tag bei dem Landgericht einzureichen. Rechtsanwalt G. habe es versäumt, die Berufungsbegründung rechtzeitig abzugeben, weil sie in eine seiner anderen Akten gerutscht sei. Daher treffe ihn, Rechtsanwalt B., kein Verschulden an der Fristversäumnis. Dazu legte Rechtsanwalt B. eidesstattliche Versicherungen der Rechtsanwälte A. und G. vor.

Das Landgericht lehnte mit Beschluß vom 1. November 1993 den Wiedereinsetzungsantrag als unbegründet ab und verwarf die Berufung als unzulässig. Die Beschwerdeführerin müsse sich das Verschulden ihres Prozeßbevollmächtigten zurechnen lassen. Sie sei daher nicht ohne ihr Verschulden verhindert gewesen, die Begründungsfrist einzuhalten. Rechtsanwalt B. habe es versäumt, sich zu erkundigen, ob Rechtsanwalt G. am 24. September 1993 überhaupt bei Gericht gewesen sei und ob er den Schriftsatz abgegeben oder in den Fristenkasten geworfen habe. Aus der eidesstattlichen Versicherung von Rechtsanwalt G. lasse sich dies nicht ersehen. Die aus Sorgfaltsgründen erforderliche Nachfrage hätte dazu geführt, daß der Schriftsatz noch am Tag des Fristablaufs, dem 27. September 1993, zum Gericht hätte gebracht werden können.

II.

1. Mit ihrer rechtzeitig erhobenen Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin eine Verletzung ihres Grundrechts auf rechtliches Gehör gemäß Art. 103 Abs. 1 GG. Das Landgericht habe ihr zu Unrecht die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand versagt. Daher sei sie nicht mit ihren Einwänden gegen das Räumungsurteil gehört worden. Art. 19 Abs. 4 GG sei verletzt, weil ihr der Instanzenweg abgeschnitten worden sei.

Ein Prozeßbevollmächtigter dürfe für einfache Tätigkeiten Hilfskräfte einsetzen. Dazu zähle insbesondere das Überbringen eines Schriftstücks. Eine Erkundigungspflicht bestehe bei einem als zuverlässig bekannten Boten nicht. Von einem Anwalt zu verlangen, seinen Kollegen zu befragen, ob dieser auch tatsächlich bei Gericht gewesen sei und ob er auch alle ihm mitgegebenen Schriftstücke ordnungsgemäß abgegeben habe, überspanne die Sorgfaltspflichten eines Anwalts.

2. Die Hessische Staatskanzlei hält die Verfassungsbeschwerde für zulässig und begründet.

3. Die Klägerin des Ausgangsverfahrens hält die Verfassungsbeschwerde für unbegründet.

III.

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an (§ 93b BVerfGG), weil es zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchst. b BVerfGG). Da die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgebliche verfassungsrechtliche Frage bereits entschieden ist und die Verfassungsbeschwerde danach zulässig und offensichtlich begründet ist, kann die Kammer der Verfassungsbeschwerde auch stattgeben (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).

Die angegriffene Entscheidung des Landgerichts verletzt die Beschwerdeführerin in ihren Grundrechten auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes (Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip; vgl. dazu BVerfGE 79, 372 ≪375≫; 85, 337 ≪345≫ m.w.N.) und auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG; vgl. dazu BVerfGE 67, 208 ≪212 f.≫).

1. Wie das Bundesverfassungsgericht schon mehrfach entschieden hat, darf der Zugang zu den Gerichten und den in den Verfahrensordnungen eingeräumten Instanzen nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden (vgl. BVerfGE 69, 381 ≪385≫; st. Rspr.). Das Rechtsinstitut der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand dient unmittelbar dazu, die Rechtsschutzgarantie und das rechtliche Gehör zu gewährleisten. Daher dürfen bei der Auslegung der Vorschriften über die Wiedereinsetzung die Anforderungen daran, was der Betroffene veranlaßt haben und vorbringen muß, um Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu erhalten, nicht überspannt werden (vgl. BVerfGE 40, 88 ≪91≫; 67, 208 ≪212 f.≫; st. Rspr.). So widerspricht es rechtsstaatlicher Verfahrensgestaltung, dem rechtsuchenden Bürger die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand aufgrund von Anforderungen an die Sorgfaltspflichten seines Anwalts zu versagen, die nach höchstrichterlicher Rechtsprechung nicht verlangt werden und mit denen er auch unter Berücksichtigung der Entscheidungspraxis des angerufenen Spruchkörpers nicht zu rechnen brauchte (vgl. BVerfGE 79, 372 ≪376 ff.≫).

2. Diesem verfassungsrechtlichen Maßstab wird die angegriffene Entscheidung nicht gerecht.

a) Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen (vgl. BGH, VersR 1985, S. 455 f.; 1989, S. 166) besteht für einen Rechtsanwalt als Prozeßbevollmächtigten kurz vor Ablauf einer Berufungsbegründungsfrist eine erhöhte Sorgfaltspflicht in bezug auf die Wahrung dieser Frist. Diese Pflicht verletzt der Rechtsanwalt indessen nicht, wenn er einen Boten, der ihm bekannt ist und der sich schon mehrfach in ähnlichen Fällen als zuverlässig erwiesen hatte, damit beauftragt, die Berufungsbegründungsschrift dem Berufungsgericht zu überbringen. Der Rechtsanwalt muß den Boten allerdings eindringlich darauf hinweisen, daß die Übergabe der Schrift an das Berufungsgericht zu dem im Auftrag bezeichneten Zeitpunkt erfolgen müsse, weil dies zur Fristwahrung erforderlich sei.

Sind diese Voraussetzungen erfüllt – wovon das Landgericht im vorliegenden Fall ausgeht –, so muß sich der Prozeßbevollmächtigte nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs nicht ohne besonderen Anlaß bei dem Boten erkundigen, ob der Auftrag ordnungsgemäß ausgeführt worden ist (vgl. BGH, VersR 1985, S. 455 ≪S. 456≫; NJW 1991, S. 1179). Der Rechtsanwalt braucht nach der Auffassung des Bundesgerichtshofs auch keine besonderen Vorkehrungen dagegen zu treffen, daß die Anwaltspost nicht zwischen die Seiten eines Buches (vgl. BGHR, ZPO § 233 Büropersonal 5) oder – wie hier – einer Akte, die der Bote mit sich führt, gerät und deshalb nicht fristgerecht abgeliefert wird.

b) Das Landgericht hat davon abweichend den Prozeßbevollmächtigten der Beschwerdeführerin für verpflichtet angesehen, sich bei dem Boten nach der ordnungsmäßigen Ausführung des Auftrages zu erkundigen. Eine Begründung für diese Abweichung von der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs enthält die angegriffene Entscheidung nicht. Es wird auch nicht dargelegt, daß der strengere Sorgfaltsmaßstab einer ständigen, dem Prozeßbevollmächtigten der Beschwerdeführerin bekannten Entscheidungspraxis der Berufungskammer entsprach. Das genügt nicht den oben dargelegten verfassungsrechtlichen Vorgaben, die das Landgericht bei der Auslegung und Anwendung der §§ 233, 85 Abs. 2 ZPO zu beachten hat.

Zwar ist die Auslegung und Anwendung dieser Vorschriften des Zivilprozeßrechts in erster Linie Aufgabe der dafür allgemein zuständigen Gerichte, hier der Zivilgerichte. Dabei können Instanzgerichte auch von der Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes abweichen, sofern nicht im Einzelfall eine besondere prozeßrechtliche Bindung besteht. Die Instanzgerichte sind also auch grundsätzlich nicht gehindert, bei der Auslegung und Anwendung der Wiedereinsetzungsvorschriften strengere Sorgfaltsmaßstäbe anzulegen als der Bundesgerichtshof. Das Landgericht hat jedoch nicht beachtet, daß diese Meinungsunterschiede nicht zu unvorhersehbaren und daher unzumutbaren Hindernissen für den Zugang zu den in der Prozeßordnung eröffneten Rechtszügen führen dürfen. Grundsätzlich dürfen ein Prozeßbeteiligter und sein Prozeßbevollmächtigter darauf vertrauen, daß bei Beachtung der durch die höchstrichterliche Rechtsprechung konkretisierten Sorgfaltsanforderungen Wiedereinsetzung in eine dennoch versäumte Frist gewährt wird. Auf strengere Sorgfaltsanforderungen müssen sie sich regelmäßig nur dann einstellen, wenn ihnen eine von der höchstrichterlichen Rechtsprechung abweichende Entscheidungspraxis – insbesondere des zur Entscheidung über das Wiedereinsetzungsgesuch berufenen Gerichts – bekannt ist oder sein muß, die sich ihrerseits im Rahmen einer vertretbaren Gesetzesauslegung und -anwendung hält.

Dazu enthält der angegriffene Beschluß des Landgerichts keinerlei Darlegungen, so daß für das Verfassungsbeschwerde- Verfahren davon ausgegangen werden muß, daß der Prozeßbevollmächtigte der Beschwerdeführerin auf die in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs entwickelten Sorgfaltsanforderungen vertrauen und sein Verhalten danach ausrichten durfte. Dann aber durfte es das Landgericht ihm auch von Verfassungs wegen nicht als Verschulden anrechnen, daß er – entsprechend der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs – eine Erkundigung bei dem mit der Überbringung der Berufungsschrift beauftragten Boten nach der ordnungsmäßigen Ausführung des Auftrages unterließ.

3. Da keine Umstände ersichtlich sind, die einen Rückschluß darauf zulassen, daß eine erneute verfassungsgemäße Rechtsanwendung wiederum zum Nachteil der Beschwerdeführerin ausfallen müßte (vgl. dazu BVerfGE 35, 324 ≪344≫; 81, 142 ≪155≫), ist der angegriffene Beschluß aufzuheben und die Sache an das Landgericht zurückzuverweisen (§ 93c Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2 BVerfGG).

Der Beschwerdeführerin sind ihre notwendigen Auslagen gemäß § 34a Abs. 2 BVerfGG zu erstatten.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1518605

NJW 1995, 249

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