Verfahrensgang

Niedersächsisches OVG (Beschluss vom 15.11.2001; Aktenzeichen 11 LA 2756/01)

 

Tenor

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.

 

Tatbestand

I.

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Frage, unter welchen Voraussetzungen personenbezogene Daten, die ihm Rahmen eines Strafverfahrens erhoben worden sind, zu präventivpolizeilichen Zwecken gespeichert werden dürfen.

  • Im März 2000 erteilte das Landeskriminalamt Niedersachsen dem Beschwerdeführer auf dessen Antrag die Auskunft, dass über ihn eine Kriminalakte geführt werde. Neben anderen zwischenzeitlich gelöschten Eintragungen befänden sich in der Akte Merkblätter vom 22. April und 29. Juli 1996 über den Tatverdacht des sexuellen Missbrauchs von Kindern (Herstellung/Verbreitung von so genannten Kinderpornos). Ein Antrag des Beschwerdeführers auf Löschung dieser Eintragungen wurde durch das Landeskriminalamt zurückgewiesen. Nach erfolglosem Widerspruch erhob der Beschwerdeführer Klage vor dem Verwaltungsgericht Hannover. Zur Begründung seines Begehrens trug er vor, dass er nunmehr durch Urteil des Amtsgerichts Schönebeck vom Vorwurf des sexuellen Missbrauchs von Kindern freigesprochen worden sei.

    Das Verwaltungsgericht wies die Klage ab und führte zur Begründung im Wesentlichen aus: § 39 Abs. 3 Satz 1 des Niedersächsischen Gefahrenabwehrgesetzes erlaube die Speicherung im Rahmen der Strafverfolgung rechtmäßig erhobener Daten, wenn dies wegen der Art, Ausführung oder Schwere der Tat sowie der Persönlichkeit des Tatverdächtigen erforderlich sei, um zukünftige vergleichbare Straftaten dieser Person zu verhüten oder für deren Verfolgung vorzusorgen. Auch im Falle eines freisprechenden Urteils könne ein die Speicherung rechtfertigender Tatverdacht fortbestehen. Dieser könne sich insbesondere – wie auch im Falle des Beschwerdeführers – aus den Ausführungen des Strafurteils ergeben. Eine Wiederholungsgefahr sei für den Beschwerdeführer ebenfalls festzustellen. Der sexuelle Missbrauch von Kindern zähle zu den typischen Wiederholungstaten. Ferner sei ein zweites Verfahren wegen sexuellen Missbrauchs des eigenen Sohnes gegen den Beschwerdeführer geführt worden, das durch Beschluss des Amtsgerichts Schönebeck im Jahre 1997 nach § 153a StPO eingestellt worden sei.

    Den Antrag auf Zulassung der Berufung lehnte das Oberverwaltungsgericht durch die angegriffene Entscheidung ab: Die in Rede stehenden Eintragungen verstießen nicht gegen die Unschuldsvermutung. Auch aus der vom Beschwerdeführer angeführten Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte lasse sich Gegenteiliges nicht herleiten. Die Verwertbarkeit rechtmäßig angelegter Kriminalakten zur Verhütung zukünftiger Straftaten sei allgemein anerkannt und widerspreche schon ihrer Zweckrichtung nach nicht Art. 6 Abs. 2 EMRK.

  • Mit der Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer die Verletzung seines Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung, des Gebotes der Unschuldsvermutung und des rechtlichen Gehörs. Nach einem Freispruch verbiete die Unschuldsvermutung jede Annahme eines weiter gehenden Tatverdachts.
 

Entscheidungsgründe

II.

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen. Die Annahmevoraussetzungen des § 93a Abs. 2 BVerfGG liegen nicht vor. Der Verfassungsbeschwerde kommt weder grundsätzliche Bedeutung zu, noch ist ihre Annahme zur Durchsetzung der als verletzt bezeichneten Verfassungsrechte angezeigt. …

  • Soweit der Beschwerdeführer die Verletzung des rechtlichen Gehörs und des informationellen Selbstbestimmungsrechts rügt, ist die Verfassungsbeschwerde bereits unzulässig, weil sie den Begründungsanforderungen des § 92 BVerfGG nicht genügt.
  • Auch im Übrigen bleibt die Verfassungsbeschwerde ohne Aussicht auf Erfolg. Die weitere Speicherung der im Rahmen des Strafverfahrens rechtmäßig erlangten Daten zu polizeilichen Zwecken verletzt Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip nicht. Ein Verstoß gegen das Gebot der Unschuldsvermutung kann nicht festgestellt werden.

    Die Unschuldsvermutung ist eine besondere Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips und hat damit Verfassungsrang. Sie ist kraft Art. 6 Abs. 2 EMRK zugleich Bestandteil des positiven Rechts der Bundesrepublik Deutschland. Die Unschuldsvermutung schützt den Beschuldigten auch vor Nachteilen, die Schuldspruch oder Strafe gleichkommen, denen aber kein rechtsstaatliches prozessordnungsgemäßes Verfahren zur Schuldfeststellung vorausgegangen ist. Die Berücksichtigung und Bewertung von Verdachtsgründen – etwa bei der Auslagenentscheidung nach § 467 Abs. 4 StPO – stellt jedoch keine durch die Unschuldsvermutung verbotene Schuldfeststellung oder -zuweisung dar. Die Feststellung des Tatverdachts ist etwas substantiell anderes als eine Schuldfeststellung. Dieses Ergebnis entspricht auch der Auslegung der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (vgl. EGMR, EuGRZ 1987, S. 399 ≪403 Nr. 63≫ – Lutz), die als Auslegungshilfe bei der Ermittlung der Tragweite des verfassungsrechtlichen Rechtsstaatsgrundsatzes und der daraus abgeleiteten Unschuldsvermutung heranzuziehen ist (vgl. BVerfGE 82, 106 ≪114 und 119 f.≫; stRspr).

    Nach diesen Grundsätzen widerspricht es der Unschuldsvermutung nicht, wenn das beklagte Landeskriminalamt und ihm folgend das Oberverwaltungsgericht einen für die weitere Speicherung erforderlichen Tatverdacht bejahen.

    • Die weitere Speicherung und Verwendung in Strafermittlungsverfahren gewonnener Daten zur Verhütung oder Verfolgung künftiger Straftaten steht der Unschuldsvermutung grundsätzlich auch dann nicht entgegen, wenn der Betroffene rechtskräftig freigesprochen worden ist, sofern die Verdachtsmomente dadurch nicht ausgeräumt sind (vgl. BVerwG, DÖV 1973, S. 752 f. zur Aufbewahrung erkennungsdienstlicher Unterlagen; BVerwGE 66, 202 ≪205≫ zur Aufbewahrung nach Verfahrenseinstellung; ebenso BVerwG, DÖV 1990, S. 117; Bäumler, Polizeiliche Informationsverarbeitung, in: Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts, 3. Aufl. 2001, Rn. 547 f. und 673 f.). Gleiches gilt, wenn das Strafverfahren aus anderen Gründen beendet worden ist (vgl. Rachor, Vorbeugende Straftatenbekämpfung und Kriminalakten, 1989, S. 90 ff.). Die Vermutung der Unschuld gilt bis zu einem etwaigen richterlichen Schuldspruch. Kommt es nicht dazu, gilt sie fort. Bei der Verfahrensbeendigung durch Einstellung nach § 153 ff. StPO oder bei einem Freispruch, der ausweislich der Gründe aus Mangel an Beweisen erfolgt, ist der Straftatverdacht nicht notwendig ausgeräumt. Darf er Grundlage für Maßnahmen der weiteren Datenspeicherung sein, so steht die Unschuldsvermutung als solche dem nicht entgegen.

      Gegenteiliges lässt sich auch aus der vom Beschwerdeführer angeführten Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im Fall Sekanina (ÖJZ 1993, S. 816 ff.) nicht entnehmen. Der Gerichtshof stellt dort fest, dass es nicht mehr zulässig sei, Feststellungen zur Schuld auf Verdächtigungen zu stützen, sobald ein Freispruch rechtskräftig geworden sei. Im Fall Sekanina hatten die Ausgangsgerichte, die über einen Entschädigungsanspruch zu entscheiden hatten, trotz des Freispruchs eine eigene Beurteilung der Schuld vorgenommen. Dies wurde als Verletzung der Unschuldsvermutung bewertet. Die Frage, ob trotz Freispruchs Anhaltspunkte für einen Tatverdacht und für eine Wiederholungsgefahr bestehen können, stand nicht zur Entscheidung.

      Die weitere Aufbewahrung und Verwendung von Daten aus Strafverfahren zur vorbeugenden Straftatenbekämpfung stellt auch keinen Nachteil des Beschwerdeführers dar, der einem Schuldspruch oder einer Strafe gleichkäme. In ihren Voraussetzungen sind diese Maßnahmen von einem fortbestehenden Tatverdacht, nicht aber von einer Schuldfeststellung abhängig. Auch ist die Datenspeicherung in den Kriminalakten von ihren faktischen Wirkungen her nicht mit einer Strafsanktion zu vergleichen und dient anderen Zwecken, nämlich der vorbeugenden Straftatenbekämpfung. Ferner fehlt ihr die einem Strafurteil zukommende Publizitätswirkung.

    • Die Feststellung, dass die Unschuldsvermutung eine Speicherung von Daten aus Strafermittlungsverfahren auch nach rechtskräftigem Freispruch nicht grundsätzlich verbietet, führt andererseits nicht dazu, dass der Freispruch keine Auswirkungen auf die Entscheidung über die Aufrechterhaltung der Speicherung hat. Vielmehr ist er bei der Prüfung zu berücksichtigen, ob die gesetzlichen Voraussetzungen der Datenspeicherung erfüllt sind und sie im konkreten Fall dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Rechnung trägt.

      Eine unverzichtbare Voraussetzung der Speicherung ist nach § 39 Abs. 3 Satz 1 des Niedersächsischen Gefahrenabwehrgesetzes der Straftatverdacht. Im Falle eines Freispruchs oder der Verfahrenseinstellung bedarf es daher der Überprüfung, ob noch Verdachtsmomente gegen den Betroffenen bestehen, die eine Fortdauer der Speicherung zur präventiv-polizeilichen Verbrechensbekämpfung rechtfertigen. Weitere Voraussetzung der Datenspeicherung ist eine Wiederholungsgefahr. Deren Feststellung ist einer schematischen Betrachtung nicht zugänglich, sondern bedarf der eingehenden Würdigung aller hierfür relevanten Umstände des Einzelfalls unter Berücksichtigung der Gründe für den Freispruch.

    • Diesen Maßstäben wird die angegriffene Entscheidung gerecht.

      Gegen die fachgerichtliche Feststellung eines trotz Freispruchs fortbestehenden Tatverdachts ist von Verfassungs wegen nichts zu erinnern. Verwaltungsgericht und Oberverwaltungsgericht sind zutreffend davon ausgegangen, dass ein freisprechendes Strafurteil allein die weitere Datenspeicherung zum Zwecke präventiver Verbrechensbekämpfung nicht ausschließt. Sie haben indes auch nicht außer Acht gelassen, dass es nach einem Freispruch für die Annahme eines fortbestehenden Tatverdachts besonderer, von der speichernden Polizeibehörde darzulegender Anhaltspunkte bedarf, die sich insbesondere aus den Gründen des freisprechenden strafgerichtlichen Urteils selbst ergeben können. Nach der angegriffenen Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts sind die ursprünglich gegen den Beschwerdeführer bestehenden Verdachtsmomente durch das freisprechende Strafurteil nicht ausgeräumt worden. Aus den Gründen des Strafurteils ergebe sich vielmehr, dass der Freispruch aus Mangel an Beweisen erfolgt sei. Der Zeuge habe seine belastenden Aussagen vor der Polizei in der Hauptverhandlung nicht wiederholt und diese Aussagen hätten wegen unzureichender Zeugenbelehrung nicht verwertet werden können. Dass das Oberverwaltungsgericht angesichts der Ausführungen des Strafgerichts zur Feststellung eines für die Datenspeicherung erforderlichen Tatverdachts gelangt, ist danach verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.

      Es begegnet ferner keinen verfassungsrechtlichen Bedenken, dass das Oberverwaltungsgericht von einer hinreichenden Wiederholungsgefahr ausgegangen ist. Art und Schwere der vorgeworfenen Straftat sind dabei angemessen berücksichtigt worden. Auch der Umstand, dass gegen den Beschwerdeführer innerhalb eines kürzeren Zeitraums wegen eines weiteren Verdachts des sexuellen Missbrauchs ermittelt und das Verfahren gegen Zahlung eines Geldbetrages nach § 153a StPO vorläufig eingestellt worden ist, stellt einen verfassungsrechtlich tragfähigen Gesichtspunkt bei der fachgerichtlichen Beurteilung der Wiederholungsgefahr dar.

      Angesichts des verbleibenden Straftatverdachts und der Intensität der Wiederholungsgefahr entspricht die weitere Speicherung der Daten auch dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne.

      Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

 

Unterschriften

Papier, Steiner, Hoffmann-Riem

 

Fundstellen

Haufe-Index 875004

NJW 2002, 3231

NVwZ 2003, 862

JurBüro 2002, 614

wistra 2002, 380

DSB 2002, 15

DuD 2002, 567

NJ 2002, 409

VR 2003, 252

DVBl. 2002, 1110

Kriminalistik 2003, 84

NPA 2002, 0

StV 2002, 577

Polizei 2002, 294

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