Entscheidungsstichwort (Thema)

Rechtliches Gehör auch bei Wiedereinsetzung in den vorigen Stand

 

Leitsatz (amtlich)

Zur Verletzung rechtlichen Gehörs im Wiedereinsetzungsverfahren.

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Gerichte dürfen die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht mit der Begründung versagen, der Betroffene habe „nach Sachlage” oder „erfahrungsgemäß” mit einer Verzögerung der Postsendung rechnen müssen. Vielmehr ist bei Zweifeln eine Auskunft der Deutschen Bundespost darüber vorzulegen oder von Amts wegen einzuholen, wie lange die Postlaufzeit nach deren organisatorischen und betrieblichen Vorkehrungen bemessen ist.

2. Kann sich der Rechtsmittelführer (Antragsteller) zur etwaigen Unvollständigkeit dieser Auskunft nicht äußern, da er im Ausgangsverfahren weder von der Einholung der Auskunft unterrichtet worden ist noch Gelegenheit erhalten hat, zu deren Inhalt Stellung zu nehmen, liegt darin ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG.

 

Normenkette

GG Art. 103 Abs. 1; OWiG § 52; StPO § 44

 

Verfahrensgang

LG Gießen (Beschluss vom 08.03.1979; Aktenzeichen 7 QS 137/79)

AG Gießen (Beschluss vom 30.01.1979; Aktenzeichen 52 OWi 15 Js 18636/78)

 

Tenor

Der Beschluß des Amtsgerichts Lahn-Gießen vom 30. Januar 1979 – 52 OWi 15 Js 18636/78 – und der Beschluß des Landgerichts Lahn-Gießen vom 8. März 1979 – 7 Qs 137/79 – verletzen Artikel 19 Absatz 4 und Artikel 103 Absatz 1 des Grundgesetzes. Sie werden aufgehoben. Die Sache wird an das Amtsgericht Gießen zurückverwiesen.

Das Land Hessen hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.

 

Gründe

I.

1. Dem Beschwerdeführer wurde am 14. Oktober 1978 wegen einer Verkehrsordnungswidrigkeit ein Bußgeldbescheid über 60 DM zugestellt. Mit Schreiben vom 20. Oktober 1978, das ausweislich des Eingangsstempels des Regierungspräsidenten in Kassel am 24. Oktober 1978 (Dienstag) einen Tag nach Ablauf der Einspruchsfrist bei der Verwaltungsbehörde einging, legte er Einspruch ein. Auf einen Hinweis des Gerichts beantragte der Beschwerdeführer fristgerecht wegen der Versäumung der Einspruchsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Diesen Antrag begründete er unter Darlegung von Einzelheiten über die Anfertigung des Einspruchsschreibens und der näheren Umstände der Aufgabe zur Post damit, er habe sich am 22. Oktober 1978 zu Besuch bei seiner Mutter in Weilburg/Lahn aufgehalten und das Einspruchsschreiben zusammen mit anderen Briefen vor der Mittagsleerung in den Briefkasten am Postamt Weilburg eingeworfen. Er sei sicher, das Schreiben vor der sonntäglichen Mittagsleerung, die um 12.00 Uhr stattfinde, eingeliefert zu haben. Er entsinne sich, daß er sich vor dem Einwurf über die Leerungszeiten vergewissert habe. Bei normalem Postverlauf werde eine Briefsendung, die in Weilburg am Postamt vor der letzten Leerung eingeworfen werde, am nächsten Vormittag in Kassel zugestellt. Er wisse das aus eigener Erfahrung, da er seit 19 Jahren in Kassel lebe und seitdem mit seinen in Weilburg lebenden Angehörigen korrespondiere. Zur Glaubhaftmachung berief sich der Beschwerdeführer auf den Poststempel des Briefumschlags. Dieser befindet sich bei den Akten. Er ist mit zwei Poststempeln versehen, auf denen das Datum des 22. Oktober zu erkennen ist. Das Postamt Weilburg teilte der Staatsanwaltschaft auf Anfrage mit, daß ein am Sonntag (22. 10. 1978) in Weilburg bis 12.00 Uhr am Hausbriefkasten des Postamtes eingelieferter gewöhnlicher Brief am Montag in Kassel zur Zustellung oder Abholung vorliege. Diese Auskunft wurde dem Beschwerdeführer nicht zur Kenntnis gegeben. Das Amtsgericht wies ihn jedoch darauf hin, daß der Poststempel selbst unleserlich sei und gab ihm Gelegenheit, glaubhaft zu machen, daß die Aufgabe des Einspruchsschreibens zur Post am 22. Oktober 1978 vor 12.00 Uhr erfolgt sei. Der Beschwerdeführer ergänzte sein Gesuch innerhalb der ihm gesetzten Frist nicht. Der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen der Versäumung der Einspruchsfrist wurde daraufhin durch Beschluß des Amtsgerichts Lahn-Gießen vom 30. Januar 1979 verworfen, weil der Poststempel unleserlich sei und der Beschwerdeführer es unterlassen habe, sein Vorbringen ausreichend glaubhaft zu machen.

Der Beschwerdeführer legte fristgerecht sofortige Beschwerde ein, mit der er geltend machte, durch den unleserlichen Poststempel unverschuldet in Beweisnot geraten zu sein. Enthalte der Stempel das Datum des 22. Oktober 1978, so sei damit bewiesen, daß der Brief mit dem Einspruchsschreiben an diesem Tag vor der letzten Leerung zur Post gegeben worden sei. Er vermöge keine weiteren Mittel zur Glaubhaftmachung beizubringen. Der Einwurf in den Briefkasten sei zwar in Gegenwart einer Verwandten erfolgt. Diese habe jedoch nicht gewußt, an wen er die von ihm eingeworfenen Briefe adressiert gehabt habe. Unter diesen Umständen müsse seine eigene schlichte Versicherung genügen.

Die sofortige Beschwerde wurde durch Beschluß des Landgerichts Lahn-Gießen vom 8. März 1979 aus den im Ergebnis zutreffenden Gründen der angefochtenen Entscheidung verworfen, weil der Wiedereinsetzungsgrund nicht glaubhaft gemacht worden sei. Das Landgericht führte u. a. aus, daß der Poststempel jedenfalls bezüglich der Uhrzeit nicht leserlich sei und weitere Angaben zur Glaubhaftmachung fehlten. Die Glaubhaftmachung erfordere ihrem Wesen nach grundsätzlich mehr als eine schlichte Erklärung des Betroffenen. In besonderen Ausnahmefällen könne die schlichte Erklärung genügen, wenn es sich z. B. um einen ausgesprochen naheliegenden, der Lebenserfahrung entsprechenden Hinderungsgrund handele, auch wenn die Einzelheiten der Fertigung und des Einwurfs des Einspruchsschreibens in den Briefkasten geschildert würden. Ein solcher Fall liege hier jedoch nicht vor. Habe der Beschwerdeführer das Einspruchsschreiben erst nach 12.00 Uhr im Verlauf des Sonntags eingeworfen, so treffe ihn ein Verschulden, denn dann habe er nicht auf einen rechtzeitigen Eingang vertrauen dürfen. Er habe zumindest bei einem Einwurf an einem Sonntag, an dem die Leerungen der Briefkästen seltener als gewöhnlich stattfänden und wegen des Wochenenddienstes der Postbeamten nicht mit einer Sammlung und Weiterbeförderung der Briefe wie an Werktagen zu rechnen sei, nicht auf einen Eingang des Briefes am folgenden Montag bei der zuständigen Behörde vertrauen können.

2. Mit der fristgerecht eingegangenen Verfassungsbeschwerde, die sich gegen die Beschlüsse des Amts- und Landgerichts richtet, rügt der Beschwerdeführer die Verletzung von Art. 19 Abs. 4 und Art. 103 Abs. 1 GG. Die Gerichte hätten seine eigene schlichte Erklärung als ausreichende Glaubhaftmachung ansehen müssen. Er habe in seinen Schriftsätzen hinreichend klar zum Ausdruck gebracht, daß die letzte Leerung am Sonntag um 12.00 Uhr erfolge. Nach dem Hinweis des Amtsgerichts habe er annehmen müssen, daß der gesamte Poststempel unleserlich sei. Hätten ihn das Amtsgericht oder das Landgericht darauf hingewiesen, daß die Zweifel nicht den Tag des Einwurfs, sondern die genaue Einwurfszeit betrafen und damit zu erkennen gegeben, daß sie eine spätere Leerung am 22. Oktober 1978 für möglich hielten, so hätte er mit Sicherheit klargestellt, daß eine solche Leerung nicht stattfinde und ein Poststempel mit dem Datum „22. 10. 78” einen Einwurf des Briefes vor 12.00 Uhr beweise.

3. Das Bundesverfassungsgericht hat eine ergänzende Auskunft des Postamtes Weilburg eingeholt. Danach sind Briefsendungen, die am 22. Oktober 1978 bis 12.00 Uhr am Hausbriefkasten des Postamtes Weilburg eingeliefert wurden, mit der Tagesangabe vom 22. Oktober 1978 – 13.00 Uhr – gestempelt worden.

Dagegen tragen die am gleichen Tage in der Zeit von 12.00 bis 24.00 Uhr in den Hausbriefkästen eingeworfenen Briefsendungen den Tagesstempel vom 23. Oktober 1978 – 6.00 Uhr –. Der Briefkasten am Postgebäude wird sonntags um 12.00 Uhr letztmalig geleert.

4. Der Hessische Ministerpräsident, dem Gelegenheit zur Äußerung gegeben worden ist, hält die Verfassungsbeschwerde für zulässig und begründet.

II.

Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und begründet.

Wird die Einspruchsfrist gegen einen Bußgeldbescheid versäumt, so hängt die Verwirklichung der verfassungsrechtlichen Rechtsschutzgarantien des Art. 19 Abs. 4 und des Art. 103 Abs. 1 GG davon ab, daß dem Betroffenen Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 52 OWiG i.V.m. §§ 44 ff. StPO gewährt wird. In diesen Fällen des „ersten Zugangs” zum Gericht dient das Rechtsinstitut der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand mithin unmittelbar der Verwirklichung verfassungsrechtlich verbürgter Rechtsschutzgarantien. Deshalb dürfen in diesem Zusammenhang bei der Anwendung und Auslegung der für die Wiedereinsetzung maßgeblichen prozeßrechtlichen Vorschriften die Anforderungen daran nicht überspannt werden, was der Betroffene veranlaßt haben und vorbringen muß, um nach einer Fristversäumung die Wiedereinsetzung zu erhalten (BVerfGE 38, 35 (38); 40, 88 (91); ständige Rechtsprechung). Das Bundesverfassungsgericht hat in Anwendung dieser Grundsätze mehrfach entschieden, daß im Rahmen der verfahrensrechtlichen Vorschriften über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand dem Bürger Verzögerungen der Briefbeförderung oder -zustellung durch die Deutsche Bundespost nicht als Verschulden angerechnet werden dürfen. Versagen die Vorkehrungen der Deutschen Bundespost, so hat das der Bürger, der darauf keinen Einfluß hat, unter dem Blickpunkt seines Rechts auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht zu vertreten (vgl. BVerfGE 40, 42 (45); 41, 23 (25); ständige Rechtsprechung, zuletzt Beschluß vom 5. Februar 1980 – 2 BvR 914/79 –). Differenzierungen danach, ob die Verzögerung auf einer zeitweise besonders starken Beanspruchung der Leistungsfähigkeit der Post (z. B. vor Feiertagen), auf einer verminderten Dienstleistung der Post (z. B. an Wochenenden) oder auf der Nachlässigkeit eines Bediensteten beruht, sind unzulässig. Von Verfassungs wegen ist es erforderlich, alle Fälle, in denen sich der Bürger zur Durchsetzung seines Rechts den Diensten der Deutschen Bundespost anvertraut, gleich zu behandeln (BVerfGE 41, 23 (27); 44, 302 (307); BVerfG, Beschluß vom 4. Dezember 1979 – 2 BvR 376/77 – Umdruck S. 6).

Diesen Maßstäben genügen die angegriffenen Entscheidungen nicht. Der Beschwerdeführer hatte bereits in seinem Wiedereinsetzungsgesuch vorgetragen, daß er das Einspruchsschreiben am 22. Oktober 1978 vor 12.00 Uhr in den Briefkasten am Postamt in Weilburg eingeworfen habe. Er hatte ferner darauf hingewiesen, aus langjähriger eigener Erfahrung zu wissen, daß Briefsendungen, die beim Postamt Weilburg vor der letzten Leerung eingeworfen würden, am nächsten Tag Kassel erreichten. Da das Datum des Poststempels deutlich lesbar war, wovon offenbar auch das Landgericht ausgegangen ist, stand fest, daß das Einspruchsschreiben am 22. Oktober 1978 noch vor der letzten Leerung des Briefkastens eingeworfen worden war. Bei dieser Sachlage durften die Gerichte des Ausgangsverfahrens die Entscheidung nicht davon abhängig machen, ob der Einwurf des Einspruchsschreibens vor 12.00 Uhr in den Briefkasten des Postamts Weilburg glaubhaft gemacht worden war. Denn der Beschwerdeführer hatte von Anfang an geltend gemacht, daß alle vor der letzten Leerung eingeworfenen Briefsendungen am nächsten Tag in Kassel zugestellt würden. Er hatte es nicht zu vertreten, daß das Postamt Weilburg in seiner auf Veranlassung des Amtsgerichts eingeholten Auskunft nichts darüber mitgeteilt hatte, welchen Poststempel nach 12.00 Uhr eingeworfene Schriftstücke an Sonntagen erhalten und wann diese ihren Empfänger bei normalem Postverlauf erreichen. Zur Unvollständigkeit dieser Auskunft konnte sich der Beschwerdeführer nicht äußern, da er im Ausgangsverfahren weder von der Einholung der Auskunft unterrichtet worden ist noch Gelegenheit erhalten hat, zu deren Inhalt Stellung zu nehmen. Darin liegt ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG.

Wenn die Gerichte es hier trotz der geringen Entfernung zwischen Weilburg und Kassel für möglich hielten, daß ein am Sonntag nach 12.00 Uhr eingeworfener Brief den Empfänger in Kassel bei normaler Postlaufzeit nicht mehr erreicht, so hätten sie sich in Anbetracht der besonderen Umstände dieses Falles – nachdem die erste Auskunft von der Deutschen Bundespost von Amts wegen eingeholt worden war – darüber durch eine ergänzende Auskunft der Deutschen Bundespost vergewissern müssen. Das Bundesverfassungsgericht hat bereits in einer früheren Entscheidung klargestellt, daß die Gerichte die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht mit der Begründung versagen dürfen, der Betroffene habe „nach Sachlage” oder „erfahrungsgemäß” mit einer Verzögerung der Sendung rechnen müssen. Vielmehr ist bei Zweifeln eine Auskunft der Deutschen Bundespost darüber vorzulegen oder von Amts wegen einzuholen, wie lange die Postlaufzeit nach deren organisatorischen und betrieblichen Vorkehrungen bemessen ist (BVerfGE 41, 23 (28)).

Die angegriffenen Beschlüsse beruhen auf dem Verfassungsverstoß. Sie waren deshalb aufzuheben; die Sache war an das Amtsgericht Gießen zurückzuverweisen (§ 95 Abs. 2 BVerfGG).

Die Entscheidung über die Erstattung der Auslagen beruht auf § 34 Abs. 4 BVerfGG.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1611100

BVerfGE, 80

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