Entscheidungsstichwort (Thema)

Willkürverbot

 

Leitsatz (amtlich)

Es verstößt gegen das verfassungsrechtliche Willkürverbot, dem gemäß § 554 BGB kündigenden Vermieter den Räumungsanspruch mit der Begründung zu versagen, er müsse den rückständigen Mietzins zuvor in einem gesonderten gerichtlichen Verfahren gegen den Mieter geltend machen.

 

Orientierungssatz

1. Nach BGB § 554 soll der Mieter im Falle einer Mietminderung gerade nicht stets den Ausgang einer zuvor zu erhebenden Zahlungsklage abwarten dürfen, ohne eine fristlose Kündigung befürchten zu müssen; sein Interesse ist dadurch gewahrt, daß ihm erst im Falle des Verzuges, dh bei verschuldeter (BGB § 285) Unkenntnis über die Höhe des Mietzinses oder der Minderungsbefugnis, fristlos gekündigt werden darf.

2. Ein Verstoß gegen das Willkürverbot liegt nicht schon bei fehlerhafter Rechtsanwendung, sondern erst bei einer unter keinem rechtlichen Aspekt mehr vertretbaren Rechtsanwendung, für die sich der Schluß sachfremder Erwägungen aufdrängt, vor; Willkür ist im objektiven Sinne zu verstehen als eine Maßnahme, welche im Verhältnis zu der Situation, der sie Herr werden will, tatsächlich und eindeutig unangemessen ist (vgl BVerfG, 1982-11-03, 1 BvR 710/82, BVerfGE 62, 189 ≪192≫).

 

Normenkette

GG Art. 3 Abs. 1; BGB §§ 285, 554 Abs. 1 S. 2, Abs. 2 Nr. 2 S. 1; MietHöReglG § 9 Abs. 2

 

Verfahrensgang

LG Konstanz (Urteil vom 09.09.1988; Aktenzeichen 1 S 113/88)

 

Tenor

Das Urteil des Landgerichts Konstanz vom 9. September 1988 – 1 S 113/88 – verletzt das Grundrecht der Beschwerdeführerin aus Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes, soweit ihre Räumungsklage abgewiesen worden ist. In diesem Umfang wird es aufgehoben und die Sache an das Landgericht zurückverwiesen.

Das Land Baden-Württemberg hat der Beschwerdeführerin die notwendigen Auslagen zu erstatten.

 

Tatbestand

Die Verfassungsbeschwerde betrifft ein auf § 554 BGB gestütztes Räumungsbegehren.

I.

Die Beschwerdeführerin ist Vermieterin einer Wohnung, welche seit 1982 von der Beklagten des Ausgangsverfahrens bewohnt wird. Von November 1984 bis Februar 1987 und von Mai bis September 1987 zahlte diese nur einen Teil der vereinbarten Miete. Sie begründete das mit zahlreichen Mängeln, welche sie zur Minderung des Mietzinses berechtigten; wegen verschiedener Schadenspositionen habe sie wirksam aufgerechnet.

Im Juli 1986 kündigte die Beschwerdeführerin das Mietverhältnis fristlos wegen Zahlungsverzuges und verlangte 13513,87 DM rückständigen Mietzins sowie Räumung. Das Amtsgericht verurteilte die Beklagte im wesentlichen antragsgemäß. Sie sei wegen unstreitig vorenthaltenen Gebrauchs des Trockenraumes lediglich berechtigt gewesen, den Mietzins in Höhe von 2,5 vom Hundert zu mindern. Die weitergehenden Gegenrechte seien teils zu unsubstantiiert dargetan worden, teils sei die Beklagte hierfür beweisfällig geblieben, weil sie den Kostenvorschuß für die Einholung eines Sachverständigen-Gutachtens nicht eingezahlt habe.

Die Berufung der Beklagten war erfolgreich, soweit sie sich gegen die Verurteilung zur Räumung richtete. Die Gründe der angegriffenen Entscheidung lauten:

„Wegen der Darstellung des Tatbestandes wird auf das Urteil des Amtsgerichts Überlingen vom 15.3.1988 Bezug genommen.

Bezüglich der Entscheidungsgründe wird auf den Beschluß der Kammer über die Prozeßkostenhilfe vom 22.8.1988 Bezug genommen.”

Der dabei in Bezug genommene Beschluß war den Parteien am Tage der mündlichen Verhandlung zugegangen und lautet in den hier maßgeblichen Teilen:

„Soweit sich die Beklagte gegen die Verurteilung zur Räumung der Wohnung wendet, ist ihre Berufung hinreichend erfolgversprechend. Nach der Rechtsprechung der Kammer sind Auseinandersetzungen über die Berechtigung einer Mietzinsminderung im Forderungsprozeß und nicht im Räumungsprozeß auszufechten. Eine Kündigung wegen Zahlungsverzuges ist in diesen Fällen erst dann gerechtfertigt, wenn auf eine entsprechende Verurteilung nicht bezahlt wird.”

 

Entscheidungsgründe

II.

1. Die Beschwerdeführerin rügt die Verletzung von Art. 3 Abs. 1 GG. Von § 543 Abs. 1 ZPO sei Gebrauch gemacht worden, obwohl dessen Voraussetzungen nicht vorgelegen hätten. Der § 554 BGB sei in willkürlicher Weise angewandt worden. Sie habe auf Absatz 1 Satz 2 dieser Vorschrift hingewiesen. Hierauf sei das Landgericht mit keinem Wort eingegangen. Die Entscheidung sei daher nicht nachzuvollziehen und verletze zugleich Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG, denn § 554 BGB diene dazu, die grundgesetzlich garantierten Nutzungsmöglichkeiten wiederherzustellen oder zu erhalten. Das Landgericht mute ihr demgegenüber zu, über zwei Instanzen einen zahlungsunwilligen Mieter zu ertragen.

2.a) Das Land Baden-Württemberg hält die Verfassungsbeschwerde für unbegründet. Die Rechtsauffassung des Landgerichts sei einfachrechtlich zwar zweifelhaft. Sie sei jedoch nicht willkürlich und lasse auch keine grundsätzliche Verkennung von Bedeutung und Tragweite der Eigentumsgarantie erkennen.

b) Die Beklagte des Ausgangsverfahrens hält die Verfassungsbeschwerde gleichfalls für unbegründet. Das Landgericht habe allein ihre Grundrechte verletzt, weil es die Zahlungsklage habe durchgreifen lassen.

III.

Die Verfassungsbeschwerde ist begründet. Das Urteil des Landgerichts verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Art. 3 Abs. 1 GG.

Gegen den Gleichheitssatz wird nicht bereits dann verstoßen, wenn die angegriffene Rechtsanwendung oder das dazu eingeschlagene Verfahren fehlerhaft sind. Hinzu kommen muß vielmehr, daß Rechtsanwendung oder Verfahren unter keinem denkbaren Aspekt mehr rechtlich vertretbar sind und sich daher der Schluß aufdrängt, daß die Entscheidung auf sachfremden und damit willkürlichen Erwägungen beruht (BVerfGE 4, 1 [7]). Dabei enthält die Feststellung von Willkür keinen subjektiven Schuldvorwurf. Willkür ist im objektiven Sinne zu verstehen als eine Maßnahme, welche im Verhältnis zu der Situation, der sie Herr werden will, tatsächlich und eindeutig unangemessen ist (vgl. BVerfGE 62, 189 [192]). Diese Voraussetzungen liegen hier vor.

Nach Auffassung des Landgerichts hat der Vermieter stets und ohne Ausnahme Streitigkeiten über die Höhe des Mietzinses im Forderungsprozeß auszutragen, bevor er wegen der zwischenzeitlich aufgelaufenen Zahlungsrückstände kündigen darf. Diese Rechtsauffassung findet im Gesetzeswortlaut keine Stütze. § 554 BGB knüpft die außerordentliche Kündigungsbefugnis des Vermieters allein daran, daß der Mieter mit der Zahlung des Mietzinses in Verzug geraten ist. Des weiteren hängt die Wirksamkeit der Kündigung davon ab, ob der Zahlungsverzug bis zu bestimmten Zeitpunkten (§ 554 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 Nr. 2 Satz 1 BGB) noch andauert. Daß darüber hinaus ein rechtskräftiger Titel über den rückständigen Mietzins vorliegen muß, wird nirgends angeordnet. Eine Verbindung zwischen Mietzinsminderzahlung und Gerichtsverfahren wird für Wohnraummietverhältnisse lediglich in § 554 Abs. 2 Nr. 2 Satz 1 BGB hergestellt. Darin wird dem Mieter nur die Rechtswohltat eingeräumt, die Wirksamkeit der Kündigung durch Zahlung der (nicht titulierten) Mietrückstände innerhalb einer letzten Karenzfrist zu beseitigen. Anspruch auf einen darüber hinausgehenden Schutz, wie ihn das Landgericht jedem mindernden Mieter ohne jede Rücksicht auf die Berechtigung der Minderung gewährt, hat der Mieter – wie ein Vergleich mit § 9 Abs. 2 MHG oder etwa § 771 BGB zeigt – nach § 554 BGB gerade nicht.

Die Praxis des Landgerichts ist auch angesichts des eindeutigen Zwecks des § 554 BGB und der Gesetzessystematik nicht mehr verständlich. Der Gesetzgeber hat den Konflikt zwischen den berechtigten Interessen des Vermieters und den Erfordernissen des Mieterschutzes gesehen. Dieser besteht darin, daß – einerseits – der Vermieter schon wegen der Lasten der Mietsache auf die pünktliche Zahlung des Mietzinses im Regelfall angewiesen ist und daher Schutz gegen Zahlungsunfähigkeit oder -unwilligkeit des Mieters verdient. Andererseits soll dieser durch § 554 BGB nicht abgehalten werden, berechtigte Gegenansprüche zu stellen oder Minderungsrechte wahrzunehmen. Der Gesetzgeber hat diesen Konflikt bei der Novellierung des § 554 BGB (Art. I Nr. 1 des Ersten Gesetzes zur Änderung mietrechtlicher Vorschriften vom 29. Juli 1963, BGBl. I S. 505) eindeutig anders regeln wollen als das Landgericht meint (s. BTDrucks. IV/806, S. 10). Der Mieter sollte gerade nicht im Falle einer Mietminderung stets den Ausgang einer zuvor zu erhebenden Zahlungsklage abwarten dürfen, ohne eine fristlose Kündigung befürchten zu müssen. Seinem Interesse wurde der Gesetzgeber vielmehr dadurch gerecht, daß ihm erst im Falle des Verzuges, d.h. bei verschuldeter (§ 285 BGB) Unkenntnis über die Höhe des Mietzinses oder der Minderungsbefugnis, fristlos gekündigt werden darf. Dies erhält dem Mieter die Möglichkeit, Gegenrechte ohne Furcht vor Kündigung geltend zu machen, wenn er von ihrer Berechtigung überzeugt sein darf, und bewahrt den Vermieter zugleich vor dem weiteren Verbleib eines zahlungsunfähigen oder unwilligen Mieters.

Die Auffassung des Landgerichts ist schließlich auch deshalb sachwidrig und damit willkürlich, weil sie dem Vermieter ohne zureichenden Grund den Zugang zum Gericht verwehrt. Das Gesetz hindert den Vermieter lediglich, eine erhobene Räumungsklage durchzuführen, wenn der Mieter innerhalb eines Monats nach ihrer Zustellung (Eintritt der Rechtshängigkeit) den fälligen Mietzins und die fälligen Entschädigungen nach § 557 Abs. 1 Satz 1 BGB zahlt oder eine öffentliche Stelle veranlaßt, sich zur Befriedigung dieser Vermieterforderungen zu verpflichten (§ 554 Abs. 2 Nr. 2 BGB). Die Auffassung des Landgerichts führt demgegenüber dazu, daß der Vermieter – unabhängig von der Berechtigung, mit welcher der Mieter Gegenrechte geltend macht oder mindert – überhaupt keine Räumungsklage, sondern nur eine Zahlungsklage erheben kann. Eine gleichwohl erhobene Räumungsklage wäre zwar zulässig, eine Sachprüfung würde ihm jedoch zunächst verweigert.

Die angegriffene Praxis widerspricht daher nicht nur eindeutig dem Gesetzeswortlaut. Sie führt darüber hinaus zu einer nach Sinn und Zweck der gesetzlichen Regelung unangemessenen Lösung des Konflikts zwischen den Mietparteien, wie gerade der Ausgangsfall besonders anschaulich macht, in welchem die Mieterin durch die Berufungsinstanz gleichzeitig mit der Abweisung der Räumungsklage rechtskräftig zur Zahlung von 12251,91 DM nebst Zinsen verurteilt worden ist. Sie schützt den Mieter ohne jede Rücksicht darauf, ob er seinen Rechtsstandpunkt mit einiger Berechtigung hat einnehmen dürfen. Zugleich zwingt sie den Vermieter, unter Umständen ohne jede Aussicht auf eine erfolgreiche Vollstreckung eine Zahlungsklage zu führen, den zahlungsunfähigen Mieter solange zu dulden und den zwischenzeitlich entstehenden weiteren finanziellen Ausfall allein zu tragen. Der darin liegende Widerspruch zum klaren Regelungssystem des Gesetzes entbehrt jeder Grundlage.

IV.

Das Urteil muß deshalb nach § 95 Abs. 2 BVerfGG aufgehoben werden, soweit der Berufung der Beklagten darin stattgegeben worden ist, und die Sache an das Landgericht zurückverwiesen werden.

 

Unterschriften

gez. Herzog, Niemeyer, Henschel, Seidl, Grimm, Söllner, Dieterich

 

Fundstellen

Haufe-Index 1074954

BVerfGE 80, 48

BVerfGE, 48

NJW 1989, 1917

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