Entscheidungsstichwort (Thema)

Rechtliches Gehör bei Wiedereinsetzung in den vorigen Stand

 

Leitsatz (amtlich)

Zur Verletzung des rechtlichen Gehörs im Wiedereinsetzungsverfahren.

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Die Verfassungsbeschwerde ist gegen solche Entscheidungen in selbständigen Zwischenverfahren zugelassen, die über eine für das weitere Verfahren wesentliche Rechtsfrage befinden und in weiteren Instanzen nicht mehr nachgeprüft und korrigiert werden können, hierzu gehört auch der Beschluß in einem Wiedereinsetzungsverfahren.

2. Ein Gericht verletzt den Grundsatz des rechtlichen Gehörs, wenn es einer Partei auf ihre Angaben hin Wiedereinsetzung gewährt, ohne vorher die Gegenpartei hierzu gehört zu haben.

 

Normenkette

GG Art. 103 Abs. 1; ZPO §§ 233, 283 Abs. 3

 

Verfahrensgang

AG Mülheim a.d. Ruhr (Beschluss vom 16.07.1979; Aktenzeichen 10 C 171/79)

 

Gründe

I.

1. Die Beschwerdeführerin erwirkte gegen den Beklagten des Ausgangsverfahrens einen Mahnbescheid des Amtsgerichts Mülheim an der Ruhr über eine zivilrechtliche Hauptforderung von 1.880,92 DM. Der Mahnbescheid wurde dem Beklagten an seinem Wohnsitz in W. durch Übergabe zugestellt. Auf den Widerspruch des Beklagten beraumte das Amtsgericht antragsgemäß Termin zur mündlichen Verhandlung an und lud den Beklagten durch Niederlegung bei der Post in W.. Im Termin vom 3. Mai 1979 war der Beklagte nicht erschienen und nicht vertreten. Es erging Versäumnisurteil nach Inhalt des Mahnbescheids. Das Urteil wurde dem Beklagten am 11. Mai 1979 – erneut durch Niederlegung bei der Post – zugestellt. Am 23. Mai 1979 erließ das Amtsgericht Mülheim an der Ruhr auf Antrag der Beschwerdeführerin einen Kostenfestsetzungsbeschluß, der dem Beklagten – wiederum durch Niederlegung bei der Post – am 29. Mai 1979 zugestellt wurde. Die Beschwerdeführerin versuchte vergeblich, aus dem Versäumnisurteil und dem Kostenfestsetzungsbeschluß zu vollstrecken und beantragte daraufhin unter Vorlage einer Unpfändbarkeitsbescheinigung des zuständigen Gerichtsvollziehers beim Amtsgericht Wiesbaden die Ladung des Beklagten zur Abgabe der eidesstattlichen Versicherung. Das Amtsgericht Wiesbaden verfügte die Ladung am 9. Juli 1979.

Am 14. Juli 1979 legte der Beklagte des Ausgangsverfahrens durch Schriftsatz seines Bevollmächtigten an das Amtsgericht Mülheim an der Ruhr Einspruch gegen das Versäumnisurteil vom 3. Mai 1979 ein. Er versicherte dabei an Eides Statt, ihm seien weder die Ladung zum Termin vom 3. Mai 1979 noch das Versäumnisurteil vom gleichen Tage zugegangen. Erst durch die Ladung zur Abgabe einer eidesstattlichen Versicherung habe er wieder von der Angelegenheit gehört. Er wohne mit einem weiteren Bewohner zur Untermiete; ein Schlüssel zum Briefkasten sei nicht vorhanden, die eingehende Post werde „so herausgefischt”; Benachrichtigungszettel habe er in der fraglichen Zeit nicht erhalten. Das Amtsgericht Mülheim an der Ruhr gewährte dem Beklagten durch Beschluß vom 16. Juli 1979 Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, stellte die Zwangsvollstreckung aus dem Versäumnisurteil gegen Sicherheitsleistung einstweilen ein und bestimmte Termin zur Verhandlung über den Einspruch.

Gegen den Wiedereinsetzungsbeschluß erhob die Beschwerdeführerin „Gegenvorstellung”. Sie rügte, daß ihr von einem Wiedereinsetzungsbegehren des Beklagten nichts bekannt gewesen sei. Die Wiedereinsetzung sei zu versagen. Es sei nicht glaubhaft, daß der Beklagte von den wiederholten Zustellungen nichts erfahren habe. Spätestens beim Pfändungsversuch des Gerichtsvollziehers habe er von dem Verfahren Kenntnis erlangt; die Frist für einen Wiedereinsetzungsantrag sei damit versäumt. Die Beschwerdeführerin beantragte, die Zwangsvollstreckungsakten des Amtsgerichts Wiesbaden beizuziehen und eine amtliche Auskunft des zuständigen Gerichtsvollziehers einzuholen. Jedenfalls sei der Beklagte nicht ohne sein Verschulden an der Fristeinhaltung gehindert gewesen. Dies ergebe sich aus seinem eigenen Vortrag über die Mangelhaftigkeit seines Briefkastens. Der Beklagte habe nach seinem Widerspruch gegen den Mahnbescheid mit dem Eingang weiterer Gerichtspost rechnen müssen, zumal er der Beschwerdeführerin zuvor ausdrücklich seine neue Anschrift bekanntgegeben habe. Mit Schreiben vom 31. Juli 1979 teilte das Amtsgericht Mülheim an der Ruhr der Beschwerdeführerin mit, es sehe keine Möglichkeit, den Wiedereinsetzungsbeschluß vom 16. Juli 1979 erneut zu überprüfen (§ 238 Abs. 3 ZPO).

Mit Beschluß vom 14. August 1979 hat das Amtsgericht die Verhandlung bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde gemäß § 148 ZPO ausgesetzt.

2. Mit der fristgerecht eingegangenen Verfassungsbeschwerde gegen den Wiedereinsetzungsbeschluß rügt die Beschwerdeführerin einen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG. Zur Begründung weist sie darauf hin, daß das Amtsgericht den Wiedereinsetzungsbeschluß ohne ihre vorherige Anhörung erlassen habe. Damit sei das bereits rechtskräftige Versäumnisurteil unter Verletzung des rechtlichen Gehörs „wieder durchbrochen” worden. Die mit der „Gegenvorstellung” vorgetragenen Bedenken – eine Ablichtung des betreffenden Schriftsatzes ist der Verfassungsbeschwerde beigefügt – zeigten, daß die Möglichkeit einer Ablehnung des Wiedereinsetzungsantrags bei vorheriger Anhörung der Beschwerdeführerin nicht ausgeschlossen werden könne.

3. Dem Justizminister des Landes Nordrhein-Westfalen und dem Beklagten des Ausgangsverfahrens wurde Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben. Der Beklagte des Ausgangsverfahrens hält die Verfassungsbeschwerde trotz gewisser Bedenken gegen die Verfahrensweise des Gerichts letztlich für unbegründet, weil der Beschwerdeführerin durch den Wiedereinsetzungsbeschluß lediglich eine „formell eroberte Rechtsposition” entzogen worden sei. Der Justizminister des Landes Nordrhein-Westfalen hat nicht Stellung genommen.

II.

1. Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig.

a) Das Bundesverfassungsgericht hat in ständiger Rechtsprechung die Verfassungsbeschwerde gegen solche Entscheidungen in selbständigen Zwischenverfahren zugelassen, die über eine für das weitere Verfahren wesentliche Rechtsfrage befinden und in weiteren Instanzen nicht mehr nachgeprüft und korrigiert werden können (vgl. etwa BVerfGE 1, 322 (324f); 8, 253 (254f); 12, 113 (124); 16, 283 (285); 20, 336 (342); 24, 56 (60f)). Um eine solche Entscheidung handelt es sich bei dem hier angegriffenen Wiedereinsetzungsbeschluß. Er ist in einem selbständigen Zwischenverfahren ergangen (§§ 233238 ZPO), unanfechtbar (§ 238 Abs. 3 ZPO) und auch für das übergeordnete Rechtsmittelgericht bindend (Thomas-Putzo, Zivilprozeßordnung, 10. Aufl, § 238 Anm. 5a; Zöller, Zivilprozeßordnung, 12. Aufl., § 238 Anm. 3).

b) Die Beschwerdeführerin hat auch ein Rechtsschutzinteresse daran, daß über die von ihr eingelegte Verfassungsbeschwerde bereits während der Rechtshängigkeit des Verfahrens und nicht erst nach der letztinstanzlichen Entscheidung in der Hauptsache entschieden wird. Die Wiedereinsetzungsentscheidung beraubt die Beschwerdeführerin der Rechtskraft ihres Titels und greift damit – vor allem auch im Hinblick auf die Vollstreckung – in irreparabler Weise in ihre Rechtsstellung ein (vgl. BVerfGE 8, 253 (255f)). Die Möglichkeit, daß die Beschwerdeführerin im Endergebnis in der Sache (erneut) obsiegt, rechtfertigt es nicht, die Beschwerdeführerin zunächst auf die Fortführung des Zivilverfahrens zu verweisen (vgl. ähnlich BVerfGE 24, 56 (61)).

2. Die Verfassungsbeschwerde ist auch begründet. Der angegriffene Wiedereinsetzungsbeschluß verletzt die Beschwerdeführerin in ihren Rechten aus Art. 103 Abs. 1 GG.

a) Art 103 Abs 1 GG gibt dem Beteiligten eines gerichtlichen Verfahrens ein Recht darauf, daß er Gelegenheit erhält, sich zu dem einer gerichtlichen Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt vor Erlaß der Entscheidung zu äußern, vor Gericht Anträge zu stellen und Ausführungen zu machen (ständige Rechtsprechung, vgl. etwa BVerfGE 1, 418 (429); 25, 137 (140); 36, 85 (87); 50, 280 (284)). Dies gilt auch für das Verfahren bei Entscheidung über einen Wiedereinsetzungsantrag. Zwar schreibt die Zivilprozeßordnung die Anhörung der Gegenpartei nicht ausdrücklich vor; die Pflicht zur Anhörung folgt jedoch unmittelbar aus Art. 103 Abs. 1 GG (BVerfGE 8, 253 (255); vgl. auch Thomas-Putzo a.a.O., § 238 Anm. 1c; Baumbach-Lauterbach-Albers-Hartmann, Zivilprozeßordnung, 37. Aufl., § 238 Anm. 1 A).

Das Amtsgericht hat somit den Anspruch der Beschwerdeführerin auf rechtliches Gehör verletzt, indem es dem Beklagten auf seine Angaben hin Wiedereinsetzung gewährte, ohne vorher die Beschwerdeführerin hierzu gehört zu haben.

b) Die angegriffene Entscheidung beruht auf der Verletzung des rechtlichen Gehörs. Die Beschwerdeführerin hat in ihrer „Gegenvorstellung”, auf die sie in der Begründung ihrer Verfassungsbeschwerde Bezug nimmt, beachtliche Gründe gegen die Gewährung der Wiedereinsetzung vorgebracht. Es ist daher nicht auszuschließen, daß ihre – rechtzeitige – Anhörung zu einer anderen Entscheidung geführt hätte. Aus dem auf die „Gegenvorstellung” hin ergangenen Schreiben des Gerichts vom 31. Juli 1979 läßt sich kein Gegenschluß ziehen; denn das Gericht hat darin seine Entscheidung nicht etwa nach Würdigung des Vorbringens der Beschwerdeführerin bestätigt, sondern im Gegenteil unter Hinweis auf § 238 Abs. 3 ZPO keine Möglichkeit zu einer Überprüfung seines Beschlusses gesehen. Aus eben diesem Grunde verbietet sich auch die Annahme einer Heilung des Grundrechtsverstoßes.

 

Fundstellen

BVerfGE, 109

NJW 1980, 1095

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