Entscheidungsstichwort (Thema)

Rechtliches Gehör. Berücksichtigung des Vorbringens in der Vorinstanz

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Wenn sich im Einzelfall klar ergibt, daß ein Gericht seiner Pflicht, das Vorbringen der Parteien zur Kenntnis zu nehmen und zu erwägen, nicht nachgekommen ist, ist Art. 103 Abs. 1 GG verletzt.

2. Eine vollständige Wiederholung des gesamten, bereits in der ersten Instanz gemachten Sachvortrags ist nach den gesetzlichen Vorschriften nicht erforderlich. § 519 Abs. 3 Nr. 2 ZPO verlangt für die Berufungsbegründungsschrift neben der Darlegung der Berufungsgründe lediglich die Bezeichnung der neuen Tatsachen. Was im übrigen vorgetragen werden soll, können die Parteien dem Gericht im Wege der Bezugnahme auf ihr Vorbringen in erster Instanz erkennbar machen.

 

Normenkette

GG Art. 103 Abs. 1; ZPO § 519 Abs. 3 Nr. 2

 

Verfahrensgang

OLG Nürnberg (Urteil vom 18.05.1967; Aktenzeichen 2 U 46/67)

 

Gründe

I.

1. Die Beschwerdeführerin ist Grundstücksmaklerin. Nach einer Vereinbarung mit dem Metzger W., über deren Inhalt im einzelnen Streit besteht, bemühte sie sich, für diesen ein Grundstück zu verkaufen. Ehe ihr dies gelang, verkaufte W. das Grundstück selbst ohne Mitwirkung der Beschwerdeführerin. Darauf verlangte die Beschwerdeführerin die Zahlung ihrer Maklerprovision in Höhe von DM 14 400.-, da ihr ein Alleinauftrag erteilt worden sei.

Nachdem W. beim Landgericht Nürnberg-Fürth negative Feststellungsklage gegen die Beschwerdeführerin erhoben hatte, machte diese ihre Provisionsforderung im Wege der Widerklage geltend, wurde jedoch damit vom Landgericht und Oberlandesgericht abgewiesen. Das Oberlandesgericht Nürnberg begründet sein Urteil vom 18. Mai 1967 wie folgt:

Ein Anspruch auf Maklerprovision für den Nachweis der Gelegenheit zum Vertragsabschluß (§ 652 Abs. 1 BGB) bestehe nicht, da die Beschwerdeführerin unstreitig beim Zustandekommen des Kaufvertrags nicht mitgewirkt habe. Eine vertragliche Vereinbarung dahingehend, daß die Provision auch geschuldet werde, wenn das Geschäft ohne Mitwirkung der Beschwerdeführerin zustandekomme, habe nicht bestanden. Aus dem Gesichtspunkt des Schadensersatzes könne die Beschwerdeführerin die volle Maklerprovision schon deshalb nicht verlangen, weil sie einen Schaden nicht einmal behauptet habe.

In dem Urteil heißt es hierzu wörtlich:

„Die Beklagte (= Beschwerdeführerin) verlangt den Maklerlohn auch nicht auf Grund Erfüllung des Maklervertrags, sondern als Schadensersatz mit der Begründung, sie habe den 'Alleinauftrag' gehabt und der Kläger habe entgegen der Vereinbarung das Grundstück selbst verkauft.

Mit dieser Begründung kann die Beklagte aber nicht die begehrte volle Maklergebühr vom Kläger verlangen, weil hierüber keine Vereinbarung der Parteien zustandegekommen ist. Es kann dabei unterstellt werden, daß mündlich rechtswirksam ein, 'Alleinauftrag' erteilt worden ist. Es kann für den vorliegenden Fall auch dahingestellt bleiben, ob dieser Alleinauftrag nur so zu verstehen war, daß der Kläger lediglich keinen anderen Makler einschalten sollte, aber doch selbst verkaufen durfte, oder ob er darüber hinaus verbindlich zugesagt hat, daß er auch nicht selber ohne Einschaltung der Beklagten verkaufen werde. Denn auch im letzteren Falle kann die Beklagte die begehrte Maklergebühr aus keinem Rechtsgrund verlangen. Denn ein darauf gerichteter Schadensersatzanspruch würde voraussetzen, daß die Beklagte – außer einem Verschulden des Klägers – nachweist, daß ihr durch die Verletzung der Zusage des Klägers ein Schaden entstanden ist; sie müßte daher nachweisen, daß sie selbst in der Lage gewesen wäre, durch erfolgreiche Ausführung des Maklerauftrags die Maklerprovision zu verdienen (vgl. BGH, Urteil vom 22.6.1966, NJW 1966, S. 2008). Einen solchen Beweis hat die Beklagte überhaupt nicht angetreten. Sie trägt dazu nicht einmal die entsprechenden Behauptungen vor.”

2. Die Beschwerdeführerin hat gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Nürnberg fristgerecht Verfassungsbeschwerde erhoben. Sie rügt Verletzung des Art. 103 Abs. 1 GG und macht geltend, daß das Oberlandesgericht ihren Sachvortrag, daß sie einen abschlußwilligen Käufer gefunden habe, überhaupt nicht in Erwägung gezogen habe.

Die Beschwerdeführerin hatte nämlich in ihrem Schriftsatz vom 9. September 1966, mit dem sie vor dem Landgericht Widerklage erhoben hatte, auf Seite 4 folgendes ausgeführt:

„Kurze Zeit darauf stellte sich der Kläger auf den Standpunkt, wegen der anfallenden Erschließungskosten nicht einzelne Parzellen, sondern das Grundstück als Ganzes zu verkaufen. Die Beklagte mußte daraufhin umdisponieren und fand auch einen Interessenten, den nachbenannten Zeugen, der bereit war, die gesamte Fläche über 8000 qm zu kaufen. Beweis: Herr Friedrich F. als Zeuge.”

Das Landgericht war auf diesen Vortrag nicht eingegangen. Die Schriftsätze der Beschwerdeführerin in der Berufungsinstanz wiederholen ihn nicht ausdrücklich. Die Berufungsschrift enthält jedoch den allgemeinen Hinweis, daß „im übrigen auf die gesamten Ausführungen der Beklagten im 1. Rechtszug und auf die von ihr gemachten Beweisangebote Bezug genommen und diese aufrecht erhalten” würden. In dem Berufungsurteil wird gleichfalls „wegen der Einzelheiten des Parteivorbringens auf die Schriftsätze Bezug genommen”.

Die Beschwerdeführerin beantragt, das Urteil des Oberlandesgerichts Nürnberg vom 18. Mai 1967 aufzuheben und die Sache zur neuen Entscheidung an dieses Gericht zurückzuverweisen.

3. Der Bayerische Staatsminister der Justiz, der sich gemäß § 94 Abs. 2 BVerfGG geäußert hat, hält die Verfassungsbeschwerde für begründet; der Kläger und Widerbeklagte des Ausgangsverfahrens hält sie für unbegründet.

II.

Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und auch begründet.

1. Art. 103 Abs. 1 GG gewährt den Beteiligten eines gerichtlichen Verfahrens ein Recht darauf, daß sie sich zu dem streitigen Sachverhalt vor Erlaß der Entscheidung äußern. Das bedeutet, daß das Gericht verpflichtet ist, Anträge und Ausführungen der Verfahrensbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und bei seiner Entscheidung in Erwägung zu ziehen, soweit das Vorbringen nach den Prozeßvorschriften nicht ausnahmsweise unberücksichtigt bleiben muß oder kann (BVerfGE 11, 218 [220]; 14, 320 [323]; 18, 380 [383]; 22, 267 [273]). Da die Feststellung und Würdigung der Tatsachen allein Sache des Gerichts ist, kann die Behauptung allein, das Gericht habe es versäumt, Beweis zu erheben, grundsätzlich einen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG nicht begründen. Der Anspruch auf rechtliches Gehör ist nicht schon dann verletzt, wenn das Gericht zu einer unrichtigen Tatsachenfeststellung gekommen ist.

Grundsätzlich ist davon auszugehen, daß ein Gericht das Vorbringen der Beteiligten zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen hat, da es nach Art. 103 Abs. 1 GG nicht verpflichtet ist, jedes Vorbringen in den Gründen seiner Entscheidung ausdrücklich zu verbescheiden (BVerfGE 5, 22 [24]). Nur dann, wenn sich im Einzelfall klar ergibt, daß ein Gericht seiner Pflicht, das Vorbringen der Parteien zur Kenntnis zu nehmen und zu erwägen, nicht nachgekommen ist, ist Art. 103 Abs. 1 GG verletzt. Das ist aber hier der Fall. Das Oberlandesgericht hat den Vortrag der Beschwerdeführerin, sie habe in dem als Zeugen benannten Friedrich F. einen Interessenten gefunden, der bereit gewesen sei, das gesamte Grundstück zu kaufen, nicht zur Kenntnis genommen und deshalb bei seiner Entscheidung auch nicht berücksichtigt. Dieses Vorbringen mit dem Beweisantritt war im Schriftsatz der Beschwerdeführerin vom 9. September 1966, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung vor dem Landgericht war, enthalten. Nach Einlegung der Berufung fiel der Rechtsstreit der Berufungsinstanz in den Grenzen der Anträge in vollem Umfang kraft Gesetzes an und der gesamte Streitstoff der ersten Instanz wurde zum Prozeßstoff der Berufungsinstanz. Eine vollständige Wiederholung des gesamten, bereits in der ersten Instanz gemachten Sachvortrags ist nach den gesetzlichen Vorschriften nicht erforderlich. § 519 Abs. 3 Nr. 2 ZPO verlangt für die Berufungsbegründungsschrift neben der Darlegung der Berufungsgründe lediglich die Bezeichnung der neuen Tatsachen. Was im übrigen vorgetragen werden soll, können die Parteien dem Gericht im Wege der Bezugnahme auf ihr Vorbringen in erster Instanz erkennbar machen. Das hat die Beschwerdeführerin getan. Das Oberlandesgericht durfte das Vorbringen der Beschwerdeführerin zu der Frage des Nachweises eines Kaufinteressenten für das Grundstück nicht unberücksichtigt lassen. Die Urteilsgründe lassen aber erkennen, daß das Gericht dieses Vorbringen überhaupt nicht zur Kenntnis genommen hat. Anderenfalls wären seine Ausführungen auf Seite 8 der Urteilsgründe (Blatt 106 der Akten) nicht verständlich.

2. Das Urteil des Oberlandesgerichts Nürnberg vom 18. Mai 1967 beruht auch auf dem Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG. Es kann nicht ausgeschlossen werden, daß das Gericht anders entschieden hätte, wenn es den für die Begründung eines Schadens erheblichen Vortrag der Beschwerdeführerin zur Kenntnis genommen und berücksichtigt hätte.

3. Das Urteil des Oberlandesgerichts Nürnberg ist daher aufzuheben; die Sache ist an das Oberlandesgericht zurückzuverweisen.

4. Diese Entscheidung ist einstimmig ergangen.

 

Fundstellen

BVerfGE, 137

MDR 1969, 545

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