Entscheidungsstichwort (Thema)
Steuerfreiheit des familiären Existenzminimums; Höhe des Kinderfreibetrags für Eltern mit einem Kind im Vz 1997 verfassungswidrig. Familienleistungsausgleich
Leitsatz (amtlich)
1. Art. 6 Abs. 1 GG gebietet, bei der Besteuerung einer Familie das Existenzminimum sämtlicher Familienmitglieder steuerfrei zu belassen:
a) Dabei bildet das sozialhilferechtlich definierte Existenzminimum die Grenze für das einkommensteuerliche Existenzminimum, die über-, aber nicht unterschritten werden darf.
b) Das einkommensteuerliche Existenzminimum ist für alle Steuerpflichtigen – unabhängig von ihrem individuellen Grenzsteuersatz – in voller Höhe von der Einkommensteuer freizustellen.
c) Der Wohnbedarf ist nicht nach der Pro-Kopf-Methode, sondern nach dem Mehrbedarf zu ermitteln.
2. Diese Entscheidung hat Gesetzeskraft.
Normenkette
GG Art. 3 Abs. 1, Art. 6 Abs. 1, Art. 1 Abs. 1, Art. 20 Abs. 1; EStG § 32 Abs. 6 Fassung: 1985-06-26; StSenkG 1986/88 Art. 1 Nr. 8; AO 1977 § 163; AO 1997 § 227; GG Art. 100 Abs. 1
Verfahrensgang
Tenor
§ 32 Absatz 6 des Einkommensteuergesetzes in der Fassung des Steuersenkungsgesetzes 1986/1988 vom 26. Juni 1985 (Bundesgesetzbl. I Seite 1153) war in seiner Anwendung auf den Veranlagungszeitraum des Jahres 1987 mit Artikel 3 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 6 Absatz 1 des Grundgesetzes insoweit unvereinbar, als danach Eltern mit einem Kind nur einen Kinderfreibetrag von zusammen 2.484 Deutsche Mark beanspruchen konnten.
Gründe
A.
Die Vorlage betrifft die Frage, ob die durch Kindergeld und einkommensteuerliche Kinderfreibeträge gewährte Entlastung des Unterhalts für ein Kind im Veranlagungszeitraum 1987 den verfassungsrechtlichen Anforderungen entspricht, wie sie insbesondere in den Beschlüssen des Bundesverfassungsgerichts vom 29. Mai 1990 (BVerfGE 82, 60) und vom 12. Juni 1990 (BVerfGE 82, 198) dargestellt worden sind.
I.
Zum Ausgleich der allgemeinen Belastungen, die mit dem Unterhalt von Kindern verbunden sind, werden Eltern einkommensteuerliche Kinderfreibeträge und Kindergeld nach dem sog. dualen System (vgl. BVerfGE 82, 60 ≪78 f.≫ mit Hinweis auf BTDrucks 9/2140, S. 66) gewährt.
1. § 32 Abs. 6 Satz 1 EStG i.d.F. des Steuersenkungsgesetzes 1986/1988 vom 26. Juni 1985 (BGBl I S. 1153) sah für jedes zu berücksichtigende Kind des Steuerpflichtigen einen Kinderfreibetrag in Höhe von 1.242 DM vor. Bei Ehegatten, die nach §§ 26, 26b EStG zusammen zur Einkommensteuer veranlagt wurden, verdoppelte sich der gemeinsame Kinderfreibetrag nach § 32 Abs. 6 Satz 2 EStG auf 2.484 DM. Der Kinderfreibetrag wurde in dieser Höhe auch gewährt, wenn bei einem unbeschränkt einkommensteuerpflichtigen Elternpaar die Voraussetzungen des § 26 Abs. 1 Satz 1 EStG – Zusammenveranlagung – nicht vorlagen, ein Elternteil aber die Übertragung des Kinderfreibetrages des anderen Elternteils auf sich beantragte und der andere Elternteil diesem Antrag zustimmte (§ 32 Abs. 6 Satz 4 EStG).
§ 32 Abs. 6 hatte im Veranlagungszeitraum 1987 folgende Fassung:
Ein Kinderfreibetrag von 1242 Deutsche Mark wird für jedes zu berücksichtigende Kind des Steuerpflichtigen vom Einkommen abgezogen. Bei Ehegatten, die nach den §§ 26, 26b zusammen zur Einkommensteuer veranlagt werden, wird ein Kinderfreibetrag von 2484 Deutsche Mark abgezogen, wenn das Kind zu beiden Ehegatten in einem Kindschaftsverhältnis steht. Ein Kinderfreibetrag von 2484 Deutsche Mark wird auch abgezogen, wenn
1. der andere Elternteil vor dem Beginn des Kalenderjahrs verstorben ist oder während des ganzen Kalenderjahrs nicht unbeschränkt einkommensteuerpflichtig gewesen ist oder
2. der Steuerpflichtige allein das Kind angenommen hat oder das Kind nur zu ihm in einem Pflegekindschaftsverhältnis steht.
Abweichend von Satz 1 wird bei einem unbeschränkt einkommensteuerpflichtigen Elternpaar, bei dem die Voraussetzungen des § 26 Abs. 1 Satz 1 nicht vorliegen, auf Antrag eines Elternteils der Kinderfreibetrag des anderen Elternteils auf ihn übertragen, wenn er seiner Unterhaltsverpflichtung gegenüber dem Kind für das Kalenderjahr nachkommt, der andere Elternteil jedoch nicht oder nur zu einem unwesentlichen Teil, oder wenn der andere Elternteil dem Antrag zustimmt; die Zustimmung kann nicht widerrufen werden.
2. Das Kindergeld für das erste Kind betrug gemäß § 10 Abs. 1 des Bundeskindergeldgesetzes in der für den Veranlagungszeitraum 1987 geltenden Fassung der Bekanntmachung vom 21. Januar 1986 50 DM (zur Rechtsentwicklung vgl. BVerfGE 43, 108 ≪109 f.≫; 82, 60 ≪61 f.≫; 91, 93 ≪94 ff.≫).
II.
Der Kläger des Ausgangsverfahrens wurde im Streitjahr 1987 einzeln zur Einkommensteuer veranlagt. Das Finanzamt berücksichtigte für den Sohn des Klägers einen Kinderfreibetrag in Höhe von 2.484 DM, den der Kläger mit Zustimmung des anderen Elternteils beantragt hatte.
Mit seinem Einspruch begehrte der Kläger die Berücksichtigung eines höheren Kinderfreibetrages. Der Einspruch und die dagegen gerichtete Klage blieben erfolglos.
Mit der Revision verfolgt der Kläger sein Klagebegehren weiter und rügt, daß weder Grundfreibetrag noch Kinderfreibetrag ausreichten, um sein Existenzminimum und das seines Sohnes steuerfrei zu belassen. Die Unzulänglichkeit des Kinderfreibetrages ergebe sich aus den Beschlüssen des Bundesverfassungsgerichts vom 29. Mai 1990 und 12. Juni 1990 (BVerfGE 82, 60; 82, 198). Die in diesen Entscheidungen für die Jahre 1983 bis 1985 aufgestellten Grundsätze seien auch für die Folgejahre anzuwenden. Nach dem sog. Sachstandsbericht des Finanzausschusses des Deutschen Bundestages und nach Ansicht des Bundesfinanzministeriums müsse aufgrund dieser Rechtsprechung die staatliche Entlastung des Kindesunterhalts auch für die Jahre 1986 und später neu geregelt werden; danach betrage das Existenzminimum eines Kindes etwa 6.000 DM jährlich.
III.
1. Der III. Senat des Bundesfinanzhofs hat das Verfahren ausgesetzt, um eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Rechtsgültigkeit des § 32 Abs. 6 EStG einzuholen. § 32 Abs. 6 EStG sei insoweit mit Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 6 Abs. 1 GG unvereinbar, als danach Eltern mit e i n e m Kind nur einen Kinderfreibetrag in Höhe von insgesamt 2.484 DM beanspruchen könnten.
a) Ausgangspunkt der verfassungsrechtlichen Prüfung sei der Grundsatz, daß der Staat dem Steuerpflichtigen sein Einkommen insoweit steuerfrei belassen müsse, als es zur Schaffung der Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein, also zur Sicherung seines Existenzminimums benötigt werde. Aus Art. 6 Abs. 1 GG folge, daß bei der Besteuerung einer Familie das Existenzminimum sämtlicher Familienmitglieder steuerfrei bleiben müsse. Auch soweit das Einkommen das Existenzminimum übersteige, müsse das zur Sicherung des Existenzminimums der Kinder erforderliche Einkommen steuerfrei bleiben, da anderenfalls Familien mit unterhaltsbedürftigen Kindern gegenüber sonstigen Familien, gegenüber kinderlosen Ehepaaren und gegenüber kinderlosen Alleinstehenden benachteiligt würden; das Bundesverfassungsgericht fordere insoweit ausdrücklich auch eine horizontale Gleichheit. Das Einkommensteuergesetz müsse das Einkommen in dem Umfang von der Steuer freistellen, in dem Unterhaltsaufwendungen zur Gewährleistung des Existenzminimums der Kinder erforderlich seien (Hinweis auf BVerfGE 82, 60 ≪87 ff.≫).
b) Zur Beurteilung der Frage, ob der Staat diesen Anforderungen gerecht werde, müßten steuerliche Kinderfreibeträge und Kindergeld in ihrem Zusammenwirken berücksichtigt werden; dazu sei das Kindergeld in einen fiktiven Kinderfreibetrag umzurechnen, mit dem im Einkommensteuerrecht vorgesehenen Kinderfreibetrag zu addieren und sodann mit dem Betrag des Existenzminimums zu vergleichen (Hinweis auf BVerfGE 82, 60 ≪92 ff.≫).
Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts habe der Gesetzgeber mit der Wiedereinführung des Kinderfreibetrages die steuerliche Entlastungsfunktion des Kindergeldes nicht voll beseitigen, sondern lediglich die Rückkehr zu einem dualen System einleiten wollen. Diesen Weg sei der Gesetzgeber mit dem Erlaß des Steuersenkungsgesetzes 1986/1988 weitergegangen. Nach der Begründung dieses Gesetzes könne der Ausgleich des Kindesunterhalts am besten in einem dualen System verwirklicht werden. Die weitere Stärkung dieses Ausgleichs durch die Anhebung des Kinderfreibetrages baue das duale System der Kinderentlastung weiter aus (Hinweis auf BTDrucks 10/2884, S. 95 f.). Diesem Ziel entspreche auch die gleichzeitige Einfügung des § 11a in das Bundeskindergeldgesetz, wonach Eltern, die den ihnen nach dem Einkommensteuergesetz zustehenden Kinderfreibetrag nicht oder nicht voll ausschöpfen könnten, einen Zuschlag zum Kindergeld erhielten.
c) Das steuerfrei zu belassende Existenzminimum dürfe die entsprechenden Leistungen der Sozialhilfe nicht unterschreiten, die gerade das Existenzminimum gewährleisten sollten, verbrauchsbezogen ermittelt seien und regelmäßig den steigenden Lebenshaltungskosten angepaßt würden. Zusätzlich sei ein Zuschlag für die durchschnittlich gewährten Sonderleistungen anzusetzen (Hinweis auf BVerfGE 82, 60 ≪93 ff.≫).
d) Schreibe man diese Grundsätze auf die Verhältnisse des Streitjahres fort, so zeige sich, daß die steuerliche Gesamtentlastung – bestehend aus einem einkommensteuerlichen Kinderfreibetrag und einem in einen fiktiven Kinderfreibetrag umgerechneten Kindergeld – im Jahre 1987 in einer großen Zahl von Fällen nicht ausreiche, um Eltern mit e i n e m Kind einen dem Existenzminimum dieses Kindes entsprechenden Einkommensbetrag steuerfrei zu belassen. Dies folge aus einem Vergleich der Gesamtleistungen der Sozialhilfe in Höhe von 4.872 DM mit der steuerlichen Gesamtentlastung in Höhe von nur 3.984 DM; die Steuerentlastung bleibe um 888 DM und damit um 18 % evident hinter den Sozialhilfeleistungen zurück. Diese Differenz liege über einer vom Bundesverfassungsgericht für möglich gehaltenen Toleranzgrenze von 15 %.
2. Im einzelnen errechnet der Vorlagebeschluß die vorgenannten Bedarfs- und Entlastungsbeträge und den Differenzbetrag wie folgt:
a) Das Bundesverfassungsgericht habe in seiner Entscheidung zum Kindergeld (BVerfGE 82, 60) seine Berechnungen auf den Bericht der Besoldungskommission Bund/Länder (BLK-Bericht) gestützt. Dort sei die monatliche Sozialhilfe als Summe aus Durchschnittsregelsatz, einem Zuschlag für Einmalbeihilfen und einem Betrag für Wohnbedarf ermittelt worden; eine Position für Heizkosten sei nicht enthalten gewesen. Das Bundesverfassungsgericht habe aber in einer späteren Entscheidung (Beschluß des Zweiten Senats zum Grundfreibetrag, BVerfGE 87, 153) ausdrücklich entschieden, daß zum Mindestbedarf eines j e d e n Bürgers auch die Heizkosten zu rechnen seien. Nach den Berechnungen der Bundesregierung, die dem Bundesverfassungsgericht in diesem Verfahren vorgelegt worden seien, würden die Aufwendungen für Heizung etwa 25 % der Mietkosten betragen (Hinweis auf BVerfGE 87, 153 ≪174≫). Bei den Angaben zu den Mietkosten selbst habe sich die Bundesregierung im Verfahren zum Grundfreibetrag abweichend vom BLK-Bericht an Wohngeldstichproben orientiert.
Für die Ermittlung des Grundbedarfs eines Kindes sei von dieser Vierteilung der Gesamtleistungen der Sozialhilfe (Sozialhilferegelsatz, Einmalbeihilfen, Wohnbedarf und Aufwendungen für die Heizung) auszugehen:
(1) Der durchschnittliche Sozialhilferegelsatz für ein Kind betrage 274 DM pro Monat. Dies ergebe sich aus den Verzeichnissen der Regelsätze nach § 22 Bundessozialhilfegesetz für die Zeit vom 1. Juli 1986 bis 30. Juni 1987 und vom 1. Juli 1987 bis 30. Juni 1988; dabei seien die vier Altersstufen bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres zugrunde gelegt; unter Ansatz der dort jeweils gewährten Mindestbeträge werde hieraus der durchschnittliche Regelsatz ermittelt.
(2) 55 DM pro Monat betrage der Zuschlag in Höhe von 20 % des Regelsatzes für sog. Einmalbeihilfen.
(3) Der Zuschlag für den Wohnbedarf eines Kindes im Jahre 1987 belaufe sich auf 64,60 DM. Für die Ermittlung des Zuschlags für den Wohnbedarf sei zunächst – wie auch das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluß vom 29. Mai 1990 und der dort in Bezug genommene Bericht der Bund-/Länder- Kommission (BLK-Bericht) voraussetzten – von einem durchschnittlichen Wohnflächenbedarf eines Kindes von 10 qm auszugehen. Abweichend vom BLK-Bericht seien die dafür aufzubringenden Kosten auf der Grundlage einer durchschnittlichen Quadratmeterbelastung bei Wohngeldempfängern zu ermitteln. Denn abgesehen davon, daß eine Quelle für die Annahme eines Quadratmeterpreises von 5,50 DM im Jahre 1980 im BLK-Bericht nicht ersichtlich sei, gebe auch der Mietpreisindex, auf den der BLK-Bericht für seine weiteren Berechnungen zurückgreife, die Mietentwicklung nur unzureichend wieder. Es komme hinzu, daß sich die Bundesregierung bei den Angaben, die sie dem Bundesverfassungsgericht im Grundfreibetragsverfahren (BVerfGE 87, 153) mitgeteilt habe, auch schon an Wohngeldstichproben orientiert habe.
(4) 12 DM monatlich seien als Aufwendungen für Heizung anzusetzen. Die Bundesregierung habe im Grundfreibetragsverfahren die Aufwendungen für die Heizung zwar mit 25 % der jeweiligen Mietkosten angegeben. Da aber gegen diese pauschale Orientierung an den Mietkosten eingewandt werde, daß dadurch zu hohe Heizkosten berücksichtigt würden, weil diese nicht im gleichen Umfang stiegen wie Kaltmieten, sei vorliegend der Berechnungsmethode des Karl-Bräuer-Instituts des Bundes der Steuerzahler (Steuern in Deutschland, Heft 72 der Schriftenreihe des Instituts, 1991, S. 178, Fn. 4) zu folgen; dort seien die durchschnittlichen Heizkosten des Jahres 1983 mit dem Preisindex für Lebenshaltung fortgeschrieben. Dieses Verfahren ergebe einen Monatsbetrag von 12 DM für Heizkosten.
Die Gesamtleistungen der Sozialhilfe beliefen sich demnach 1987 für ein Kind bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres auf 4.872 DM.
b) Dem stehe eine steuerliche Gesamtentlastung für Eltern mit einem Kind im Jahre 1987 in Höhe von 3.984 DM gegenüber. Bei der Umrechnung des jährlichen Kindergeldes in einen fiktiven Steuerfreibetrag komme dem Steuersatz die entscheidende Bedeutung zu, weil auf ihn das Kindergeld hochzurechnen sei. Das Bundesverfassungsgericht habe Berechnungen für Grenzsteuersätze in Höhe von 30, 40 und 56 % angestellt und dabei darauf hingewiesen, daß ein Grenzsteuersatz von 40 % noch von einer großen Zahl der Steuerpflichtigen erreicht werde (BVerfGE 82, 60 ≪95 ff.≫). Der fiktiven Umrechnung sei eine von vielen Steuerpflichtigen noch erreichte Besteuerung zugrunde zu legen. Im Streitjahr 1987 sei ein Grenzsteuersatz von 40 % von mindestens 9 % der nach der Splittingtabelle und von mindestens 10,2 % der nach der Grundtabelle veranlagten Steuerpflichtigen erreicht worden. Die Gruppe von über 9 % aller veranlagten Steuerpflichtigen sei zusammen mit der Gruppe, bei denen der Grenzsteuersatz etwa 40 % betrage, ein „wesentlicher” Teil der betroffenen Steuerpflichtigen im Sinne dieser Entscheidung.
Deshalb sei das Kindergeld für ein Kind im Streitjahr 1987 in Höhe von 600 DM unter Zugrundelegung eines Grenzsteuersatzes von 40 % in einen fiktiven Steuerfreibetrag von 1.500 DM umzurechnen (600 DM: 40 × 100 = 1.500 DM). Unter Anrechnung des einkommensteuerlichen Kinderfreibetrages in Höhe von 2.484 DM ergebe sich damit eine steuerliche Gesamtentlastung in Höhe von 3.984 DM.
c) Beim Vergleich der steuerlichen Gesamtentlastung mit den Gesamtleistungen der Sozialhilfe bleibe demnach die steuerliche Entlastung um 888 DM, mithin um 18 % hinter den Sozialhilfeleistungen zurück (4.872 DM - 3.984 DM = 888 DM). d) Dieses Ergebnis werde auch bei einer bloßen Evidenzkontrolle – wie vom Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 82, 60 ≪91 f.≫) für erforderlich, aber auch für ausreichend gehalten – den verfassungsrechtlichen Anforderungen an eine ausreichende Berücksichtigung des Kinderbedarfs nicht mehr gerecht. Zwar möge man Abweichungen bis zu 15 % noch tolerieren können, weil der Gesetzgeber in diesem Bereich von Annahmen ausgehen müsse, deren Richtigkeit sich erst in der Zukunft herausstelle. Die steuerliche Gesamtentlastung bleibe jedoch mit über 18 % der Sozialleistungen auch noch hinter dieser Toleranz von 15 % zurück.
Angesichts dieser Rechts- und Sachlage könne auch offenbleiben, ob der Kinderfreibetrag in voller Höhe von 2.484 DM in die Berechnung der steuerlichen Gesamtentlastung hätte einbezogen werden dürfen oder ob er neben dem allgemeinen Existenzminimum eines Kindes auch andere Aufwendungen abdecke, die hier außer Betracht zu bleiben hätten. Nach der Begründung zum Steuersenkungsgesetz 1986/1988 solle die Anhebung des Kinderfreibetrages ab dem Jahre 1986 nicht nur das allgemeine Existenzminimum eines Kindes von der Steuer ausnehmen, sondern zusätzlich – anstelle des durch dasselbe Gesetz gestrichenen § 10 Abs. 3 EStG – sog. kindbedingte Vorsorgeaufwendungen bis zu 900 DM freistellen (Hinweis auf BTDrucks 10/2884, S. 96, 100).
3. Erweise sich die Regelung des § 32 Abs. 6 EStG als ausreichend und mit dem Grundgesetz vereinbar, so müsse die Revision des Klägers zurückgewiesen werden. Sei sie dagegen verfassungswidrig und erkläre das Bundesverfassungsgericht sie insoweit für mit dem Grundgesetz unvereinbar, so müsse der Gesetzgeber eine Neuregelung treffen. Für den Kläger bestehe dann die Chance, auch selbst in den Genuß einer für ihn günstigen Regelung zu gelangen. Dies gelte jedenfalls für den Fall, daß der Gesetzgeber – ähnlich der Regelung des § 54 EStG i.d.F. des Steueränderungsgesetzes 1991 – den steuerlichen Kinderfreibetrag anhebe.
Der Kläger sei durch die Regelung des § 32 Abs. 6 EStG auch persönlich und unmittelbar betroffen, da angesichts seines Grenzsteuersatzes von 44,44 % seine steuerliche Gesamtentlastung um 1.038 DM hinter den durchschnittlichen Gesamtleistungen der Sozialhilfe für ein Kind zurückbleibe.
IV.
Zum Vorlagebeschluß hat der Präsident des Bundesfinanzhofs eine Stellungnahme des IX. Senats vorgelegt. Für die Bundesregierung hat sich der Bundesminister der Finanzen geäußert.
1. Der IX. Senat des Bundesfinanzhofs teilt die Auffassung des vorlegenden III. Senats, wonach der Kinderfreibetrag für das Jahr 1987 den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht genüge. Er weist ergänzend darauf hin, daß nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts auch bei höheren Grenzsteuersätzen als 40 % das Familienexistenzminimum steuerlich verschont werden müsse. Dies ergebe sich aus dem Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 29. Mai 1990 (BVerfGE 82, 60 ≪95 ff.≫), wonach s c h o n bei einem Grenzsteuersatz von 40 % die durch den damals geltenden Kinderfreibetrag und das Kindergeld erreichte steuerliche Verschonung erst bei sechs Kindern den Sozialhilfeleistungen gleichgekommen sei, mit zunehmender Steuerquote die Sozialhilfeleistungen immer mehr unterschritten und beim Spitzensteuersatz schließlich deutlich verfehlt habe. Eine Ungleichbehandlung von Steuerpflichtigen mit höheren Einkommen sei nicht mit der Notwendigkeit generalisierender Regelungen für Massenerscheinungen zu rechtfertigen, bei denen in Einzelfällen entstehende Härten hingenommen werden müßten. Es handele sich hier nämlich nicht um unvermeidbare Härten des Massenverfahrens. Der Gesetzgeber könne die Ungleichbehandlung vermeiden, wenn er die Kinderfreibeträge in Höhe des realitätsgerecht bemessenen Existenzminimums gewähre. Würde das Familienexistenzminimum allein für höhere Einkommen nur unvollständig von der Steuer freigestellt, so würden lediglich diejenigen Besserverdienenden verschärft besteuert, die Unterhaltslasten zu tragen hätten.
Darüber hinaus sei es verfassungsrechtlich auch nicht zu tolerieren, wenn die steuerliche Verschonung das sozialhilferechtlich gewährleistete Existenzminimum um 15 % unterschreite. Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG sowie Art. 6 Abs. 1 GG geböten, das gesamte Familienexistenzminimum steuerfrei zu lassen, setzten der Besteuerung also Grenzen, die grundsätzlich oberhalb der entsprechenden Sozialhilfeleistungen verliefen. Das Bundesverfassungsgericht habe die Sozialhilfeleistungen lediglich im Rahmen einer schematischen Betrachtung herangezogen und festgestellt, daß damals Kinderfreibetrag und Kindergeld, weil sie die Sozialhilfeleistungen unterschritten, o f f e n s i c h t l i c h nicht ausreichten, um der Minderung der Leistungsfähigkeit von Steuerpflichtigen mit Kindern in Höhe des Existenzminimums der Kinder Rechnung zu tragen. Das einkommensteuerlich verschonte Existenzminimum müsse jedenfalls die Höhe der sozialstaatlichen existenzsichernden Leistungen erreichen. Der Steuergesetzgeber müsse z u m i n d e s t das von der Besteuerung freihalten, was das Sozialhilferecht als Existenzminimum gewähre.
Schließlich seien die Gründe des Bundesverfassungsgerichts, den Steuergesetzgeber erst ab 1996 zu einer verfassungsgemäßen Regelung des Grundfreibetrages zu verpflichten, auf die gebotene Neuregelung der Kinderfreibeträge nicht übertragbar. Die Gründe seien auf den Sonderfall des Grundfreibetrages beschränkt; andernfalls werde der verfassungsrechtliche, auf dem Gedanken des Individualgrundrechtsschutzes beruhende Rechtsschutz für das Steuerrecht unterlaufen. Sowohl Verfassungsbeschwerden als auch Vorlagen beträfen stets nur zurückliegende Veranlagungszeiträume, so daß die rückwirkende Beseitigung eines verfassungswidrigen Zustandes nicht mit dem Argument verwehrt werden dürfe, die Einkommensteuer diene der Finanzierung des jeweils laufenden Staatshaushalts. Insoweit falle die Verläßlichkeit der Finanz- und Haushaltsplanung nicht ins Gewicht, weil das verfassungsrechtliche Gebot, das Familienexistenzminimum steuerfrei zu belassen, seit Jahren bekannt und der Steuergesetzgeber bisher der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht in vollem Umfang gefolgt sei.
2. Nach Auffassung der Bundesregierung ist die Vorlage unbegründet. Die Höhe des Kinderfreibetrages stehe auch im Jahre 1987 mit den verfassungsrechtlichen Grundsätzen in Einklang, die das Bundesverfassungsgericht in seinen Entscheidungen entwickelt habe. Das steuerlich freizustellende Existenzminimum von Kindern
betrage monatlich 353 DM, jährlich 4.236 DM. Es errechne sich wie folgt:
1987
Durchschnittlicher Regelsatz für Kinder |
253 DM |
Einmalige Leistungen |
40 DM |
Miete |
48 DM |
Heizkosten |
12 DM |
Monatliches Existenzminimum |
353 DM |
Jährliches Existenzminimum |
4.236 DM |
Diese Berechnung stütze sich auf folgende Grundlagen:
- Der durchschnittliche Eckregelsatz für Kinder habe 1987 398 DM betragen. In Abhängigkeit vom Alter der Kinder habe die Regelsatzleistung für Kinder zwischen 45 und 90 % des Eckregelsatzes gelegen, so daß sich daraus nach der Anzahl der Altersjahrgänge in einem gewichteten Durchschnitt ein Satz von 63,6 % und damit ein Regelsatz in Höhe von 253 DM (398 DM × 63,6 %) ergebe.
- Der Bemessung der einmaligen Leistungen lägen statistische Sondererhebungen der Jahre 1981 und 1991 zugrunde, die im Zeitraum von September 1981 bis August 1982 eine monatliche Hilfe zum Lebensunterhalt für ein Kind von durchschnittlich 26 DM ergeben hätten; dies seien 12,2 % des Eckregelsatzes. Berechnungen für das Jahr 1991 wiesen einen Betrag von 57,49 DM und damit von 19,3 % des Eckregelsatzes aus. Unterstelle man eine lineare Entwicklung der Aufwendungen, so sei für das Jahr 1987 von einem Anteil in Höhe von 16,2 % – gerundet auf 16 % – des Eckregelsatzes auszugehen.
- Die anteilige Kaltmiete sei auf der Grundlage von Stichproben ermittelt worden. Die durchschnittliche Miete für die zusätzliche Person betrage in Abhängigkeit davon, ob in der Wohnung ein Ehepaar mit einem Kind, mit zwei Kindern oder mit drei Kindern lebe, je Monat zwischen 72 und 35 DM, so daß sich ein durchschnittlicher gewichteter Zusatzbedarf in Höhe von 48 DM ergebe. Diese Berechnung ermittle jeweils den zusätzlichen Bedarf durch eine weitere Person; sie unterscheide sich von der sozialhilferechtlichen Bedarfsfeststellung, die von einer gleichmäßigen Nutzung einer Wohnung durch alle Haushaltsmitglieder ausgehe und deshalb die Kosten der statistisch ermittelten Kaltmiete nach der Personenzahl auf die Haushaltsmitglieder verteile. Bei dieser sozialhilferechtlichen Berechnung beliefen sich die anteiligen Kosten für das Jahr 1987 auf 158 DM im Monat.
- Auch die Heizkosten würden auf der Grundlage einer Pauschale ermittelt, die von den je Person zusätzlich erforderlichen Heizkosten ausgehe. Hier ergebe sich eine zusätzliche Heizkostenbelastung zwischen 18 und 9 DM, so daß von durchschnittlichen, gewichteten Heizkosten in Höhe von 12 DM pro Monat ausgegangen werden könne.
- Dem danach sich ergebenden Existenzminimum von 4.236 DM jährlich stünden für das erste Kind ein Kinderfreibetrag in Höhe von 2.484 DM und Kindergeld in Höhe von 600 DM jährlich gegenüber. Würde das Kindergeld in einen Kinderfreibetrag in Höhe von 1.764 DM umgerechnet und aus steuertechnischen Gründen auf den durch 108 teilbaren Betrag von 1728 DM gerundet, reiche es zusammen mit dem Kinderfreibetrag aus, um bei etwa 78 % aller Steuerpflichtigen mit einem Kind das Existenzminimum abzudecken. Bis zu einem zu versteuernden Einkommen von 31.645 DM/62.423 DM (Grund-/Splittingtabelle) sei damit das Existenzminimum für Kinder voll berücksichtigt. Bei etwa 22 % der Steuerpflichtigen mit einem Kind ab einer steuerlichen Grenzbelastung von etwa 35,4 % deckten Kinderfreibetrag und Kindergeld das Existenzminimum nicht mehr vollständig. Allerdings seien hier die Erhöhungen der Steuerbelastung jeweils nur geringfügig; nur bei etwa 11 % der Steuerpflichtigen übersteige die Steuermehrbelastung mit einem Kind 100 DM und in nur etwa 5 % der Fälle 200 DM jährlich.
Im Ergebnis blieben die Gesamtregelungen des Einkommensteuergesetzes verfassungsrechtlich im Rahmen der bei einer Schätzung dieser Art hinzunehmenden Unsicherheiten.
B.
Die Vorlage ist zulässig.
Der Vorlagebeschluß läßt mit hinreichender Deutlichkeit erkennen, daß das vorlegende Gericht im Falle der Gültigkeit der in Frage gestellten Vorschrift zu einem anderen Ergebnis kommen würde als im Falle ihrer Ungültigkeit. Dieses ist auch hinreichend begründet (BVerfGE 7, 171 ≪173≫; 37, 328 ≪333≫; 65, 308 ≪316≫). Der Beschluß setzt sich eingehend mit der einfach- rechtlichen Rechtslage auseinander und legt dar, mit welchem verfassungsrechtlichen Maßstab § 32 Abs. 6 EStG i.d.F. des Steuersenkungsgesetzes 1986/1988 nach Ansicht des vorlegenden Gerichts nicht vereinbar ist.
C.
§ 32 Abs. 6 EStG i.d.F. des Steuersenkungsgesetzes 1986/1988 war in seiner Anwendung auf den Veranlagungszeitraum 1987 insoweit mit Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 6 Abs. 1 GG unvereinbar, als danach Eltern mit einem Kind nur einen Kinderfreibetrag von zusammen 2.484 DM beanspruchen konnten.
I.
Nach mittlerweile gefestigter Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts fordert das Grundgesetz, daß existenznotwendiger Aufwand in angemessener, realitätsgerechter Höhe von der Einkommensteuer freigestellt wird. Das Sozialhilferecht bietet eine das Existenzminimum quantifizierende Vergleichsebene: Das von der Einkommensteuer zu verschonende Existenzminimum darf den Betrag, den der Staat einem Bedürftigen im Rahmen staatlicher Fürsorge gewährt, jedenfalls nicht unterschreiten.
1. Verfassungsrechtlicher Prüfungsmaßstab ist der aus Art. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG sich ergebende Grundsatz, daß der Staat dem Steuerpflichtigen sein Einkommen insoweit steuerfrei belassen muß, als es zur Schaffung der Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein benötigt wird (vgl. BVerfGE 82, 60 ≪85≫). Der existenznotwendige Bedarf bildet von Verfassungs wegen die Untergrenze für den Zugriff durch die Einkommensteuer (vgl. BVerfGE 87, 153 ≪169≫). Art. 6 Abs. 1 GG gebietet darüber hinaus, daß bei der Besteuerung einer Familie das Existenzminimum sämtlicher Familienmitglieder steuerfrei bleiben muß (vgl. BVerfGE 82, 198 ≪207≫).
2. Der Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) begründet in seiner Ausprägung als „horizontale Steuergleichheit” weitere verfassungsrechtliche Anforderungen (vgl. BVerfGE 82, 60 ≪89 f.≫). Er gebietet, Steuerpflichtige bei gleicher Leistungsfähigkeit gleich hoch zu besteuern. Auch Bezieher höherer Einkommen müssen je nach ihrer Leistungsfähigkeit im Vergleich zu Beziehern gleich hoher Einkommen gleich besteuert werden; eine verminderte Leistungsfähigkeit durch Unterhaltsverpflichtung gegenüber einem Kind muß dementsprechend auch bei ihnen in diesem Vergleich sachgerecht berücksichtigt werden.
3. Die von Verfassungs wegen zu berücksichtigenden existenzsichernden Aufwendungen müssen nach dem tatsächlichen Bedarf – realitätsgerecht – bemessen werden (vgl. BVerfGE 66, 214 ≪223≫; 68, 143 ≪153≫; 82, 60 ≪88≫). Dessen Untergrenze ist durch die Sozialhilfeleistungen konkretisiert, die das im Sozialstaat anerkannte Existenzminimum gewährleisten sollen, verbrauchsbezogen ermittelt und auch regelmäßig den veränderten Lebensverhältnissen angepaßt werden. Mindestens das, was der Gesetzgeber dem Bedürftigen zur Befriedigung seines existenznotwendigen Bedarfs aus öffentlichen Mitteln zur Verfügung stellt, muß er auch dem Einkommensbezieher von dessen Erwerbsbezügen belassen (vgl. BVerfGE 87, 153 ≪171≫; 91, 93 ≪111≫).
a) Die verfassungsrechtlich vorgegebene Maßgröße des sozialhilferechtlich anerkannten existenznotwendigen Mindestbedarfs errechnet sich auf der Grundlage des Bundessozialhilfegesetzes in folgenden Positionen:
- Regelsatz gemäß § 22 Abs. 3 BSHG
- Leistungen für Unterkunft und Heizung gemäß § 3 Abs. 1 und 2 Regelsatzverordnung
- Einmalbeihilfen für zusätzlichen Grundbedarf, der nicht durch laufende Leistungen gedeckt ist
- Mehrbedarf gem. § 23 Abs. 4 Nr. 1 BSHG zur Berücksichtigung der durch die Erwerbstätigkeit bedingten erhöhten privaten Bedürfnisse.
b) Diese von Verfassungs wegen zu berücksichtigenden Positionen (vgl. BVerfGE 87, 153 ≪171≫) dürfen zwar in einer vergröbernden, die Abwicklung von Massenverfahren erleichternden Art und Weise typisiert werden, sind dabei aber so zu bemessen, daß die Abzugsbeträge in allen Fällen den existenznotwendigen Bedarf abdecken, kein Steuerpflichtiger also infolge einer Besteuerung seines Einkommens darauf verwiesen wird, seinen existenznotwendigen Bedarf durch Inanspruchnahme von Staatsleistungen zu sichern (vgl. BVerfGE 87, 153 ≪172≫).
4. a) Die grundlegenden verfassungsrechtlichen Fragen zu Grund und Höhe der von Verfassungs wegen gebotenen Berücksichtigung von Kinderunterhaltsaufwendungen sind durch die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 82, 60; 87, 153) im wesentlichen geklärt. Allerdings besteht in bezug auf die Methode, wie die vom Gesetzgeber steuerfrei zu belassenden Unterhaltsaufwendungen für das Existenzminimum von Kindern zu berechnen sind, noch ein Klarstellungsbedarf.
Das Bundesverfassungsgericht hat zwar auch bisher den für das Existenzminimum maßgeblichen Wohnbedarfswert in seine Berechnungen einbezogen, jedoch noch keinen Anlaß gesehen, sich ausdrücklich zu der Berechnungsmethode zu verhalten (im Beschluß des Ersten Senats, BVerfGE 91, 93 ≪113 ff.≫ offengelassen, vgl. auch Beschluß der 3. Kammer des Ersten Senats vom 13. Dezember 1996 - 1 BvR 1474/88 - HFR 1997, S. 251). Das Bundesverfassungsgericht hat außerdem noch nicht rechnerisch präzisiert, mit welchem Steuersatz das tatsächlich gezahlte Kindergeld in einen fiktiven Kinderfreibetrag umzurechnen ist. In dem Beschluß des Ersten Senats hat es lediglich entschieden, wann jedenfalls eine Verfassungswidrigkeit nicht gegeben sei. In derselben Entscheidung nennt es wegen der Einschätzungs- und Prognoseräume einen Richtwert von 15 %, um den das Steuerrecht den durchschnittlichen Sozialhilfebedarf allenfalls unterschreiten dürfe (vgl. BVerfGE 91, 93 ≪115 f.≫). Insbesondere der Bundesfinanzhof (BFH, DStR 1998, S. 448 ≪449≫) sieht hier noch die Notwendigkeit weiterer Klärung.
b) Diese drei Teilgrößen – die Ermittlungstechnik für den Wohnbedarf, die 15 %-Toleranzgrenze und der vergleichserhebliche Grenzsteuersatz – beeinflussen die Höhe des Kinderexistenzminimums: Die Höhe des Wohnbedarfs bestimmt die Bedarfszahlen insgesamt, der anzuwendende Grenzsteuersatz bestimmt bei der Umrechnung des Kindergeldes in einen Kinderfreibetrag unmittelbar die Höhe des gesetzlich zu berücksichtigenden Bedarfs, die Toleranzgrenze eröffnet für die Frage der Verfassungsmäßigkeit einen Beurteilungsrahmen.
5. a) Der Wohnbedarf ist nicht nach der Pro-Kopf-Methode, sondern nach dem Mehrbedarf zu ermitteln. Diese Pro-Kopf-Methode, wie sie bei den Sozialhilfewerten zugrunde gelegt wird, geht grundsätzlich von einer proportionalen Erweiterung des Wohnbedarfs mit jeder weiteren Person aus; für jede Person wird ein gleicher Anteil am Gesamtwohnraum angesetzt. Demgegenüber ist aber zu berücksichtigen, daß eine zusätzliche Person in einem bestehenden Haushalt jedenfalls keinen proportionalen Mehrbedarf an Gemeinschaftsräumen wie Küche, Bad oder Flur verursacht. Deshalb ist die Berechnung des Wohnbedarfs nach der Technik der Mehrbedarfsrechnung zugrunde zu legen, nach der gegenwärtig auch der Gesetzgeber den einkommensteuerlichen Kinderfreibetrag bemißt (vgl. Bericht über die Höhe des Existenzminimums von Kindern und Familien vom Jahr 1996, BTDrucks 13/381, S. 4 sowie Bericht über die Höhe des Existenzminimums von Kindern und Familien für das Jahr 1999, BTDrucks 13/9561, S. 4). Diese Methode erfaßt in typisierter Form den tatsächlichen zusätzlichen Aufwand für den Wohnbedarf.
b) Das sozialhilferechtlich definierte Existenzminimum bildet die Grenze für das einkommensteuerliche Existenzminimum, die über-, aber nicht unterschritten werden darf. Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts hat einen Toleranzwert von 15 % u.a. mit dem Umstand begründet, der Wohnbedarf sei bei den dort herangezogenen R i c h t w e r t e n nach der Pro-Kopf- Methode berechnet worden und nicht nach den niedrigeren Werten, die lediglich den notwendigen Mehrbedarf an Wohnraum berücksichtigen (BVerfGE 91, 93 ≪113 ff.≫ unter Hinweis auf die Stellungnahmen des Bundesministeriums für Familie und Senioren, die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ≪BVerwGE 79, 17, 20≫ und auf die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs ≪BFHE 171, 534, 539 ff.≫). Die Bedarfsberechnung nach der Pro-Kopf- Methode gelangt zu tendenziell erhöhten Werten, die eine 15 %ige Toleranz rechtfertigen können. Im Grundsatz aber fordert auch der Erste Senat eine Berücksichtigung des Existenzminimums „möglichst in allen Fällen” in präzisen, realitätsgerechten Grenzen (BVerfGE 91, 93 ≪115≫).
aa) Vorliegend wird der Berechnung der Bedarfswerte des Jahres 1987 jedoch nicht die Pro-Kopf-Methode, sondern die Mehrbedarfsmethode zugrunde gelegt. Den Bedarfszahlen liegen nicht durchschnittliche Richtwerte (so BVerfGE 91, 93 ≪112≫), sondern nur der existenznotwendige Mindestbedarf zugrunde. Diese Bedarfsgrößen zur Feststellung der Existenzminima sind jeweils nur statistisch belegte M i n d e s t beträge, die deshalb zwar überschritten, aber nicht mehr unterschritten werden dürfen (vgl. Bericht über die Höhe des Existenzminimums von Kindern und Familien vom Jahr 1996, BTDrucks 13/381, S. 4).
bb) Die Unterschreitung von statistisch ermittelten Mindestbeträgen läßt sich auch nicht durch die Aufgabe rechtfertigen, Bedarfszahlen für die Zukunft festzulegen, ohne die künftige Entwicklung sicher voraussagen zu können. Der existenznotwendige Bedarf ist nämlich in der Bundesrepublik in den vergangenen 50 Jahren regelmäßig gestiegen, nicht gesunken (Statistisches Jahrbuch 1994, S. 662). Die Anpassung des einkommensteuerlichen Existenzminimums hat mit diesen Steigerungsraten regelmäßig nicht Schritt gehalten. Deswegen wäre allenfalls ein – vorsorgliches oder kompensierendes – Überschreiten der Mindestwerte geboten.
c) Die horizontale Gleichheit gebietet die volle steuerliche Berücksichtigung des existenznotwendigen Mindestbedarfs für die Kinder aller Steuerpflichtigen, unabhängig von ihrem individuellen Grenzsteuersatz.
aa) Die Umrechnung von Kindergeld in einen Steuerfreibetrag hat den verfassungsrechtlichen Grundsatz der horizontalen Steuergerechtigkeit zu beachten, wonach Steuerpflichtige bei gleicher Leistungsfähigkeit auch gleich hoch zu besteuern sind (vgl. BVerfGE 82, 60 ≪89 f.≫). Eine steuerliche Mehrbelastung von Steuerpflichtigen mit unterhaltsbedürftigen Kindern im Vergleich zu kinderlosen Steuerpflichtigen gleicher Einkommensstufe kann nicht damit gerechtfertigt werden, Steuerpflichtige mit höherem Einkommen könnten eine geminderte steuerliche Entlastung leichter tragen. Diese Begründung ließe, sofern nur das Einkommen des betreffenden Steuerpflichtigen hoch genug ist, jede steuerliche Ungleichbehandlung gegenüber anderen Beziehern von Einkommen in gleicher Höhe zu und setzte – letztlich zu Lasten der Kinder – das Gebot der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit außer Kraft.
bb) Eine in nicht allen Fällen ausreichende einkommensteuerliche Berücksichtigung der existenznotwendigen Mindestaufwendungen für den Kindesunterhalt ist nicht mit der Notwendigkeit einer gesetzlichen Typisierung zu rechtfertigen. Jede gesetzliche Regelung muß zwar verallgemeinern (vgl. BVerfGE 82, 126 ≪151≫; 96, 1 ≪6≫), darf sich grundsätzlich am Regelfall orientieren und muß insbesondere nicht allen Besonderheiten des Einzelfalls jeweils durch Sonderregelungen Rechnung tragen. Bei der verfassungsrechtlich gebotenen (s.o. C.I.1.-3.) Berücksichtigung der existenznotwendigen Mindestaufwendungen für den Kindesunterhalt sind aber keine einzelfallbedingten Besonderheiten tatbestandlich aufzunehmen und gegebenenfalls zu typisieren; vielmehr ist ein für alle gleicher Bedarf in den einkommensteuerlichen Bedarfstatbeständen aufzunehmen.
Gestaltet der Gesetzgeber den Kinderleistungsausgleich nach dem dualen System durch Kombination von Kinderfreibetrag und Kindergeld, muß er bei der dann notwendigen Umrechnung des Kindergeldes in einen Kinderfreibetrag seine eigenen Vorgaben des Einkommensteuerrechts aufnehmen. Der Einkommensteuertarif findet in seinem gesetzlich bestimmten progressiven Verlauf Anwendung nur auf das besteuerbare Einkommen (§ 2 Abs. 5 Satz 1 EStG). Diese Bemessungsgrundlage muß um das steuerliche Existenzminimum gemindert werden, steht deshalb für eine einkommensteuerliche Belastung in der jeweils gesetzlich bestimmten Höhe – sei es zum Eingangs-, sei es zum Spitzensteuersatz – nicht zur Verfügung.
cc) Das Gebot, bei allen Steuerpflichtigen unabhängig von ihrem individuellen Grenzsteuersatz die existenznotwendigen Mindestaufwendungen für Kinderunterhalt in der Bemessungsgrundlage zu berücksichtigen, folgt auch aus dem Grundsatz der Folgerichtigkeit (vgl. BVerfGE 84, 239 ≪271≫; 87, 153 ≪170≫; 93, 121 ≪136≫). Dem Gesetzgeber ist es zwar grundsätzlich freigestellt, die kindesbedingte Minderung der Leistungsfähigkeit entweder im Steuerrecht zu berücksichtigen, ihr stattdessen im Sozialrecht durch die Gewährung eines ausreichenden Kindergeldes Rechnung zu tragen oder auch eine Entlastung im Steuerrecht und durch das Kindergeldrecht miteinander zu kombinieren (vgl. BVerfGE 82, 60 ≪84≫ mit Hinweis auf BVerfGE 43, 108 ≪123 f.≫; 61, 319 ≪354≫). Die jeweiligen Ergebnisse aus den verschiedenen Methoden müssen jedoch in ihren Auswirkungen gleichwertig sein. Dem widerspräche es, wenn bei der Umrechnung von Kindergeld in einen steuerlichen Kinderfreibetrag nicht für jeden Einkommensteuerschuldner die kindesbedingte Minderung der Leistungsfähigkeit ebenso voll berücksichtigt würde, wie es der Fall wäre, wenn diese Minderung der Leistungsfähigkeit allein durch einen steuerlichen Freibetrag Berücksichtigung fände (BVerfGE 82, 60 ≪97≫).
6. a) Wird die Höhe des existenznotwendigen Mindestbedarfs nach den von der Bundesregierung mitgeteilten Daten (vgl. oben A.IV.2.) und der neuerdings zugrunde gelegten Ermittlungsmethode – Wohnkosten nach der Mehrbedarfsmethode auf der Grundlage einer Sondererhebung des Statistischen Bundesamtes (vgl. Stellungnahme im Verfahren 2 BvR 1852/97 mit Bezugnahme auf BTDrucks 13/9561 S. 4) – berechnet, dabei jedoch von Verfassungs wegen der Mindestbedarf für alle Steuerpflichtigen – ungeachtet ihres Grenzsteuersatzes – voll berücksichtigt und auch keine Toleranzgrenze eingeräumt, so beträgt der existenznotwendige Mindestbedarf eines Kindes im Veranlagungszeitraum 1987 4.416 DM pro Kind und Jahr. Dieser Mindestbedarf errechnet sich aus dem Sozialhilferegelsatz für Kinder in Höhe von 253 DM, einmaligen Leistungen in Höhe von 40 DM, einem Mietmehrbedarf in Höhe von 62 DM und Heizkosten in Höhe von 13 DM für jedes Kind pro Monat. Daraus ergibt sich ein Monatsbedarf von 368 DM, ein Jahresbedarf von 4.416 DM.
b) Diesem von Verfassungs wegen zu berücksichtigenden Existenzminimum in Höhe von 4.416 DM steht nach der zur verfassungsrechtlichen Prüfung gestellten Gesetzeslage ein durch § 32 Abs. 6 EStG 1986/1988 und das Sozialrecht anerkannter Mindestbedarf zwischen 3.555 DM und 4.484 DM gegenüber. Beim Kläger des Ausgangsverfahrens beträgt der Grenzsteuersatz 44 %; daraus ergibt sich für ihn eine gesetzliche Berücksichtigung des Kinderexistenzminimums in Höhe von 3.847 DM; sie bleibt damit um 569 DM hinter dem von Verfassungs wegen zu berücksichtigenden Existenzminimum in Höhe von 4.416 DM zurück.
7. Die Abweichungen des gesetzlich anerkannten vom verfassungsrechtlich gebotenen Existenzminimum gibt die nachstehende Tabelle zusammenfassend wieder:
Veranlagungszeitraum 1987 1 Kind
Gesetzliche Berücksichtigung |
Bedarf |
Differenz |
bei Grenzsteuersatz |
|
|
30 % |
4.484 |
4.416 |
+ 68 |
40 % |
3.984 |
4.416 |
- 432 |
44 % |
3.847 |
4.416 |
- 569 |
50 % |
3.684 |
4.416 |
- 732 |
56 % |
3.555 |
4.416 |
- 861 |
II.
Der Bundesfinanzhof stellt die Norm des § 32 Abs. 6 EStG zur Prüfung, nicht auch die bei der Bedarfsberechnung einbezogenen kindergeldrechtlichen Vorschriften (vgl. dazu BVerfGE 82, 198 ≪206≫).
Die verfassungsrechtliche Überprüfung der einkommensteuerrechtlichen und kindergeldrechtlichen Normen führt zu dem Ergebnis, daß diese in ihrem Zusammenwirken und der dadurch erreichten Gesamtberücksichtigung des Kinderexistenzminimums den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht genügen. Der verfassungsrechtlich erhebliche Mangel kann seine Ursache damit sowohl in einem zu geringen Kinderfreibetrag als auch in einem zu niedrig bemessenen Kindergeld haben.
Dennoch ist der Prüfungsgegenstand nicht in dem Sinne zu erweitern, daß sowohl die kindergeldrechtliche als auch die einkommensteuerrechtliche Einzelregelung zur Prüfung gestellt werden muß. Im Zusammenwirken von einkommensteuerlichem Kinderfreibetrag und sozialrechtlichem Kindergeld sind beide Regelungen für sich betrachtet einer sinnvollen Prüfung zugänglich. Die Wechselbeziehung zum Kindergeldrecht eröffnet dem Gesetzgeber allerdings die Möglichkeit, den verfassungsrechtlichen Mangel auch in der Weise zu beheben, daß die kindergeldrechtlichen Regelungen den verfassungsrechtlichen Erfordernissen angepaßt werden und die beanstandete einkommensteuerrechtliche Norm des § 32 Abs. 6 EStG dann im Ergebnis bestehen bleiben kann (so auch BVerfGE 82, 60 ≪84, 97≫).
III.
Der Bundesfinanzhof wird zu prüfen haben, ob er die Einkommensteuer des Klägers des Ausgangsverfahrens auch ohne gesetzliche Änderung des § 32 Abs. 6 EStG 1986/1988 entsprechend dem Grundgedanken der §§ 163, 227 AO in der Höhe erlassen kann, die sich ergäbe, wenn das von Verfassungs wegen zu berücksichtigende Kinderexistenzminimum in Form eines Kinderfreibetrages um 569 DM erhöht wäre. Das Bundesverfassungsgericht hat eine Verfassungspflicht zum Billigkeitserlaß festgestellt, wenn die Anwendung eines nicht zu beanstandenden Gesetzes in Einzelfällen zu einem „ungewollten Überhang” führen würde (vgl. z.B. BVerfGE 48, 102 ≪116≫). In ähnlicher Weise könnte der Bundesfinanzhof sich zu der Prüfung veranlaßt sehen, im Ausgangsverfahren und in allen bei ihm anhängigen Parallelverfahren eine verfassungsrechtlich veranlaßte Herabsetzung der Steuerschuld zu prüfen, die auch ohne Durchführung eines getrennten Billigkeitsverfahrens den dort das Revisionsverfahren führenden Eltern ihr verfassungsrechtlich gebotenes Kindesexistenzminimum gewährt und damit eine gesetzliche Neuregelung mit Wirkung für zurückliegende Veranlagungsjahre und für wenige Fälle erübrigt. Anderenfalls wäre der Gesetzgeber verpflichtet, in den noch nicht bestandskräftig gewordenen Fällen die Benachteiligung der betroffenen Steuerpflichtigen zu beheben. In jedem Fall steht es ihm frei, die verfassungsrechtlich gebotene Änderung durch eine Anhebung des einkommensteuerlichen Kinderfreibetrages, durch eine Anhebung des Kindergeldes oder durch eine anderweitige Ausgleichsregelung vorzunehmen (vgl. BVerfGE 82, 60 ≪97≫; 82, 198 ≪208≫).
D.
Diese Entscheidung ist einstimmig ergangen.
Fundstellen
Haufe-Index 305001 |
BStBl II 1999, 174 (Leitsatz und Gründe) |
BVerfGE 1999, 246-268 (Leitsatz und Gründe) |
BVerfGE, 246 |
BB 1999, 2 |
DB 1999, 186 |
DB 1999, 186-191 (Leitsatz und Gründe) |
DStRE 1999, 90 |
DStRE 1999, 90-96 (Leitsatz und Gründe) |
DStZ 1999, 223 |
HFR 1999, 218 |