Verfahrensgang

OLG Celle (Beschluss vom 13.01.1999; Aktenzeichen 3 Ws 3/99)

LG Hannover (Beschluss vom 23.12.1998; Aktenzeichen 33 Qs 234/98)

LG Hannover (Beschluss vom 06.11.1998; Aktenzeichen 33 Qs 234/98)

 

Tenor

Die Beschlüsse des Landgerichts Hannover vom 23. Dezember 1998 – 33 Qs 234/98 – und des Oberlandesgerichts Celle vom 13. Januar 1999 – 3 Ws 3/99 – verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 19 Absatz 4 des Grundgesetzes. Die Beschlüsse des Landgerichts vom 23. Dezember 1998 – 33 Qs 234/98 – und des Oberlandesgerichts vom 13. Januar 1999 – 3 Ws 3/99 – werden aufgehoben. Die Sache wird an das Landgericht Hannover zurückverwiesen.

Im übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.

Das Land Niedersachsen hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.

 

Tatbestand

I.

Die Verfassungsbeschwerde betrifft eine vom Landgericht auf Beschwerde der Staatsanwaltschaft erlassene Durchsuchungs- und Beschlagnahmeanordnung.

1. a) Die Staatsanwaltschaft beantragte beim Amtsgericht den Erlaß einer Durchsuchungsanordnung für die Kanzleiräume des Beschwerdeführers wegen Verdachts der Beihilfe zum Bankrott (§ 283 Abs. 1 Nr. 1, 8 StGB) eines Mandanten, den der Beschwerdeführer ausweislich einer Gebührennote wenige Tage vor dessen Bankrotthandlung anwaltlich beraten habe. Das Amtsgericht lehnte den Antrag ab, weil die Maßnahme unverhältnismäßig sei. Auf die Beschwerde der Staatsanwaltschaft ordnete das Landgericht Hannover mit Beschluß vom 6. November 1998 die beantragte Durchsuchung sowie die Beschlagnahme einer Handakte ohne vorherige Anhörung des Beschwerdeführers an.

b) Am 8. Dezember 1998, nachdem die Durchsuchung stattgefunden hatte und die Akte beschlagnahmt worden war, legte der Beschwerdeführer über seinen Verteidiger Beschwerde gegen die Maßnahmen ein und beantragte “noch einmal richterliche Entscheidung”. Er erklärte, eine Einlassung zur Sache werde ausschließlich über seinen Verteidiger erfolgen, und beantragte, ihm vorher Akteneinsicht zu gewähren. Noch bevor sein Verteidiger Akteneinsicht erhalten hatte, entschied das Landgericht am 23. Dezember 1998, der Beschwerde werde nicht abgeholfen, und legte das Verfahren dem Oberlandesgericht Celle mit dem Hinweis vor, daß die Beschwerde unzulässig sein dürfte. Unter dem 5. Januar 1999 reichte der Beschwerdeführer beim Landgericht eine ausführliche Stellungnahme ein. Als er erfuhr, daß das Landgericht bereits entschieden und das Verfahren dem Oberlandesgericht vorgelegt hatte, rügte er mit Schriftsatz vom 8. Januar 1999 dem Oberlandesgericht gegenüber den Entzug des rechtlichen Gehörs und beantragte, den auf den Rechtsbehelf vom 8. Dezember 1998 ergangenen Beschluß des Landgerichts vom 29. Dezember 1998 – gemeint war der 23. Dezember 1998 – aufzuheben.

c) Mit Beschluß vom 13. Januar 1999 verwarf das Oberlandesgericht das Rechtsmittel als unzulässig, weil eine weitere Anfechtung der auf Beschwerde hin ergangenen Entscheidung des Landgerichts gemäß § 310 Abs. 2 StPO nicht stattfinde.

2. Mit seiner Verfassungsbeschwerde wendet sich der Beschwerdeführer gegen die Beschlüsse des Landgerichts vom 6. November und 23. Dezember 1998 und gegen den Beschluß des Oberlandesgerichts vom 13. Januar 1999. Er rügt eine Verletzung seiner Rechte aus Art. 1 Abs. 1, Art. 12 Abs. 1, Art. 101 Abs. 1 Satz 2 und Art. 103 Abs. 1 GG. Ihm sei jede Möglichkeit verwehrt worden, auf die Beschlagnahme einzuwirken. Er sei weder zur Frage der Durchsuchung noch zur Beschlagnahme gehört worden. Nicht die Strafkammer beim Landgericht Hannover, sondern die Zentrale Wirtschaftsstrafkammer beim Landgericht Hildesheim sei zuständig gewesen. Die Annahme des Tatverdachts ohne gewichtige Anhaltspunkte verletze ihn in seiner Berufsfreiheit.

3. Das Niedersächsische Ministerium der Justiz und für Europaangelegenheiten hatte Gelegenheit zur Stellungnahme.

 

Entscheidungsgründe

II.

Die Verfassungsbeschwerde wird, soweit sie sich gegen den Beschluß des Landgerichts vom 23. Dezember 1998 und den Beschluß des Oberlandesgerichts vom 13. Januar 1999 richtet, zur Entscheidung angenommen, weil dies zur Durchsetzung von Grundrechten des Beschwerdeführers angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchst. b BVerfGG). Die Kammer ist zur Sachentscheidung berufen, weil das Bundesverfassungsgericht die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits entschieden hat und die Verfassungsbeschwerde, soweit zulässig, offensichtlich begründet ist (§§ 93b Satz 1, 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).

1. Art. 19 Abs. 4 GG enthält ein Grundrecht auf effektiven und möglichst lückenlosen richterlichen Schutz gegen Akte der öffentlichen Gewalt (BVerfGE 96, 27 ≪39≫). Die Effektivität des Rechtsschutzes wird in erster Linie von den Prozeßordnungen gewährleistet, die Vorkehrungen dafür treffen, daß der Einzelne die Folgen staatlicher Eingriffe im Regelfall nicht ohne fachgerichtliche Prüfung zu tragen hat (BVerfGE 94, 166 ≪213≫). Im Rahmen der Prozeßordnungen sichert Art. 19 Abs. 4 GG dem Bürger einen substantiellen Anspruch auf eine möglichst wirksame gerichtliche Kontrolle zu (BVerfGE 81, 123 ≪129≫; 96, 27 ≪39≫). Ist dem Inhalt einer schriftlichen Erklärung eines Antragstellers in Verbindung mit Umständen, die für das Gericht offensichtlich sind, zweifelsfrei zu entnehmen, daß der Antragsteller einen Rechtsbehelf einlegen will, so wäre es eine bloße, mit einer rechtsstaatlichen Verfahrensweise nicht vereinbare Förmelei, den Rechtsbehelf allein deshalb als unzulässig anzusehen, weil die Erklärung unzulänglich formuliert ist (BVerfGE 88, 118 ≪127≫ zum Einspruch gegen ein Versämnisurteil). Bei der Kontrolle strafprozessualer Eingriffe trifft die Fachgerichte eine besondere Verpflichtung, auslegungsfähige Anträge nicht daran scheitern zu lassen, daß die Rechtslage unübersichtlich ist (BVerfGE 96, 44 ≪50≫).

2. Diesen Maßstäben werden die angegriffenen Entscheidungen des Landgerichts vom 23. Dezember 1998 und des Oberlandesgerichts vom 13. Januar 1999 nicht gerecht.

a) aa) Hat das Beschwerdegericht einer Beschwerde ohne Anhörung des Gegners stattgegeben und ist seine Entscheidung unanfechtbar, so sieht § 311a StPO vor, daß es den Gegner, sofern der ihm dadurch entstandene Nachteil noch besteht, im Nachverfahren von Amts wegen oder auf Antrag nachträglich hört und auf einen Antrag eine neue Sachentscheidung trifft (vgl. etwa Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO, 44. Aufl., 1999, § 311a, Rn. 2; Engelhardt in: Karlsruher Kommentar, StPO, 4. Aufl., 1999, § 311a, Rn. 8; Rautenberg in: Heidelberger Kommentar, StPO, 2. Aufl., 1999, § 311a, Rn. 11, 13). Dieses Nachverfahren dient der von Rechtsstaats wegen gebotenen (vgl. BVerfGE 18, 399 ≪404≫) Nachholung rechtlichen Gehörs (vgl. Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO, 44. Aufl., 1999, § 33a, Rn. 1; Engelhardt in: Karlsruher Kommentar, StPO, 4. Aufl., 1999, § 311a, Rn. 1; Rautenberg in: Heidelberger Kommentar, StPO, 2. Aufl., 1999, § 311a, Rn. 11, 13).

bb) Der Rechtsbehelf des Beschwerdeführers vom 8. Dezember 1998 zielte zweifelsfrei auf eine neue Sachentscheidung des Landgerichts über die Rechtmäßigkeit der Durchsuchung und Beschlagnahme. Er war nicht nur als Beschwerde, sondern ausdrücklich auch als Antrag auf nochmalige richterliche Entscheidung bezeichnet und richtete sich sowohl gegen die Durchsuchung als auch gegen die Beschlagnahme. Eine weitere Begründung des Rechtsbehelfs – eine Einlassung zur Sache – war angekündigt.

cc) Das Gebot eines effektiven Rechtsschutzes hätte daher verlangt, den Rechtsbehelf vom 8. Dezember 1998 jedenfalls auch als Antrag auf Durchführung des Nachverfahrens nach § 311a StPO auszulegen und – nach Anhörung des Beschwerdeführers unter Berücksichtigung seiner Stellungnahme vom 5. Januar 1999 – eine neue Sachentscheidung zu treffen. Dabei hätte das Landgericht nicht nur über die Rechtmäßigkeit der noch fortwirkenden Beschlagnahme, sondern auch über die Rechtmäßigkeit der bereits beendeten Durchsuchung entscheiden müssen. Denn Art. 19 Abs. 4 GG verlangt, daß der Betroffene bei tiefgreifenden Grundrechtseingriffen wie der Durchsuchung auch nach ihrer Beendigung – im Rahmen von der Prozeßordnung vorgesehener Verfahren – die Gelegenheit erhält, ihre Berechtigung gerichtlich klären zu lassen (BVerfGE 96, 27 ≪40≫). Im Widerspruch dazu hat das Landgericht den Rechtsbehelf vom 8. Dezember 1998 nur als unzulässige Beschwerde behandelt. Mit seiner Entscheidung vom 23. Dezember 1998 hat es dem Beschwerdeführer zugleich die von § 311a StPO vorgesehene Prüfung und Entscheidung in der Sache versagt. Dadurch hat es den Anspruch des Beschwerdeführers aus Art. 19 Abs. 4 GG auf eine möglichst wirksame gerichtliche Kontrolle verletzt.

b) Auch der Beschluß des Oberlandesgerichts vom 13. Januar 1999 verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 19 Abs. 4 GG.

aa) Gegen eine Entscheidung des Beschwerdegerichts, mit der die Durchführung des Nachverfahrens nach § 311a StPO abgelehnt wurde, ist die Beschwerde zulässig (vgl. etwa KG, Beschluß vom 2. Februar 1966, NJW 1966, 991; OLG Braunschweig, Beschluß vom 11. Mai 1971, NJW 1971, 1710; OLG Hamburg, Beschluß vom 12. November 1971, NJW 1972, 219).

bb) Der Schriftsatz des Beschwerdeführers vom 8. Januar 1999 enthielt eine solche Beschwerde zweifelsfrei. Beantragt wurde die Aufhebung der auf den Rechtsbehelf vom 8. Dezember 1998 ergangenen Entscheidung des Landgerichts, mit der die Durchführung des Nachverfahrens nach § 311a StPO versagt wurde. Gerügt wurde ausdrücklich der Entzug des rechtlichen Gehörs, dessen Nachholung das Verfahren nach § 311a StPO gerade dienen soll.

cc) Effektiver Rechtsschutz hätte daher geboten, den Schriftsatz des Beschwerdeführers vom 8. Januar 1999 als zulässige Beschwerde gegen die Ablehnung der Durchführung des Nachverfahrens auszulegen und zu bescheiden. Dennoch hat das Oberlandesgericht angenommen, daß nur ein unzulässiges Rechtsmittel des Beschwerdeführers gegen die Durchsuchungs- und Beschlagnahmeanordnung des Landgerichts vom 6. November 1998 vorliege, und hat dieses ohne Sachprüfung verworfen. Dadurch hat das Oberlandesgericht den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 19 Abs. 4 GG verletzt.

3. Bereits wegen des Verstoßes gegen Art. 19 Abs. 4 GG sind die Beschlüsse des Landgerichts Hannover vom 23. Dezember 1998 und des Oberlandesgerichts Celle vom 13. Januar 1999 aufzuheben; das Verfahren ist an das Landgericht Hannover zurückzuverweisen (§ 95 Abs. 2 BVerfGG). Daß das Landgericht Hannover hier seine Zuständigkeit bejaht hat, ist nach § 2 der Verordnung zur Regelung von Zuständigkeiten in der Gerichtsbarkeit und der Justizverwaltung vom 22. Januar 1998 (Nds. GVBl S. 66) in Verbindung mit § 74c Abs. 1 GVG nachvollziehbar und verstößt nicht gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG (vgl. dazu BVerfGE 29, 45 ≪49≫; 58, 1 ≪45≫; 87, 282 ≪285≫). Auf die übrigen Rügen des Beschwerdeführers kommt es nicht mehr an.

III.

Soweit der Beschwerdeführer die landgerichtliche Durchsuchungs- und Beschlagnahmeanordnung vom 6. November 1998 angreift, ist die Verfassungsbeschwerde unzulässig und daher nicht zur Entscheidung anzunehmen. Das Landgericht muß gemäß § 311a StPO eine erneute Sachentscheidung über die Rechtmäßigkeit der Durchsuchung und Beschlagnahme treffen. Daß der Beschwerdeführer zunächst in diesem Verfahren versuchen muß, eine Beseitigung der geltend gemachten Grundrechtsverstöße zu erreichen, gebietet der Grundsatz der Subsidiarität (§ 90 Abs. 2 BVerfGG; BVerfGE 96, 27 ≪43≫).

IV.

Da der Beschwerdeführer mit seiner Verfassungsbeschwerde überwiegend Erfolg hat, ist der Ausspruch der vollen Kostenerstattung angemessen (§ 34a Abs. 2, 3 BVerfGG).

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

 

Unterschriften

Limbach, Jentsch, Hassemer

 

Fundstellen

Haufe-Index 1276451

NJW 2000, 649

NStZ 2000, 44

NPA 2000

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