Verfahrensgang

BGH (Beschluss vom 07.11.2002; Aktenzeichen 3 StR 285/02)

LG Oldenburg (Urteil vom 18.12.2001; Aktenzeichen 4 KLs 26/00)

 

Tenor

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.

Damit erledigt sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.

 

Gründe

Die Verfassungsbeschwerde hat keine Aussicht auf Erfolg.

Die Rüge des Beschwerdeführers, das Landgericht habe die übermäßige Länge des Ausgangsverfahrens unter Verstoß gegen die vom Bundesverfassungsgericht aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip hierzu entwickelten Grundsätze nur unzureichend berücksichtigt, ist unbegründet.

1. Das Rechtsstaatsgebot des Grundgesetzes fordert – nicht zuletzt im Interesse des Beschuldigten – die angemessene Beschleunigung des Strafverfahrens. Eine von den Justizbehörden zu verantwortende erhebliche Verzögerung des Verfahrens verletzt den Beschuldigten in seinem Recht aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG auf ein rechtsstaatliches, faires Verfahren (vgl. BVerfGE 46, 17 ≪28 f.≫; Beschluss des Vorprüfungsausschusses des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 24. November 1983 – 2 BvR 121/83 –, EuGRZ 1984, S. 94 f.).

Ob die Verfahrensdauer noch angemessen ist, muss nach den Umständen des Einzelfalls beurteilt werden (vgl. Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 19. März 1992 – 2 BvR 1/91 –, NJW 1992, S. 2472 ≪2473≫; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 19. April 1993 – 2 BvR 1487/90 –, NJW 1993, S. 3254 ≪3255≫). Dabei sind zunächst jene Verfahrensverlängerungen, die durch Verzögerungen der Justizorgane verursacht worden sind, zu berücksichtigen, sodann die Gesamtdauer des Verfahrens, die Schwere des Tatvorwurfs, der Umfang und die Schwierigkeiten des Verfahrensgegenstandes sowie das Ausmaß der mit dem Andauern des Verfahrens verbundenen Belastung des Beschuldigten. Verfahrensverzögerungen, die der Beschuldigte selbst verursacht hat, werden in aller Regel nicht geeignet sein, die Feststellung einer seine Rechte verletzenden überlangen Verfahrensdauer zu begründen (vgl. Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 19. März 1992 – 2 BvR 1/91 –, NJW 1992, S. 2472 ≪2473≫; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 19. April 1993 – 2 BvR 1487/90 –, NJW 1993, S. 3254 ≪3255≫; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgericht vom 14. Juli 1994 – 2 BvR 1072/94 –, NJW 1995, S. 1277 f.; jeweils unter Hinweis auf den Beschluss des Vorprüfungsausschusses des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 24. November 1983 – 2 BvR 121/83 –, EuGRZ 1984, S. 94 f.).

Ein Strafverfahren von überlanger Dauer kann den Beschuldigten – zumal, wenn die Dauer durch vermeidbare Verzögerungen der Justizorgane bedingt ist – zusätzlichen fühlbaren Belastungen aussetzen (vgl. BVerfGE 46, 17 ≪29≫). Diese Belastungen, die in ihren Auswirkungen der Sanktion selbst gleichkommen können, treten mit zunehmender Verzögerung des Verfahrens in Widerstreit zu dem aus dem Rechtsstaatsgebot abgeleiteten Grundsatz, wonach die Strafe verhältnismäßig sein und in einem gerechten Verhältnis zum Verschulden des Täters stehen muss (vgl. BVerfGE 6, 389 ≪439≫; 20, 323 ≪331≫; 50, 5 ≪12≫; 54, 100 ≪108 f.≫; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 19. März 1992 – 2 BvR 1/91 –, NJW 1992, S. 2472 ≪2473≫; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 19. April 1993 – 2 BvR 1487/90 –, NJW 1993, S. 2354 ≪2355≫). So wie der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz allgemein dazu anhält, in jeder Lage des Verfahrens zu prüfen, ob die eingesetzten Mittel der Strafverfolgung und der Bestrafung unter Berücksichtigung der davon ausgehenden Grundrechtsbeschränkungen für den Betroffenen noch in einem angemessenen Verhältnis zum dadurch erreichbaren Rechtsgüterschutz stehen (vgl. BVerfGE 92, 277 ≪326≫; vgl. schon BVerfGE 46, 17 ≪29≫; im Zusammenhang mit einem Ordnungswidrigkeitenverfahren siehe auch Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 19. März 1992 – 2 BvR 1/91 –, NJW 1992, S. 2472 ≪2473≫; ferner Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 19. April 1993 – 2 BvR 1487/ 90 –, NJW 1993, S. 3254 ≪3255≫), verpflichtet er im Falle eines mit dem Rechtsstaatsprinzip nicht in Einklang stehenden überlangen Verfahrens zu sorgfältiger Prüfung, ob und mit welchen Mitteln der Staat gegen den Betroffenen (noch) strafrechtlich vorgehen kann.

Aus diesem Grund muss sich eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung bei der Strafzumessung auswirken, wenn sie nicht im Ausnahmefall zur Einstellung oder einem unmittelbar aus dem Rechtsstaatsgebot des Grundgesetzes herzuleitenden Verfahrenshindernis führt (vgl. Beschluss des Vorprüfungsausschusses des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 24. November 1983 – 2 BvR 121/83 –, EuGRZ 1984, S. 94; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 19. März 1992 – 2 BvR 1/91 –, NJW 1992, S. 2472 ≪2473≫; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 19. April 1993 – 2 BvR 1487/90 –, NJW 1993, S. 3254 ≪3255≫; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 14. Juli 1994 – 2 BvR 1072/94, NJW 1995, S. 1277 ≪1278≫; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 7. März 1997 – 2 BvR 2173/96 –, NStZ 1997, S. 591). Dabei liegt es schon mit Rücksicht auf das in Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK normierte Beschleunigungsgebot und dessen Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (im Folgenden: EGMR) nahe, ist aber auch im Blick auf die Bedeutung der vom Rechtsstaatsgebot des Grundgesetzes geforderten Verfahrensbeschleunigung angezeigt, dass die Fachgerichte, wenn sie in Anwendung des Straf- und Strafverfahrensrechts die gebotenen Folgen aus einer Verfahrensverzögerung ziehen, dabei die Verletzung des Beschleunigungsgebots ausdrücklich feststellen und das Ausmaß der Berücksichtigung dieses Umstands näher bestimmen (vgl. Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 19. April 1993 – 2 BvR 1487/90 –, NJW 1993, S. 3254 ≪3255≫; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 7. März 1997 – 2 BvR 2173/96 –, NStZ 1997, S. 591, jeweils unter Hinweis auf den Beschluss des Vorprüfungsausschusses des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 24. November 1983 – 2 BvR 121/83 –, EuGRZ 1984, S. 94, der seinerseits auf den Beschluss des EGMR vom 15. Juli 1982, EuGRZ 1983, S. 371 ff. ≪380 ff.≫ verweist).

2. Diesen Anforderungen wird die angegriffene Entscheidung gerecht. Ausweislich der Gründe seines Urteils vom 18. Dezember 2001 hat das Landgericht Art und Ausmaß der rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung im Einzelnen festgestellt. Dabei hat es den Verfahrensbeginn zutreffend bereits in der förmlichen Mitteilung von der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens an den Beschwerdeführer gesehen (vgl. Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 19. April 1993 – 2 BvR 1487/90 –, NJW 1993, S. 3254 ≪3256≫ unter Hinweis auf das Urteil des EGMR vom 15. Juli 1982, EuGRZ 1983, S. 371 ff. ≪379≫) und sämtliche Verfahrensteile bis zur abschließenden Gesamtstrafenbildung in den Blick genommen (vgl. Urteil des EGMR vom 15. Juli 1982, EuGRZ 1983, S. 371 ≪380≫).

Die in den Urteilsgründen dokumentierten Erwägungen, welche Zeiträume die Justizorgane für die in den verschiedenen Stadien des Ausgangsverfahrens jeweils zu veranlassenden Verfahrenshandlungen unter Berücksichtigung ihres Umfangs und ihrer Schwierigkeiten höchstens in Anspruch nehmen durften, sind zumindest vertretbar und lassen nicht befürchten, dass das Landgericht Bedeutung oder Tragweite des dem Beschwerdeführer gemäß Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG zustehenden Anspruchs auf ein angemessen beschleunigtes Verfahren verkannt haben könnte (zum Prüfungsumfang vgl. Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 19. März 1992 – 2 BvR 1/91 –, NJW 1992, S. 2472 ≪2473≫ m.w.N.).

Dies gilt zunächst für die Auffassung des Landgerichts, die anfangs auf den Haupttäter konzentrierte Ermittlungstaktik der Staatsanwaltschaft sei angesichts der Komplexität des aufzuklärenden Sachverhalts sachlich gerechtfertigt gewesen. Dass das Landgericht den Ablauf der anschließend vor seiner 5. Großen Strafkammer durchgeführten Hauptverhandlung nicht als unangemessen zögerlich angesehen hat, ist ebenfalls vertretbar. Die vom Beschwerdeführer angeführte Anzahl kurzer Verhandlungstermine ist bei einem derart umfangreichen Wirtschaftsstrafverfahren mit insgesamt über 100 Hauptverhandlungstagen nicht außergewöhnlich. Im Ausgangsverfahren erklärte sie sich – wie der Beschwerdeführer selbst ausführt – zum Teil daraus, dass die Strafkammer die Beweisaufnahme – auch auf Beanstandung der Verteidigung – auf zahlreiche Beiakten erstreckte. Schließlich ist es von Verfassungs wegen auch nicht zu beanstanden, dass das Landgericht die infolge der Durchführung eines Revisionsverfahrens verstrichene Zeit der ermittelten Überlänge nicht hinzugerechnet hat. Denn dieser Zeitbedarf folgt aus einer rechtsstaatlichen Ausgestaltung des Rechtsmittelsystems (vgl. BGH, Beschluss vom 19. Juli 2000 – 3 StR 259/00 –, BGHR, StGB, § 46 Abs. 2 Verfahrensverzögerung 15).

Die vom Landgericht festgestellte rechtsstaatswidrige Überlänge des Verfahrens von insgesamt 26 Monaten ist in dem angegriffenen Urteil neben dem erheblichen zeitlichen Abstand zwischen Tatbegehung und Aburteilung und der Belastung des Beschwerdeführers durch die lange Gesamtdauer des Strafverfahrens als eigenständiger Strafmilderungsgrund berücksichtigt worden (zur Selbständigkeit dieser Strafmilderungsgründe vgl. auch BGH, Beschluss vom 21. Dezember 1998 – 3 StR 561/98 –, BGHR, StGB § 46 Abs. 2, Verfahrensverzögerung 13). Außerdem hat das Landgericht das Ausmaß der Herabsetzung der Strafe durch einen Vergleich der mit und ohne Berücksichtigung des Verstoßes gegen das Beschleunigungsgebot angemessenen Strafe (Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten gegenüber einer fiktiven Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Jahren und neun Monaten) exakt bestimmt. Die gegen den Beschwerdeführer verhängte Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten ist im Hinblick auf die Schwere der vom Landgericht abgeurteilten sieben Betrugsstraftaten auch unter Berücksichtigung der rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung und der damit für den Beschwerdeführer verbundenen persönlichen und wirtschaftlichen Nachteile nicht unverhältnismäßig.

Von einer weiter gehenden Begründung der Entscheidung wird gemäß § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

 

Unterschriften

Hassemer, Osterloh, Mellinghoff

 

Fundstellen

Haufe-Index 905980

NJW 2003, 2228

NPA 2003, 0

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