Entscheidungsstichwort (Thema)

Selbstablehnung eines Bundesverfassungsrichters wegen Erstattung eines Rechtsgutachtens

 

Leitsatz (amtlich)

 Zu den Voraussetzungen der Selbstablehnung eines Richters (§ 19 Abs. 3 BVerfGG).

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Die Regelung des § 19 Abs. 3 BVerfGG setzt nicht voraus, daß der Richter sich selbst für befangen hält. Es genügt, daß er Umstände anzeigt, die Anlaß geben, eine Entscheidung über die Besorgnis seiner Befangenheit zu treffen, und damit zum Ausdruck bringt, eine solche Entscheidung sei geboten. Der Wortlaut weicht zwar von dem des § 48 Abs. 1 ZPO ab. Es kommt jedoch bei § 19 Abs. 3 BVerfGG ebenso wie in den anderen Verfahrensordnungen auf die Sicht eines vernünftigen Prozeßbeteiligten an.

2. Wissenschaftliche Äußerungen zu einer für das Verfahren bedeutsamen Rechtsfrage können für sich genommen kein Befangenheitsgrund sein. Anders liegt es aber, wenn die Äußerung in der Form eines Gutachtens den erkennbaren Zweck hatte, die umstrittene Position des Auftraggebers oder einer diesem nahestehenden Person oder Organisation zu unterstützen, so daß die Auftragserteilung von dem voraussehbaren Ergebnis des Gutachtens abhängig war. Hier: Gutachten für die Gewerkschaft der Eisenbahner Deutschlands bei weitgehender Identität der Interessenlage der verfassungsbeschwerdeführenden Deutschen Postgewerkschaft im Hinblick auf die streitige Rechtslage zum Beamteneinsatz beim Arbeitskampf anstelle von streikenden Arbeitnehmern.

3. Im Streitfall war der Richter befangen.

 

Normenkette

GG Art. 9 Abs. 3; BVerfGG § 19 Abs. 1, 3; ZPO § 48 Abs. 1

 

Verfahrensgang

BAG (Urteil vom 10.09.1985; Aktenzeichen 1 AZR 262/84)

LAG Köln (Entscheidung vom 23.03.1984; Aktenzeichen 6 Sa 1121/83)

 

Tatbestand

I.

1. Die Deutsche Bundespost hat beim Streik des Jahres 1980 Beamte dazu verpflichtet, Arbeiten anstelle von streikenden Arbeitnehmern auszuführen. Die beschwerdeführende Postgewerkschaft sieht sich dadurch in ihrer Koalitionsfreiheit verletzt und will erreichen, daß der Post ein Beamteneinsatz bei künftigen Arbeitskämpfen untersagt wird. Mit der Verfassungsbeschwerde werden arbeitsgerichtliche Entscheidungen angegriffen, die die Rechtmäßigkeit des Beamteneinsatzes bestätigen und einen Anspruch der Beschwerdeführerin auf künftige Unterlassung solcher Maßnahmen zurückweisen.

2. Bundesverfassungsrichter Söllner hat Umstände mitgeteilt, die nach seiner Auffassung eine Besorgnis seiner Befangenheit ohne Rücksicht darauf begründen könnten, daß er selbst sich nicht für befangen halte:

Zu den im Ausgangsverfahren und im Verfassungsbeschwerdeverfahren bedeutsamen Rechtsfragen einfachrechtlicher und verfassungsrechtlicher Art habe er in einem Aufsatz “‘Streikarbeit’ von Beamten?”, der in der Zeitschrift “Arbeit und Recht” 1982, S. 233-245, erschienen sei, Stellung genommen. Der Aufsatz sei mit seiner Zustimmung nochmals in dem Sammelband “Arbeitskampfrecht”, Köln 1983, S. 254-287, abgedruckt worden.

Dem Aufsatz liege ein Gutachten zugrunde, das er dem Hauptvorstand der Gewerkschaft der Eisenbahner Deutschlands erstattet habe. Der Gutachtenauftrag sei erst erteilt worden, nachdem aufgrund eines Gesprächs mit Repräsentanten des Hauptvorstandes festgestanden habe, zu welchen Ergebnissen er voraussichtlich kommen werde. Das Gutachten und dessen zweifache Publikation hätten aus der Sicht des Auftraggebers dem Zweck gedient, die Position der Deutschen Postgewerkschaft und ihrer Mitglieder in den anhängigen Verfahren zu unterstützen. Das sei für die Verfahrensbeteiligten ebenso wie für die interessierte Öffentlichkeit unschwer erkennbar gewesen, da die Ausführungen auf die zu beurteilenden Vorgänge im Bereich der Deutschen Bundespost ausdrücklich Bezug nähmen.

Die Gewerkschaft der Eisenbahner Deutschlands sei am Ausgang des Verfassungsbeschwerdeverfahrens in gleicher Weise interessiert wie die Deutsche Postgewerkschaft. Beide Gewerkschaften gehörten dem Deutschen Gewerkschaftsbund an. Die Zeitschrift “Arbeit und Recht” werde vom Bundesvorstand des Deutschen Gewerkschaftsbundes herausgegeben. Der Sammelband “Arbeitskampfrecht” sei mit einem Vorwort des damaligen Stellvertretenden Vorsitzenden des Deutschen Gewerkschaftsbundes versehen und im Bund-Verlag, dem Verlag des Deutschen Gewerkschaftsbundes, erschienen.

3. Die Selbstablehnung ist der Beschwerdeführerin, der Deutschen Bundespost als Beklagter des Ausgangsverfahrens und den anderen nach § 94 BVerfGG Angehörten zugestellt worden. Die Beschwerdeführerin und die Deutsche Bundespost haben dazu Stellung genommen.

Die Beschwerdeführerin trägt vor, Verfassungsrichter gerieten wegen ihrer besonderen fachlichen Qualifikation beinahe zwangsläufig in die Lage, über Rechtsfragen entscheiden zu müssen, mit denen sie sich zuvor wissenschaftlich auseinandergesetzt hätten. Dies allein begründe noch nicht die Besorgnis ihrer Befangenheit. Nachdem der Richter sich selbst nicht als befangen ansehe, bestünden gegen seine Mitwirkung keine Bedenken.

Die Deutsche Bundespost hält die Selbstablehnung für begründet. Ein im Auftrage eines Verfahrensbeteiligten erstattetes Rechtsgutachten sei ein Befangenheitsgrund. Daß die Gewerkschaft der Eisenbahner Deutschlands selbst nicht am Verfahren beteiligt sei, habe keine Bedeutung, weil die für sie maßgebliche Sach- und Rechtslage mit der im Verfassungsbeschwerdeverfahren streitigen identisch sei. Habe sich ein Bundesverfassungsrichter im Auftrag eines Verfahrensbeteiligten gutachtlich geäußert, dann bestünden objektive Gründe gegen dessen Mitwirkung. Die Prozeßbeteiligten könnten kaum annehmen, daß er sich von der so gebildeten Meinung trennen werde. Diese Einschätzung werde durch die Veröffentlichung des Auftragsgutachtens in Publikationsorganen einer der Beteiligten verstärkt.

 

Entscheidungsgründe

II.

1. Bei der Erklärung des Richters Söllner handelt es sich um eine Selbstablehnung im Sinne von § 19 Abs. 3 BVerfGG.

Die Regelung setzt nicht voraus, daß der Richter sich selbst für befangen hält. Es genügt, daß er Umstände anzeigt, die Anlaß geben, eine Entscheidung über die Besorgnis seiner Befangenheit zu treffen, und damit zum Ausdruck bringt, eine solche Entscheidung sei geboten. Der Wortlaut des § 19 Abs. 3 BVerfGG weicht zwar von dem des § 48 Abs. 1 ZPO ab. Es kommt jedoch bei § 19 Abs. 3 BVerfGG ebenso wie in den anderen Verfahrensordnungen auf die Sicht eines vernünftigen Prozeßbeteiligten an.

Die Erklärung des Richters läßt erkennen, daß er eine Senatsentscheidung über die Besorgnis seiner Befangenheit für erforderlich hält. Die in ihr mitgeteilten Umstände geben dazu auch objektiv Anlaß.

2. Die Selbstablehnung ist begründet.

a) Besorgnis der Befangenheit besteht, wenn ein am Verfahren Beteiligter bei vernünftiger Würdigung aller Umstände Anlaß hat, an der Unvoreingenommenheit des Richters zu zweifeln (vgl. BVerfGE 82, 30 ≪38≫; st. Rspr.). Wissenschaftliche Äußerungen zu einer für das Verfahren bedeutsamen Rechtsfrage können zwar für sich genommen kein Befangenheitsgrund sein. Anders liegt es aber, wenn die Äußerung in der Form eines Gutachtens den erkennbaren Zweck hatte, die umstrittene Position des Auftraggebers oder einer diesem nahestehenden Person oder Organisation zu unterstützen, so daß die Auftragserteilung von dem voraussehbaren Ergebnis des Gutachtens abhängig war. In einem solchen Fall liegen für die Verfahrensbeteiligten Zweifel an der Unvoreingenommenheit des Richters nahe. Die Sorge, daß er die streitige Rechtsfrage nicht mehr offen und unbefangen beurteilen werde, ist bei lebensnaher Betrachtungsweise verständlich.

b) Ein solcher Fall ist hier gegeben. Die Gewerkschaft der Eisenbahner Deutschlands, für die der Richter sein Gutachten erstattet hat, steht der beschwerdeführenden Deutschen Postgewerkschaft nahe. Die Interessenlage der Mitglieder beider Gewerkschaften ist im Hinblick auf die streitige Rechtslage weitgehend identisch, weil die Deutsche Bundesbahn ebenso wie die Deutsche Bundespost neben Arbeitnehmern auch Beamte beschäftigt. Es kommt hinzu, daß beide Gewerkschaften dem Deutschen Gewerkschaftsbund angehören und dadurch organisatorisch eng miteinander verbunden sind. Die Parteinähe des Gutachtens wird durch seine Veröffentlichung in einer Zeitschrift und in einem Sammelband, die beide vom Deutschen Gewerkschaftsbund herausgegeben wurden, unterstrichen. Der Richter selbst schätzt den Zweck dieser Veröffentlichungen in einleuchtender Weise dahin ein, daß damit eine publizistische Unterstützung der Rechtsposition der Beschwerdeführerin im Ausgangsverfahren beabsichtigt war.

 

Fundstellen

BVerfGE

BVerfGE, 1

StRK

NJW 1993, 2231

NJW

EuGRZ 1993, 203

EuGRZ

NVwZ 1993, 1181

NVwZ

JuS

SGb

MBl

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