Verfahrensgang

BGH (Beschluss vom 10.01.2007; Aktenzeichen 2 StR 385/06)

LG Kassel (Urteil vom 24.03.2006; Aktenzeichen 2640 Js 43260/02 1 (6) Ks)

 

Tenor

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.

 

Gründe

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen. Ein Annahmegrund gemäß § 93a Abs. 2 BVerfGG liegt nicht vor. Die Verfassungsbeschwerde ist teilweise unzulässig und ansonsten unbegründet.

I.

Die Verfassungsbeschwerde ist unzulässig, soweit der Beschwerdeführer eine Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG rügt. Die Möglichkeit einer Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör ist nicht ersichtlich.

Das Tatgericht hat sich mit den Beweisanträgen des Beschwerdeführers und seiner Sachverhaltsdarstellung auseinandergesetzt und ihm damit in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise rechtliches Gehör gewährt. Dass eine abweichende Auffassung des Gerichts der weiteren Überprüfung zugänglich sein müsse, wird durch Art. 103 Abs. 1 GG nicht gewährleistet (vgl. BVerfGE 107, 395 ≪403≫).

II.

Die Verfassungsbeschwerde ist im Übrigen unbegründet. Prüfungsmaßstab für die hier maßgebliche Frage, ob das Tatgericht mit Blick auf seine Aufklärungspflicht und das Konfrontationsrecht des Beschwerdeführers die Vernehmung der zwölf, vierzehn und fünfzehn Jahre alten Zeugen K…, M… und A… gemäß § 255a Abs. 2 StPO durch die Vorführung der Videoaufzeichnung ihrer ermittlungsrichterlichen Vernehmung ersetzen durfte, ist das Recht auf ein faires Verfahren.

1. a) Das Recht auf ein faires Verfahren gewährleistet dem Angeklagten unter anderem, zur Wahrung seiner Rechte auf den Gang und das Ergebnis des Verfahrens Einfluss zu nehmen (vgl. Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 20. Dezember 2000 – 2 BvR 591/00 –, NJW 2001, S. 2245 ≪2246≫; Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 5. Juli 2006 – 2 BvR 1317/05 –, NJW 2007, S. 204 ≪205≫; jeweils m.w.N.). Bei der Bestimmung der Beteiligungsrechte des Angeklagten sind auch die Gewährleistungen der Europäischen Menschenrechtskonvention und diese konkretisierende Leitlinien der Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu berücksichtigen (vgl. BVerfGE 111, 307 ≪323 f.≫).

Für das Konfrontationsrecht gemäß Art. 6 Abs. 3 Buchstabe d EMRK bedeutet dies, dass dem Angeklagten die effektive Möglichkeit verschafft werden muss, einen Zeugen zu befragen und dessen Glaubwürdigkeit und Zuverlässigkeit in Frage zu stellen (vgl. BGH, NJW 2003, S. 74 ≪75≫ m.w.N.). Dabei liegt ein Konventionsverstoß nur vor, wenn diese Möglichkeit bei einer Betrachtung des Verfahrens in seiner Gesamtheit nicht gegeben war (vgl. BGH, NJW 2000, S. 3505 ≪3506≫ m.w.N.). Art. 6 Abs. 3 Buchstabe d EMRK gewährleistet – wie sich schon aus dem Wortlaut ergibt (“… oder stellen zu lassen”) – nicht die höchstpersönliche Ausübung des Konfrontationsrechts durch den Angeklagten. Eine Einschränkung des Fragerechts des Angeklagten kann dadurch ausgeglichen werden, dass sein Verteidiger bei der Zeugenvernehmung anwesend ist und den Zeugen befragen kann. Gegebenenfalls muss es dem Angeklagten ermöglicht werden, nach Unterrichtung über die Vernehmung erneut Fragen an den Zeugen stellen zu lassen (vgl. BGH, NJW 2000, S. 3505 ≪3507≫; BGH, NJW 2007, S. 237 ≪238 f.≫; Sommer, in: Anwaltskommentar, StPO, 1. Aufl. 2007, Art. 6 MRK Rn. 98; jeweils m.w.N.).

b) Die Freiheit der Person darf nur aus besonders gewichtigen Gründen und unter strengen formellen Gewährleistungen eingeschränkt werden (BVerfGK 1, 145 ≪149 f.≫). Für die Verhängung einer lebenslangen Freiheitsstrafe gilt dies in besonderem Maße. Solche Gewährleistungen sehen die Strafprozessordnung und die auf ihrer Grundlage entwickelte Rechtsprechung unter anderem in Form der bei der Wahrheitsfindung des Gerichts zu beachtenden Beweisregeln vor. Verstößt das Tatgericht in willkürlicher Weise gegen solche Regeln, kann dies die Revision gegen das Urteil begründen und einen Verfassungsverstoß darstellen.

Allerdings rechtfertigt nicht jeder Verstoß gegen § 244 oder § 261 StPO und die hierzu von der Rechtsprechung aufgestellten Grundsätze das Eingreifen des Bundesverfassungsgerichts. Voraussetzung ist vielmehr, dass sich das Tat- und gegebenenfalls das Revisionsgericht so weit von der Verpflichtung entfernt haben, in Wahrung der Unschuldsvermutung bei jeder als Täter in Betracht kommenden Person auch die Gründe, die gegen die mögliche Täterschaft sprechen, wahrzunehmen, aufzuklären und zu erwägen, dass der rationale Charakter der Entscheidung verloren gegangen scheint und sie keine tragfähige Grundlage mehr für die mit einem Schuldspruch einhergehende Freiheitsentziehung sein kann (BVerfGK 1, 145 ≪152≫).

2. Nach diesem Prüfungsmaßstab liegt ein Verstoß gegen das Recht auf ein faires Verfahren nicht vor.

a) Der Verteidiger des Beschwerdeführers war bei der am 13. Februar 2003 durchgeführten und auf Bild-Tonträger aufgezeichneten ermittlungsrichterlichen Vernehmung der Zeugen K…, M… und A… zugegen. Der Beschwerdeführer hatte auf sein Anwesenheitsrecht verzichtet. Der Beschwerdeführer hatte also Gelegenheit, die Zeugen bei ihrer Vernehmung zu beobachten und ihnen unmittelbar Fragen zu stellen. Durch seinen Verteidiger nahm der Beschwerdeführer diese Gelegenheit wahr. Es ist nicht ersichtlich, warum es dem Beschwerdeführer verwehrt gewesen sei, die Zeugen dahin gehend zu befragen oder befragen zu lassen, ob die Getötete eine Abwehrbewegung gemacht habe und hierdurch der Schuss ausgelöst worden sei. Der Vortrag des Beschwerdeführers, er habe erstmals nach der ermittlungsrichterlichen Vernehmung der Zeugen gegenüber einem Polizeibeamten geäußert, es habe sich bei der Tat um einen Unfall gehandelt und er könne sich nicht erklären, wie sich der Schuss gelöst habe, läuft insoweit leer. Diese Äußerung ist für die Kenntnis des Beschwerdeführers vom Tathergang und die Möglichkeit eines entsprechenden Vorhalts ohne Aussagekraft und lässt auch keinen Rückschluss auf eine erst zu diesem Zeitpunkt spontan wiedergekehrte Erinnerung zu. Darüberhinaus war es dem Beschwerdeführer unbenommen, auch nach diesem Zeitpunkt auf eine ergänzende Befragung der Zeugen hinzuwirken, was insbesondere in zeitlicher Nähe zu seinen ersten Darstellungen der Tat als Unfallgeschehen nahe liegend gewesen wäre. Diese Gelegenheit nahm er – soweit aus dem Vortrag ersichtlich – im Ermittlungsverfahren und in der ersten Hauptverhandlung nicht wahr, sondern stellte erstmals in der erneuten Hauptverhandlung am 8. November 2005 – also mehr als zweieinhalb Jahre später – einen entsprechenden Antrag. Bei einer Betrachtung des Verfahrens in seiner Gesamtheit war also die Möglichkeit der Konfrontation der Zeugen hinreichend gewährleistet.

b) Die Entscheidung des Tatgerichts, aus Gründen des Opferschutzes die Zeugen K…, M… und A… nicht nochmals zu vernehmen, verletzt auch nicht mit Blick auf seine Pflicht zur umfassenden Wahrheitserforschung (vgl. BVerfGE 80, 367 ≪378≫; 86, 288 ≪317≫) das Recht auf ein faires Verfahren. Das Tatgericht ist verpflichtet, bei seiner Entscheidung über den Umfang der Beweisaufnahme Opferschutzinteressen in seine Erwägungen einzubeziehen (vgl. BGH, NStZ-RR 2007, S. 21). Die zum Tatzeitpunkt neun, zehn und zwölf Jahre alten Kinder waren Augenzeugen der Tötung einer ihnen nahe stehenden Person und somit unter Opferschutzgesichtspunkten selbst Opfer der Straftat. Sachverständig beraten und in Rücksprache mit den Eltern der Kinder hat das Tatgericht für den Fall einer erneuten Vernehmung die Gefahr einer Retraumatisierung der Zeugen gesehen. Hinzu kommt, dass das Tatgeschehen zum Zeitpunkt des Antrags auf Vernehmung der Zeugen fast drei Jahre zurücklag und der Beschwerdeführer die Gelegenheit einer zeitnäheren ergänzenden Befragung nicht wahrgenommen hatte. Dass das Tatgericht vor diesem Hintergrund und angesichts der widersprüchlichen Einlassungen des Beschwerdeführers ein Überwiegen der schutzwürdigen Interessen der Zeugen angenommen und von deren erneuter Konfrontation mit dem Tatgeschehen abgesehen hat, lässt sachwidrige Erwägungen nicht erkennen.

c) Die Beweiswürdigung des Tatgerichts begegnet keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Das Tatgericht hat sich eingehend mit den in ihrer ermittlungsrichterlichen Vernehmung getätigten Angaben der Zeugen M…, K… und A… auseinandergesetzt und diese Angaben auch unter Gesichtspunkten gewürdigt, die gegen ihre Richtigkeit sprechen könnten. Zusätzlich hat das Gericht außerhalb dieser Zeugenaussagen angelegte Erkenntnisse für seine Überzeugungsbildung herangezogen, insbesondere die Angaben weiterer Zeugen zum Rahmengeschehen der Tat und zum Nachtatverhalten des Beschwerdeführers sowie dessen zahlreiche wechselnde Darstellungen des Tatgeschehens. In diesen Feststellungen finden der Schuldspruch und die mit ihm einhergehende Freiheitsentziehung eine tragfähige Grundlage.

Von einer weiteren Begründung der Entscheidung wird abgesehen (§ 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG).

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

 

Unterschriften

Hassemer, Di Fabio, Landau

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1759491

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