Verfahrensgang

BGH (Urteil vom 18.01.1996; Aktenzeichen IX ZR 171/95)

 

Tenor

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.

Damit erledigt sich zugleich der Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung.

 

Gründe

Die Verfassungsbeschwerde betrifft Fragen der Inhaltskontrolle von Bürgschaftsverträgen.

I.

  • Der Ehemann der 1946 geborenen Beschwerdeführerin gründete im September 1990 ohne Eigenkapital einen Bauhandwerksbetrieb mit elf Mitarbeitern in Dresden. Die Beklagte bewilligte ihm dafür – befristet bis 30. April 1991 – einen Umlaufmittelkredit von 100.000 DM, der alsbald auf 160.000 DM aufgestockt wurde. Infolge von Überziehungen betrugen die Verbindlichkeiten im März 1991 etwas über 213.000 DM. Am 29. Juli 1991 übernahm die Beschwerdeführerin gegenüber der Beklagten die selbstschuldnerische Bürgschaft für alle bestehenden und künftigen Verbindlichkeiten aus der Geschäftsverbindung des Ehemanns mit der Beklagten bis zu einem Betrag von 200.000 DM. Daraufhin bewilligte die Beklagte dem Ehemann einen Kontokorrentkredit über diesen Betrag bis Jahresende 1991. Nachdem die Schuld bis dahin erneut auf über 208.000 DM angestiegen war, verlängerte die Beklagte den Kredit nicht. Der Handwerksbetrieb wurde eingestellt; inzwischen wurde die Eröffnung des Konkursverfahrens über das Vermögen des Ehemanns beantragt.

    Die Beschwerdeführerin, die als Lohnbuchhalterin berufstätig ist und monatlich etwas über 2.500 DM netto verdient, erkannte in einer notariellen Urkunde vom 17. Februar 1992 “zur selbständigen Begründung der Verpflichtung” an, der Beklagten 211.000 DM nebst 5 % Zinsen über dem Bundesbankdiskontsatz seit 1. Januar 1992 zu schulden. Sie unterwarf sich wegen dieser Forderung der Zwangsvollstreckung in ihr Vermögen.

  • Die Beschwerdeführerin erhob beim Landgericht Dresden Klage mit dem Ziel, die Zwangsvollstreckung aus der notariellen Urkunde vom 17. Februar 1992 für unzulässig zu erklären sowie die Nichtigkeit der Bürgschaft festzustellen. Sie hält die Bürgschaftserklärung für sittenwidrig und hat deren Anfechtung erklärt.

    Nachdem die Vollstreckungsgegenklage in zweiter Instanz beim Oberlandesgericht Dresden erfolglos geblieben war, wies der Bundesgerichtshof die Revision der Beschwerdeführerin mit Urteil vom 18. Januar 1996 zurück.

  • Zur Begründung ihrer Verfassungsbeschwerde trägt die Beschwerdeführerin im wesentlichen vor:

    Der Bundesgerichtshof habe die bestehende strukturelle Ungleichheit zwischen den Parteien des Bürgschaftsvertrages in ungenügender Weise gewürdigt. Sie selbst habe aus der Kreditgewährung keinen eigenen unmittelbaren Vorteil gezogen. Sie habe auch weder Einblick in die ausweglose wirtschaftliche Situation des Unternehmens ihres Ehemanns gehabt noch hinreichende wirtschaftliche Erfahrung besessen. Schließlich sei sie auch nicht in der Lage, die übernommene Schuld abzutragen. Alle diese Anzeichen für eine mangelnde Vertragsparität habe das Revisionsgericht verkannt und sie daher in ihrem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG verletzt.

    In der angegriffenen Entscheidung werde die Ehe als bloße wirtschaftliche Risikogemeinschaft angesehen, die haftungsbegründend wirke und der eigentliche Grund dafür gewesen sei, die Wirksamkeit des Bürgschaftsvertrages zu bejahen. Dies verstoße gegen Art. 6 Abs. 1 GG.

    Schließlich verletze die angegriffene Entscheidung Art. 103 Abs. 1 oder Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, weil der erkennende Senat von der Entscheidung BGHZ 120, 272 ff. abgewichen sei, ohne wegen dieser Divergenz ein Verfahren nach § 132 GVG durchzuführen. Diese unterschiedliche Rechtsanwendung verletze auch Art. 3 Abs. 1 GG.

II.

Die Annahmevoraussetzungen des § 93a Abs. 2 BVerfGG liegen nicht vor. Die Verfassungsbeschwerde hat keine grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung (§ 93a Abs. 2 Buchstabe a BVerfGG), weil das Bundesverfassungsgericht die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen zur Inhaltskontrolle von Bürgschaftsverträgen bereits entschieden hat (vgl. BVerfGE 89, 214 ff.). Die Annahme ist auch nicht zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte der Beschwerdeführerin angezeigt (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG), da die Verfassungsbeschwerde keine Aussicht auf Erfolg hat.

  • Ein Verstoß gegen materielle Grundrechte, insbesondere gegen Art. 2 Abs. 1 GG, ist nicht ersichtlich.

    a) Die Gestaltung der Rechtsverhältnisse durch den einzelnen nach seinem Willen ist Teil der allgemeinen Handlungsfreiheit. Art. 2 Abs. 1 GG gewährleistet die Privatautonomie als “Selbstbestimmung des Einzelnen im Rechtsleben”. Am Zivilrechtsverkehr nehmen jedoch gleichrangige Grundrechtsträger teil, die unterschiedliche Interessen und vielfach gegenläufige Ziele verfolgen. Da alle Beteiligten des Zivilrechtsverkehrs – im Vertragsrecht alle Vertragspartner – ihre individuelle, den Schutz des Art. 2 Abs. 1 GG genießende Handlungsfreiheit wahrnehmen und sich gleichermaßen auf die grundrechtliche Gewährleistung ihrer Privatautonomie berufen können, darf nicht das Recht des Stärkeren gelten. Vielmehr sind die kollidierenden Grundrechtspositionen in ihrer Wechselwirkung zu sehen und so zu begrenzen, daß sie für alle Beteiligten möglichst wirksam werden. Hat im Vertragsrecht einer der Vertragsteile ein so starkes Übergewicht, daß er den Vertragsinhalt faktisch einseitig bestimmen kann, bewirkt dies für den anderen Vertragsteil Fremdbestimmung. Allerdings darf ein Vertrag nicht bei jeder Störung des Verhandlungsgleichgewichts nachträglich in Frage gestellt oder korrigiert werden. Handelt es sich jedoch um eine typisierbare Fallgestaltung, die eine strukturelle Unterlegenheit des einen Vertragsteils erkennen läßt, und sind die Folgen des Vertrags für den unterlegenen Vertragsteil ungewöhnlich belastend, so muß die Zivilrechtsordnung darauf reagieren und Korrekturen ermöglichen. Das folgt aus der grundrechtlichen Gewährleistung der Privatautonomie (Art. 2 Abs. 1 GG) und dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1, Art. 28 Abs. 1 GG). Für die Zivilgerichte folgt daraus die Pflicht, bei der Auslegung und Anwendung der Generalklauseln darauf zu achten, daß Verträge nicht als Mittel der Fremdbestimmung dienen. Ist der Inhalt eines Vertrags für eine Seite ungewöhnlich belastend und als Interessenausgleich offensichtlich unangemessen, haben die Gerichte zu klären, ob die vereinbarte Regelung eine Folge strukturell ungleicher Verhandlungsstärke ist, und gegebenenfalls im Rahmen der Generalklauseln des geltenden Zivilrechts – namentlich der §§ 138, 242 BGB – korrigierend einzugreifen. Wie sie dabei zu verfahren haben und zu welchem Ergebnis sie gelangen müssen, ist in erster Linie eine Frage des einfachen Rechts, dem die Verfassung einen weiten Spielraum läßt. Ein Verstoß gegen die grundrechtliche Gewährleistung der Privatautonomie kommt aber dann in Betracht, wenn das Problem gestörter Vertragsparität gar nicht gesehen oder seine Lösung mit untauglichen Mitteln versucht wird (vgl. zu allem BVerfGE 89, 214 ≪231 ff.≫).

    b) Daran gemessen ist gegen die angegriffene Entscheidung von Verfassungs wegen nichts zu erinnern. Der Bundesgerichtshof hat das Problem gestörter Vertragsparität umfassend behandelt. Seine Lösung anhand des konkreten Sachverhalts liegt in den Grenzen des verfassungsrechtlich Zulässigen.

    Der gesicherte Kredit diente dem Handwerksbetrieb des Ehegatten der Beschwerdeführerin. Da aus einem wirtschaftlichen Erfolg dieses Betriebs auch die Beschwerdeführerin hätte Nutzen ziehen können, durfte davon ausgegangen werden, daß sie selbst an der Verlängerung des Kredits unmittelbar interessiert war. Auch die Begleitumstände des Vertragsschlusses gaben nach den Feststellungen der Fachgerichte keinen Anlaß zu dem Verdacht, die nicht gänzlich unerfahrene Beschwerdeführerin sei zu ihrer Bürgschaftserklärung gedrängt oder auf andere Weise in ihrer Entscheidungsfreiheit beeinträchtigt worden. Schließlich ist auch ein schützenswertes Eigeninteresse auf seiten des Darlehensgebers nicht von der Hand zu weisen. Die Beschwerdeführerin verfügt über ein eigenes Einkommen, das zwar allein nicht ausreicht, um das gewährte Darlehen voll zu bedienen. Beide Eheleute zusammen sind aber in der Lage, bei vollem Einsatz ihres pfändbaren Einkommens nicht nur die Zinsen abzudecken, sondern auch nicht ganz unerhebliche Tilgungsleistungen zu erbringen. Daß das Revisionsgericht bei dieser Sachlage den Bürgschaftsvertrag weder als bloßes Mittel der Fremdbestimmung noch als offensichtlich unangemessenen Interessenausgleich angesehen hat, ist von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden.

  • Auch eine verfassungsrechtliche Pflicht zur Vorlage an den Großen Senat für Zivilsachen gemäß § 132 Abs. 2 GVG ist nicht dargetan. Die von der Beschwerdeführerin angeführte Entscheidung (BGHZ 120, 272 ff.) verhält sich zu der Frage, unter welchen Voraussetzungen bei einem Bankkredit die Mitverpflichtung des einkommens- und vermögenslosen Ehepartners des Kreditnehmers als sittenwidrig zu bewerten ist. Diese Rechtsfrage war im vorliegenden Verfahren nicht entscheidungserheblich, weil die Beschwerdeführerin über ein eigenes Einkommen verfügt.
  • Von einer weitergehenden Begründung wird gemäß § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

 

Unterschriften

Seidl, Seibert, Hömig

 

Fundstellen

NJW 1996, 2021

ZIP 1996, 956

DNotZ 1996, 525

ZBB 1996, 238

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