Tenor

Die Verfassungsbeschwerden werden nicht zur Entscheidung angenommen.

 

Tatbestand

I.

Die Beschwerdeführerinnen und die Beschwerdeführer sind in der öffentlichen Verwaltung der neuen Bundesländer beschäftigt. Sie wenden sich mit ihren Verfassungsbeschwerden gegen die gesetzliche Verlängerung der zunächst bis 2. Oktober 1992 befristeten Sonderkündigungsregelungen in der öffentlichen Verwaltung im Beitrittsgebiet, die im Vertrag über die Herstellung der Einheit Deutschlands vom 31. August 1990 (Einigungsvertrag; Zustimmungsgesetz vom 23. September 1990 – BGBl. II S. 885 –) getroffen worden waren.

1. Nach Art. 20 Abs. 1 des Einigungsvertrages gelten für die Rechtsverhältnisse der Angehörigen des öffentlichen Dienstes zum Zeitpunkt des Beitritts die in Anlage I zu dem Vertrag vereinbarten Übergangsregelungen. Dort (Kapitel XIX, Sachgebiet A Abschnitt III Nr. 1 Absatz 4) heißt es auszugsweise:

“Die ordentliche Kündigung eines Arbeitsverhältnisses in der öffentlichen Verwaltung ist auch zulässig, wenn

1. der Arbeitnehmer wegen mangelnder fachlicher Qualifikation oder persönlicher Eignung den Anforderungen nicht entspricht oder

2. der Arbeitnehmer wegen mangelnden Bedarfs nicht mehr verwendbar ist oder

3. die bisherige Beschäftigungsstelle ersatzlos aufgelöst wird oder bei Verschmelzung, Eingliederung oder wesentlicher Änderung des Aufbaues der Beschäftigungsstelle die bisherige oder eine anderweitige Verwendung nicht mehr möglich ist.

… . Dieser Absatz tritt nach Ablauf von zwei Jahren nach dem Wirksamwerden des Beitritts außer Kraft.”

Die Geltungsdauer dieser Sonderkündigungstatbestände ist durch das angegriffene Gesetz zur Verlängerung der Kündigungsmöglichkeiten in der öffentlichen Verwaltung nach dem Einigungsvertrag vom 20. August 1992 (BGBl. I S. 1546 – Verlängerungsgesetz –) bis zum Ablauf des 31. Dezember 1993 verlängert worden.

2. Die Arbeitsverträge der Beschwerdeführer wurden nach dem 3. Oktober 1992 aufgrund der Sonderkündigungstatbestände gekündigt. Sämtliche Beschwerdeführer haben gegen die Kündigungen Klage vor den Gerichten für Arbeitssachen erhoben. In den noch anhängigen Verfahren werden die in den Kündigungsschreiben genannten Kündigungsgründe bestritten.

3. Mit ihren unmittelbar gegen das Verlängerungsgesetz gerichteten Verfassungsbeschwerden rügen die Beschwerdeführer zu I eine Verletzung ihrer Rechte aus Art. 2 Abs. 1, Art. 5 Abs. 3 und Art. 12 Abs. 1 GG, die Beschwerdeführer zu II eine Verletzung ihrer Rechte aus Art. 3 Abs. 1 und aus Art. 12 Abs. 1 GG.

Alle Beschwerdeführer tragen im wesentlichen übereinstimmend vor, die Verfassungsbeschwerden seien gemäß § 90 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG schon vor der Erschöpfung des Rechtsweges zulässig. Sie seien von allgemeiner Bedeutung. Es gehe um grundsätzliche verfassungsrechtliche Fragen. Zu klären sei, ob Bestimmungen des Einigungsvertrages durch einfaches Bundesgesetz geändert werden könnten und wie sich der Schutz des Art. 12 Abs. 1 GG bei Kündigungstatbeständen auswirke. Außerdem sei die begehrte Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts geeignet, in einer Vielzahl gleichgelagerter Fälle Klarheit zu schaffen. Insofern sei die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerden nicht anders zu beurteilen als in den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zur sogenannten Warteschleife (BVerfGE 84, 133) und zur Akademie der Wissenschaften (BVerfGE 85, 360).

Durch die Verlängerung der Sonderkündigungsmöglichkeiten würden sie, die Beschwerdeführer, gegenüber Arbeitnehmern, auf die die Vorschriften des ersten Abschnittes des Kündigungsschutzgesetzes zur Anwendung kämen, benachteiligt. Nach einer in der arbeitsgerichtlichen Rechtsprechung und Literatur überwiegend vertretenen Auffassung schlössen die Sonderkündigungsmöglichkeiten eine Geltung der kündigungsschutzrechtlichen Vorschriften aus. Insbesondere sei bei bedarfsbedingten Kündigungen nach dem Einigungsvertrag eine Sozialauswahl, wie sie in § 1 Abs. 3 Satz 1 Kündigungsschutzgesetz (KSchG) vorgesehen ist, nicht erforderlich.

 

Entscheidungsgründe

II.

Die Verfassungsbeschwerden sind unzulässig.

1. Eine für alle geltende Norm kann ein einzelner Staatsbürger nur dann direkt mit der Verfassungsbeschwerde angreifen, wenn er durch diese Norm selbst, gegenwärtig und unmittelbar in seinen Grundrechten betroffen ist (BVerfGE 65, 1 ≪36≫ m.w.N.). Unmittelbar betroffen ist er, wenn konkrete Rechtspositionen kraft Gesetzes zu einem bestimmten Zeitpunkt erlöschen oder eine zeitlich und inhaltlich hinreichend genau bestimmte Verpflichtung begründet wird, die bereits vorher spürbare Rechtsfolgen mit sich bringt (vgl. BVerfGE 53, 366 ≪389≫).

Das angegriffene Gesetz wirkt sich nur mittelbar auf die Rechtsstellung der Beschwerdeführer aus. Es läßt ihre Arbeitsverträge zunächst unverändert bestehen. Rechtswirkungen treten erst ein, wenn der Arbeitgeber innerhalb des maßgeblichen Zeitraums eine Kündigung aufgrund der Sonderkündigungstatbestände des Einigungsvertrages ausspricht. Die Rechtmäßigkeit solcher Kündigungen kann von den Arbeitsgerichten überprüft werden.

Mit dem Erfordernis der Unmittelbarkeit eines Eingriffs soll der Vorrang der Fachgerichte bei der Rechtsschutzgewährung im Einzelfall gewahrt werden. Insofern handelt es sich um eine Ausprägung des allgemeinen Subsidiaritätsprinzips, das in § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG verankert ist (Kley/Rühmann, in: Umbach/Clemens, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 1992, § 90 Rdnr. 50). Dieses Prinzip kommt auch hier zum Tragen: Die Rechtmäßigkeit einer Kündigung ist an tatsächliche und rechtliche Voraussetzungen geknüpft, zu deren Klärung die Arbeitsgerichte berufen sind. Vom Vorliegen dieser Voraussetzungen hängt es ab, ob sich die Verfassungsmäßigkeit des angegriffenen Gesetzes überhaupt auf die jeweilige Kündigung auswirkt. Insofern würde mit einer Entscheidung über die Verfassungsbeschwerden den Fachgerichten in sachlich nicht gerechtfertigter Weise vorgegriffen.

Bei den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zur sogenannten Warteschleife (BVerfGE 84, 133) und zur Akademie der Wissenschaften (BVerfGE 85, 360), auf die die Beschwerdeführer sich berufen, lagen die Dinge wesentlich anders. Hier bestand für eine Vorklärung einfachrechtlicher und tatsächlicher Fragen durch die Fachgerichte wenig Anlaß. Die diesen Entscheidungen zugrundeliegenden Regelungen des Einigungsvertrages sahen für alle davon betroffenen Arbeitnehmer generell die Beendigung der Arbeitsverträge kraft Gesetzes zu einem vorherbestimmten Tage vor. Einzelfallbezogene Voraussetzungen, die sinnvollerweise zuvor einer fachgerichtlichen Überprüfung hätten unterzogen werden sollen, gab es nicht. Das Subsidiaritätsprinzip stand daher einer Vorabentscheidung nicht entgegen.

2. Die Beschwerdeführer haben den Rechtsweg zu den Arbeitsgerichten zwar beschritten, aber noch nicht erschöpft (§ 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG). Vor der Erschöpfung des Rechtswegs kann das Bundesverfassungsgericht über eine Verfassungsbeschwerde nur entscheiden, wenn sie von allgemeiner Bedeutung ist oder dem Beschwerdeführer andernfalls ein schwerer und unabwendbarer Nachteil entstünde (§ 90 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG).

Diese Voraussetzungen liegen hier nicht vor.

a) Die Beschwerdeführer machen selbst nicht geltend, daß ihnen durch die Erschöpfung des Rechtswegs derartige Nachteile entstehen würden. Dafür ist auch nichts ersichtlich. Rechtsschutz gegen die von ihnen angegriffenen Kündigungen wird ihnen durch die Arbeitsgerichte gewährt. Diesen obliegt in erster Linie die Wahrung der verfassungsrechtlich verbürgten Rechte der Beschwerdeführer (vgl. BVerfGE 47, 144 ≪145≫; 68, 376 ≪380≫; 74, 69 ≪74 f.≫).

b) Es kann dahinstehen, ob den Verfassungsbeschwerden allgemeine Bedeutung zukommt, weil das Verlängerungsgesetz, wie die Beschwerdeführer meinen, grundsätzliche verfassungsrechtliche Probleme aufwirft und die zu erwartende Entscheidung über den Einzelfall hinaus Klarheit über die Rechtslage in einer Vielzahl gleichgelagerter Fälle schafft (BVerfGE 19, 268 ≪273≫; 27, 88 ≪97 f.≫; 68, 176 ≪185≫; 83, 162 ≪171≫; 84, 90 ≪116 f.≫; 84, 133 ≪144≫). Eine Vorabentscheidung kommt hier schon deswegen nicht in Betracht, weil die rechtliche Tragweite der Sonderkündigungstatbestände und damit auch des Verlängerungsgesetzes noch einer Klärung durch die Fachgerichte bedarf. Eine solche Klärung ist für die Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit des angegriffenen Gesetzes unabdingbar; denn die Frage, inwieweit dadurch in Grundrechte der Beschwerdeführer eingegriffen wird, hängt in erster Linie davon ab, welche Rechtswirkungen es für deren Arbeitsverträge hervorruft.

Noch ungeklärt ist vor allem die auch von den Beschwerdeführern als bedeutsam angesehene Frage, inwieweit auch bei Bedarfskündigungen nach dem Einigungsvertrag eine Sozialauswahl erforderlich ist. So ist etwa das Kreisgericht Rostock-Land (ZTR 1992, S. 34 ≪35 f.≫) der Auffassung, daß die Sonderkündigungstatbestände weder das Kündigungsschutzgesetz verdrängten noch eine Sozialauswahl ausschlössen. Andere Gerichte halten das – mit unterschiedlicher Akzentuierung – nicht für richtig (vgl. etwa: LAG Berlin vom 21. Oktober 1991, ZTR 1992, S. 76 f.; LAG Berlin vom 28. Oktober 1991, NJ 1992, S. 132 ≪133≫; ArbG Berlin vom 6. Februar 1991, NJ 1991, S. 277 = ZTR 1991, S. 210; ArbG Berlin vom 6. April 1992, NJ 1992, S. 372 ≪374≫; ArbG Berlin vom 18. April 1991, ZTR 1991, S. 340 ≪341≫). Auch in der Literatur werden kontroverse Standpunkte vertreten. Einige Autoren befürworten eine Anwendung des Kündigungsschutzgesetzes (Däubler, PersR 1991, S. 193 ≪199≫; vgl. auch ders., PersR 1992, S. 288 ≪290≫; Holzhauser, NJ 1991, S. 494 ≪495≫; Preis, PersR 1991, S. 201 ≪204≫; Seidel, PersR 1991, S. 404 ff.; Vollmer, ArbuR 1993, S. 17 ≪18, 20 f.≫). Andere treten dem entgegen (Gude, PersR 1992, S. 440 ff.; wohl auch Jeske, ZTR 1990, S. 451 ≪454≫). Eine vermittelnde Meinung spricht sich für eine Beachtung der zu § 1 KSchG entwickelten Prinzipien, insbesondere im Hinblick auf die Sozialauswahl, aus (Hueck/von Hoyningen-Huene, Kündigungsschutzgesetz, 11. Aufl., 1992, Einl. Rdnr. 75c und 75h; Säcker/Oetker, Münchener Kommentar-BGB, Ergänzungsband zur 2. Aufl., 1992, 3. Lieferung Februar 1992, Abschnitt: Zivilrecht im Einigungsvertrag, Einigungsvertrag Rdnr. 995 ff.; wohl auch Stahlhacke/Preis, Kündigung und Kündigungsschutz im Arbeitsverhältnis, 5. Aufl., 1991, Rdnr. 1381; vgl. ferner Dieterich, RdA 1992, S. 330 ≪334≫). Angesichts dieser unterschiedlichen Positionen ist eine Klärung der einfachrechtlichen Rechtsfragen durch die Fachgerichte und insbesondere durch das Bundesarbeitsgericht unerläßlich.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

 

Unterschriften

Herzog, Söllner, Kühling

 

Fundstellen

Haufe-Index 1084301

EuGRZ 1993, 208

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