Leitsatz (amtlich)

Die Ablehnung eines Zugunstenbescheides (KOV-VfG § 40 Abs 1) ist auch dann gerichtlich zu prüfen, wenn eine höhere Leistung, als sie früher durch ein rechtskräftiges Urteil (SGG § 141) zuerkannt wurde, nach gleichen Beurteilungsmaßstäben begehrt wird (Ergänzung zu BSG 1975-01-28 10 RV 173/74 = SozR 1500 § 141 Nr 2 und BSG 1975-05-22 10 RV 153/74 = SozR 3900 § 40 Nr 2).

 

Normenkette

KOVVfG § 40 Abs. 1; SGG § 141 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03; BVG § 31 Abs. 2

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 12. Februar 1974 wird aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

Der 1915 geborene Kläger war vor dem Wehrdienst als Fahrrad- und Kraftfahrzeugschlosser tätig, wurde als Soldat verwundet und arbeitete nach dem Krieg als Landwirt, Fuhrunternehmer, Schlosser und zuletzt bis 1964 als Pächter einer Stehbierhalle. Das Versorgungsamt anerkannte bei ihm "Schädigung der Kniegelenksbänder rechts, Narbe am linken Oberarm" als Schädigungsfolgen und lehnte eine Rentengewährung ab, da die schädigungsbedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) nicht mindestens 25 v. H. betrage (Bescheid vom 17. Oktober 1951, bestätigt durch Beschwerdeausschuß-Entscheidung vom 3. Oktober 1952). Der Kläger begehrte mit der Berufung (alten Rechts) Rente nach einer MdE von 40 v. H. Das Oberversicherungsamt (OVA) Lüneburg sprach ihm eine solche Rente ab 1. Juni 1951 zu. Aufgrund eines fachärztlichen Gutachtens bewertete es die Erwerbsminderung "rein medizinisch" mit 35 v. H. und erhöhte diese nach § 30 Bundesversorgungsgesetz BVG) auf 40 v. H., weil der Kläger wegen der Knieverletzungsfolgen nicht mehr in seinem erlernten Beruf als Autoschlosser arbeiten könne (Urteil vom 17. März 1953). Im Ausführungsbescheid vom 15. April 1953 erweiterte das Versorgungsamt die Leidensbezeichnung. Ein mit einer Verschlimmerung begründeter Neufeststellungsantrag vom August 1967 wurde nach einer Begutachtung abgelehnt, außerdem eine Höherbewertung der MdE nach § 30 Abs. 2 BVG deshalb, weil das OVA bereits ein besonderes berufliches Betroffensein bei der Festsetzung der MdE mit 40 v. H. berücksichtigt habe (Bescheid vom 2. November 1967). Der Widerspruch wurde zurückgewiesen (Bescheid vom 27. November 1968). Nachdem im anschließenden Rechtsstreit das Sozialgericht (SG) Lüneburg zwei Sachverständige gehört hatte, erklärte sich der Beklagte in einem Vergleich vom 13. Januar 1971 bereit, im Hinblick auf die Darlegungen des Dr. S vom selben Tag den Verschlimmerungsantrag des Klägers zugleich als Antrag auf Erteilung eines Zugunstenbescheides, mit dem eine höhere Bewertung der MdE nach § 30 Abs. 2 BVG angestrebt wird, anzusehen. Nach Ermittlungen über berufliche Tätigkeiten und Auswirkungen der Schädigungsfolgen lehnte das Versorgungsamt mit Bescheid vom 15. Juli 1971 eine Neufeststellung der Versorgungsbezüge ab, stellte fest, die MdE nach § 30 Abs. 1 und 2 BVG betrage weiterhin 40 v. H., und erweiterte die Leidensbezeichnung. Mit Bescheid vom 16. Juli 1971 lehnte es einen Zugunstenbescheid nach § 40 Abs. 1 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (VerwVG) ab, weil die MdE nach den Gutachten 30 v. H. und unter Einbeziehung eines beruflichen Schadens 40 v. H. betrage und daher die rechtsverbindliche Entscheidung nicht erkennbar unrichtig sei. Der Widerspruch gegen diesen Bescheid blieb erfolglos (Bescheid vom 27. September 1971). Das SG wies aufgrund einer Begutachtung die Klage ab (Urteil vom 15. November 1972). Mit der Berufung wiederholte der Kläger seinen Antrag, die angefochtenen Bescheide aufzuheben, und erweiterte die Verpflichtungsklage dahin, daß der Beklagte durch einen Zugunstenbescheid unter Berücksichtigung besonderen beruflichen Betroffenseins die MdE höher bewerten solle. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 12. Februar 1974): Die Klage sei unzulässig, denn nach § 141 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) binde das rechtskräftige Urteil des OVA, das teilweise denselben Streitgegenstand wie das nunmehr anhängige Begehren des Klägers betreffe, die Beteiligten. Dies verbiete eine erneute gerichtliche Entscheidung über denselben Anspruch. Wohl dürfe die Verwaltung grundsätzlich einen Zugunstenbescheid (§ 40 Abs. 1 VerwVG), wie ihn der Kläger anstrebe, erteilen, falls die frühere Entscheidung unrichtig sei, hier die Entscheidung des OVA, daß die MdE nicht wegen besonderen beruflichen Betroffenseins höher zu bewerten sei. Aber dies sei nicht gerichtlich kontrollierbar. - Das LSG hat die Revision zugelassen.

Der Kläger rügt mit der Revision eine unrichtige Anwendung des § 141 Abs. 1 SGG. Da der Beklagte den Erlaß eines Zugunstenbescheides nicht mit der Begründung abgelehnt habe, einem solchen Verwaltungsakt stehe die Rechtskraft der OVA-Entscheidung entgegen, sondern sich mit dem Vergleich verpflichtet habe, über den Antrag aufgrund einer Überprüfung zu befinden, habe er auf die Wirkung der Rechtskraft verzichtet. Hier hätten Rechtssicherheit und Rechtsfrieden gegenüber der materiellen Gerechtigkeit im Einzelfall zurücktreten müssen. Die Revision verweist auf das Urteil des 10. Senats des Bundessozialgerichts (BSG) vom 28. Januar 1975 - 10 RV 173/74 -.

Der Kläger beantragt, das Urteil des LSG aufzuheben und den Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.

Der Beklagte hat keinen Antrag gestellt und von einer Erwiderung abgesehen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist zulässig (§ 162 Abs. 1 Nr. 1, §§ 164, 166 SGG in der bis zum 31. Dezember 1974 geltenden Fassung - Art. III und VI des Änderungsgesetzes vom 30. Juli 1974 - BGBl I 1625 -). Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das LSG.

Das Berufungsgericht hat zu Unrecht die Klageabweisung mit der Begründung bestätigt, die Klage sei deshalb nicht zulässig, weil die Rechtskraft der OVA-Entscheidung vom 17. März 1953 nach § 141 Abs. 1 SGG einer gerichtlichen Kontrolle der nunmehr angefochtenen Bescheide vom 16. Juli 1971 und 27. September 1971 entgegenstehe. Das LSG hätte vielmehr - wie schon das SG - sachlich prüfen müssen, ob der Beklagte zu Unrecht die Erteilung eines Zugunstenbescheides nach § 40 Abs. 1 VerwVG abgelehnt hat. Mangels der tatsächlichen Feststellungen, die für ein solches Sachurteil erforderlich wären, muß die Sache an das Berufungsgericht zur Sachaufklärung sowie zur neuen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen werden (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).

Im Prozeßvergleich vom 13. Januar 1971 (§ 101 Abs. 1 SGG) erklärte sich der Beklagte wegen neuer sachlicher Gesichtspunkte bereit, einen Antrag auf Erteilung eines Zugunstenbescheides anzunehmen, und verpflichtete sich damit, über einen solchen Antrag neu zu entscheiden. Damit wurden seine Bescheide vom 2. November 1967 und 27. November 1968, nach denen die MdE nicht wegen besonderen beruflichen Betroffenseins gemäß § 30 Abs. 2 BVG höher als mit 40 v. H. zu bewerten ist, gegenstandslos.

Ob die Erklärung des Beklagten als "Verzicht auf die Rechtskraft" zu werten ist, kann dahinstehen. Auch nach der - zutreffenden - Auffassung des LSG "kann", d. h. darf die Verwaltung "jederzeit" durch einen Zugunstenbescheid von einem rechtsverbindlichen Verwaltungsakt (§ 77 SGG, § 24 VerwVG) abweichen. Rechtsverbindlich ist der Bescheid vom 17. Oktober 1951 in der Fassung, die er durch das abändernde OVA-Urteil erhalten hat und die in dem ergänzenden Ausführungsbescheid vom 15. April 1953 zum Ausdruck kommt. Die Rechtskraft der OVA-Entscheidung wirkt unter der Herrschaft des SGG gemäß § 141 Abs. 1 SGG fort (vgl. § 214 SGG; BSG 14, 99, 102 = SozR Nr. 8 zu § 141 SGG; für Entscheidungen des Reichsversicherungsamtes: BSG 13, 181, 185 = SozR Nr. 7 zu § 141 SGG). Nach dieser Vorschrift binden rechtskräftige Urteile die Beteiligten, soweit über den Streitgegenstand entschieden worden ist. Das OVA hat nach dem Urteilstenor entschieden, daß dem Kläger Rente entsprechend einer MdE um 40 v. H. zu gewähren ist. Ob der Beklagte von dieser Verpflichtung zugunsten des Klägers abweichen darf und muß, ist gerichtlich nachprüfbar.

Allgemein darf und soll die Verwaltung nach § 40 Abs. 1 VerwVG den Grundsatz der materiellen Gerechtigkeit auch verwirklichen, wenn dieser in Konflikt mit Prinzipien der Rechtssicherheit steht, d. h. einen solchen Zugunstenbescheid erteilen, wenn eine rechtskräftige oder rechtsverbindliche Entscheidung materiell unrichtig ist (BSG 29, 278, 281 ff = SozR Nr. 12 zu § 40 VerwVG; BSG 36, 21, 22 f = SozR Nr. 66 zu § 30 BVG). Eine solche neue Verwaltungsentscheidung ist nicht ausgeschlossen, falls das Rechtsverhältnis zuvor durch ein Gerichtsurteil rechtskräftig gestaltet worden ist. Davon geht auch das LSG aus. Dementsprechend verfährt allgemein die Verwaltungspraxis, wie der Vertreter der beklagten Verwaltung im Revisionsverfahren 10 RV 153/74 (Urteil des 10. Senats vom 22. Mai 1975, SozR 3900 § 40 Nr. 2) bestätigt hat. Dann muß auch die Entschließung der Verwaltung, von einer rechtskräftig gestalteten Rechtsbeziehung zugunsten des Antragstellers nicht abzuweichen, gerichtlich nachprüfbar sein. Das folgt zwingend aus dem Verfassungsgrundsatz des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 des Grundgesetzes (GG), daß dem Bürger der Rechtsweg offen steht falls er durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechte verletzt wird. Die entsprechende Generalklausel über die Anfechtbarkeit von Verwaltungsakten ist für die Sozialgerichtsbarkeit in § 54 Abs. 1 und 2 SGG enthalten, für die Anfechtung von Ermessensentscheidungen - wie diejenige nach § 40 Abs. 1 VerwVG - auf Grund des subjektiv-öffentlichen Rechts auf fehlerfreie Ermessensausübung (Peters Sautter/Wolff, Kommentar zur Sozialgerichtsbarkeit, § 54, Anm. 2 f., S. 185/3 f) speziell begrenzt in § 54 Abs. 2 Satz 2 SGG. Auch der 10. Senat hat in seinem Urteil vom 22. Mai 1975 die gerichtliche Nachprüfbarkeit von "positiven" ebenso wie von "negativen" Zugunstenbescheiden, d. h. im zweiten Fall der Ablehnung einer Zugunstenentscheidung, u. a. damit begründet, daß ein Ausschluß der Gerichtskontrolle mit den genannten Vorschriften unvereinbar wäre; in dieser Entscheidung wurde eine Klage gegen die Versagung eines Zugunstenbescheides für solche Fälle als zulässig erachtet, in denen die frühere Verwaltungsentscheidung vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit angegriffen und das Gerichtsverfahren durch einen Prozeßvergleich beendet worden war. Damit hat der 10. Senat sein Urteil vom 28. Januar 1975 - 10 RV 173/74 - (SozR 1500 § 141 Nr. 2) ergänzt; nach diesen steht der gerichtlichen Nachprüfbarkeit nicht entgegen, daß der frühere Bescheid, von dem die Verwaltung nicht abweichen will, durch ein rechtskräftiges Urteil bestätigt worden ist. Der erkennende Senat schließt sich dieser Rechtsprechung für Fälle der vorliegenden Art an, in denen eine Leistung durch ein abänderndes oder aufhebendes Urteil rechtskräftig zuerkannt worden ist und nun eine höhere Leistung durch einen Zugunstenbescheid begehrt wird. Ergänzend wird auf die überzeugenden Gründe der zitierten Urteile des 10. Senats, die sich auf die bisherige Rechtsprechung des BSG stützen, Bezug genommen.

Die Klage ist in solchen Fällen nicht etwa deshalb nach § 141 SGG unzulässig, weil, wie das LSG meint (so schon in Verfahren 10 RV 173/74; auch in Breithaupt 1971, 162; ebenso LSG Hamburg, Breithaupt 1971, 168; mit teilweise abweichender Begründung: Schleswig-Holsteinisches LSG, Breithaupt 1973, 486), das OVA-Urteil wenigstens teilweise denselben Streitgegenstand wie das nunmehr anhängige Verfahren betroffen hätte. Vor dem OVA war, entsprechend dem Antrag des Klägers (§ 33 der Verordnung über Geschäftsgang und Verfahren der Oberversicherungsämter vom 24.12.1911 - RGBl. I 1095 -), den "erhobenen Anspruch" (jetzt: § 123 SGG), über den entschieden worden ist (BSG 9, 17, 19 ff; 14, 99, 101), streitig, ob die Verwaltung dem Kläger zu Unrecht eine Rente versagt und ob sie ihm Rente nach einer MdE von 40 v. H. zu gewähren hatte. Dagegen ist jetzt streitig, ob der Beklagte einen Zugunstenbescheid über die Bewertung der MdE mit 50 v. H. statt mit 40 v. H., d. h. eine höhere Leistung als die rechtskräftig zuerkannte nicht hat ablehnen dürfen. Die Streitgegenstände beider Verfahren sind nicht etwa deshalb - teilweise - dieselben, weil ein Zugunstenbescheid nur dann zu erteilen ist, wenn die rechtsverbindliche Entscheidung eindeutig von Anfang an unrichtig war. Dies ist gerade die Voraussetzung dafür, daß die Verwaltung von einer rechtskräftigen Gestaltung abweichen darf und muß. Dies muß nach dem dargelegten Verfassungsgrundsatz der Gerichtskontrolle zugänglich sein. Wie die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit als besondere Verwaltungsgerichte (§ 1 SGG) allgemein zu prüfen haben, ob die Verwaltung rechtmäßig handelt, kontrollieren sie in Fällen der vorliegenden Art die Entscheidung nach § 40 VerwVG als Ausnahme von Rechtskraft und Bindungswirkung, so daß über die Leistungspflicht der Verwaltung gerade ohne Rücksicht auf § 141 SGG gerichtlich zu entscheiden ist. Die entgegenstehende Ansicht stützt das LSG zu Unrecht auf Entscheidungen, nach denen ein rechtskräftiges Urteil über die rechtliche Voraussetzung eines später anhängig gemachten Anspruches (BSG 4, 190, 191) oder die völlige Deckungsgleichheit der Streitgegenstände in beiden Prozessen (RGZ 160, 163, 165) eine abweichende Beurteilung im neuen Rechtsstreit verbieten. Eine Klage ist im übrigen nicht immer dann wegen Rechtskraftwirkung unzulässig, wenn sich bereits ein rechtskräftiges Urteil mit einer Voraussetzung des neuerdings umstrittenen Anspruchs befaßt hat (BSG 14, 99; BVerwG 29, 210, 213; BVerwG, Sammlung Buchholz 310 § 121 VwGO Nr. 8). Die vom LSG zitierten Kommentatoren der Verwaltungsgerichtsordnung befassen sich entweder überhaupt nicht mit der Rechtsfrage, auf die es das Berufungsgericht abstellt (Redeker/von Oertzen, 2. Aufl. 1969, 4. Aufl. 1971, § 121, Anmerkung 15), oder nicht mit einer Fallgestaltung wie der vorliegenden (Eyermann/Froehler, 5. Aufl. 1971, 6. Aufl. 1974, § 121, Randnr. 30 b; Klinger, 2. Aufl. 1964, § 121, Anm. D 5; Carl Hermann Ule, Verwaltungsprozeßrecht, 4. Aufl. 1966, S. 209, 212) oder haben ihre Ansicht später aufgegeben (Schunck/de Clerck, 2. Aufl. 1967, § 121, Anm. 3). Schließlich ist die Klage nicht etwa deshalb nach § 141 SGG unzulässig, weil in beiden Verfahren die Bewertung der MdE nach einem besonderen beruflichen Schaden jeweils Streitgegenstand gewesen wäre. Die besondere berufliche Betroffenheit, nach der die MdE höher als im allgemeinen Erwerbsleben (§ 30 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 BVG vom 20.12.1950 - BGBl. I 791 -, § 30 Abs. 1 BVG idF seit dem 1. NOG vom 27.6.1960 - BGBl I 453 -) zu bemessen ist (§ 30 Abs. 2 BVG idF seit dem 1. NOG), ist kein selbständiger "Anspruch" im Sinne des § 123 SGG (§ 322 ZPO), der den Streitgegenstand bestimmt. Vielmehr stellt sie einen von zwei verschiedenen Bewertungsmaßstäben für die einheitliche MdE dar, von deren Höhe die zu beanspruchende Rente abhängt (§ 30 Abs. 1 und 2, § 31 Abs. 1 und 2, § 32 BVG; BSG 36, 21, 23; BSG SozR Nr. 46 zu § 30 BVG); der Maßstab des § 30 Abs. 2 BVG n. F. galt schon, als das OVA entschied, wenn auch nicht mit weiteren Untertatbeständen, die diesen Fall nach der damaligen Sachlage nicht berühren (§ 30 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 BVG aF; BSG 15, 208, 209 f = SozR Nr. 14 zu § 62 BVG).

Da die Klage zulässig ist, muß das LSG sachlich prüfen, ob die Bemessung der MdE mit 40 v. H. unter Berücksichtigung eines besonderen beruflichen Betroffenseins unrichtig war. In rechtlicher Hinsicht ist folgendes zu beachten. Allein die Beeinträchtigung im allgemeinen Erwerbsleben, vom OVA als "rein medizinische" Erwerbsminderung bezeichnet, um 35 v. H. hat nach § 31 Abs. 2 BVG einen Rentenanspruch entsprechend einer MdE um 40 v. H. zur Folge; nach dieser Vorschrift umfassen die Hundertsätze des § 31 Abs. 1, die die Rentenbeträge bestimmen, je eine um 5 v. H. geringere MdE. Falls der Kläger außerdem besonders beruflich betroffen ist, muß sich dies in der Rentenhöhe auswirken, und das bedingt bei der üblichen Mindestbewertung des entsprechenden MdE-Anteils mit 10 v. H. (Wilke/Wunderlich, BVG, 4. Aufl. 1973, § 30, Anm. III, 2, d; Vorberg/van Nuis, Das Recht der Kriegsbeschädigten und Kriegshinterbliebenen, Bd. IV, 1970, S. 40; BSG vom 8.9.1970 - 9 RV 304/69 -) einen Rentenanspruch nach einer MdE um 50 v. H. Schon bei einer Bemessung der MdE nach § 30 Abs. 1 BVG n. F. (§ 30 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 BVG a. F.) mit 35 v. H. ergibt dies die Schwerbeschädigteneigenschaft im Sinne des § 10 Abs. 2, § 30 Abs. 3 BVG (Reichsversorgungsgericht 4, 83; BVerwG 44, 284, 286, 287; Wilke/Wunderlich, aaO, § 31, Anm. III; vgl. auch LSG Baden-Württemberg, BVBl 1958, 45; BSG 6, 99, 100). Falls indessen beim Kläger die MdE im allgemeinen Erwerbsleben (jetzt: § 30 Abs. 1 BVG n. F.) zutreffend mit bloß 30 v. H. zu bewerten wäre (so der Gerichtsarzt Dr. S im Gutachten vom 11.3.1953), müßte das LSG beachten, daß die in den Gründen des OVA-Urteils enthaltene Bemessung mit 35 v. H., die bereits die Entscheidungsformel trägt, bei der Erteilung eines Zugunstenbescheides - ebenso wie im Fall einer wesentlichen Änderung (BSG 19, 15, 16 ff = SozR Nr. 21 zu § 62 BVG; BSG 19, 77, 78 f = SozR Nr. 23 zu § 62 BVG; BSG SozR Nr. 13 zu § 30 BVG) - grundsätzlich nicht zuungunsten des Klägers berichtigt werden darf (vgl. das zur Veröffentlichung bestimmte Urteil des erkennenden Senats vom 31.7.1975 - 9 RV 354/75 - m. weit. Nachweisen). Derart ist der Beklagte in der Begründung des nicht angefochtenen und daher rechtsverbindlichen Bescheides vom 15. Juli 1971 verfahren, indem er einen MdE-Anteil von 30 v. H. nach § 30 Abs. 2 BVG um 10 v. H. aufgestockt hat. Diese Begründung ist nicht in den auf § 62 Abs. 2 BVG bezogenen Verfügungssatz, der allein verbindlich ist, aufgenommen worden, stände aber auch anderenfalls gerade einem Zugunstenbescheid nicht entgegen. Über die aufgeworfene Rechtsfrage hat der Senat nicht abschließend zu entscheiden, weil entsprechende Tatsachen nicht festgestellt sind. Ob von dem OVA-Urteil vom 17.3.1953 wegen der späteren beruflichen Entwicklung des Klägers abzuweichen ist, ist in diesem Verfahren noch nicht geprüft worden.

Dem LSG obliegt auch die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1650940

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