Verfahrensgang

LSG Niedersachsen (Urteil vom 24.02.1972)

 

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 24. Februar 1972 aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

I

Die Klägerin war bei der Debeka, Krankenversicherungsverein auf Gegenseitigkeit, beschäftigt. Vom 18. Juli 1969 an war sie wegen einer akuten Sinusitis arbeitsunfähig. Am 28. Juli 1969 (Montag) wurde sie gegen 18 Uhr bei einem Verkehrsunfall verletzt, als sie sich mit ihrem Pkw auf dem Weg zu der praktischen Ärztin Frau R. befand, bei der sie zur Untersuchung angemeldet war. Die Klägerin beabsichtigte, sich eine Bescheinigung über ihre Arbeitsfähigkeit vom 29. Juli 1969 an ausstellen zu lassen, falls die ärztliche Untersuchung zu einem entsprechenden Ergebnis führen würde. Nach der am 1. Januar 1969 in K. aft getretenen Betriebsvereinbarung der Debeka vom 14. Dezember 1968, die zwischen dem Vorstand und dem Gesamtbetriebsrat des Unternehmens abgeschlossen wurde, ist das Ende einer länger als eine Woche dauernden Arbeitsunfähigkeit durch Vorlage einer ärztlichen Bescheinigung anzuzeigen. Die Beklagte lehnte am 29. Januar 1970 eine Entschädigung mit der Begründung ab, das Aufsuchen eines Arztes zur Erlangung einer Arbeitsfähigkeitsbescheinigung sei eine eigenwirtschaftliche, dem Versicherungsschutz nicht unterliegende Tätigkeit. Das Sozialgericht Hannover hat nach Einholung einer schriftlichen Auskunft der Ärztin Frau R. vom 20. März 1971 die von der Klägerin erhobene Klage durch Urteil vom 29. Juni 1971 abgewiesen: Auch wenn der Arbeitgeber – wie hier – die Vorlage einer Arbeitsfähigkeitsbescheinigung verlange, sei die ganz überwiegend im Interesse des Erkrankten liegende Feststellung der Gesundung der wesentliche Zweck des hierzu unternommenen Weges; der Fall liege nicht anders als bei Wegen zum Abholen der ebenfalls aus arbeitsrechtlichen Gründen erforderlichen Lohnsteuer- oder Versicherungskarten. Das Sozialgericht hat die Berufung zugelassen.

Die Berufung der Klägerin, mit der sie die Verurteilung der Beklagten zur Gewährung von Verletztengeld und Rente erstrebt, hat das Landessozialgericht (LSG) durch Urteil vom 24. Februar 1972 zurückgewiesen. Zur Begründung hat das LSG ausgeführt: Die Klägerin sei im Unfallzeitpunkt nicht wesentlich im Interesse des Unternehmens tätig geworden (§ 548 der Reichsversicherungsordnung –RVO–). Die Fahrt habe sowohl privaten als auch betrieblichen Z. ecken gedient (sogen. „gemischte Tätigkeit”). Die Klägerin habe die Ärztin aufsuchen wollen, um sich ärztlich untersuchen und beraten zu lassen. Eine neuerliche Untersuchung habe zeigen sollen, ob die Arbeitsunfähigkeit fortbestand oder ob die Klägerin die Arbeit am folgenden Tag wieder aufnehmen konnte. Die Fahrt zum behandelnden Arzt, die ein Versicherter während seiner Arbeitsunfähigkeit unternehme, sei dem eigenwirtschaftlichen Bereich zuzurechnen. Beziehungen zum Betrieb, in dem der Versicherte bis zum Beginn der Arbeitsunfähigkeit beschäftigt gewesen sei, bestünden nicht. 60 liege es hier. Am Unfalltag habe die Ärztin erst nach Durchführung einer ärztlichen Untersuchung entscheiden sollen, ob die Klägerin wieder arbeitsfähig war. Die Beurteilung der Arbeitseinsatzfähigkeit durch den behandelnden Arzt und die damit verbundenen Wege seien unfallversicherungsrechtlich nicht geschützt, § 539 Abs. 1 Nr. 11 RVO sei nach dem klaren und eindeutigen Wortlaut dieser Vorschrift hier nicht anwendbar. Die Klägerin habe beabsichtigt, sich für den Fall, daß die ärztliche Untersuchung die Arbeitsfähigkeit ab 29. Juli 1969 ergeben sollte, eine entsprechende Bescheinigung ausstellen zu lassen. Der insoweit mit dem Aufsuchen der Ärztin verfolgte Zweck sei betriebsbezogen. Wege eines Versicherten zur Erfüllung einer sich aus dem bestehenden Arbeitsverhältnis ergebenden Vertragspflicht gehörten schon aus diesem Grund unmittelbar zu den im Rahmen des versicherten Beschäftigungsverhältnisses verrichteten Tätigkeiten (BSG SozR Nr. 11 zu § 550 RVO). Danach habe die Fahrt auch der Erfüllung einer der Klägerin obliegenden Arbeitsvertragspflicht gedient. Die Klägerin hätte, wenn die Untersuchung die Arbeitsfähigkeit ab 29. Juli 1969 ergeben haben würde, eine entsprechende Bescheinigung von Frau R. ausstellen lassen und ihrem Arbeitgeber vorlegen müssen. Insoweit habe die Fahrt betrieblichen Zwecken gedient. Die Beschaffung der Arbeitsfähigkeitsbescheinigung sei Voraussetzung für deren Vorlage beim Arbeitgeber gewesen. Es lasse sich jedoch nicht feststellen, daß die betrieblichen Gründe für die Fahrt wesentlich gewesen seien. Vielmehr hätten die privaten Gründe der Fahrt das Gepräge gegeben. Im Vordergrund hätten die ärztliche Untersuchung und die anschließende Beratung gestanden. Erst von deren Ergebnis sei es überhaupt abhängig gewesen, ob die Fahrt auch betrieblichen Zwecken, nämlich dem Ausstellen der Arbeitsfähigkeitsbescheinigung dienen würde. Wenn die Untersuchung der Klägerin die Arbeitsfähigkeit ab 29. Juli 1969 ergeben hätte, wäre das Ausstellen der Arbeitsfähigkeitsbescheinigung nur eine Nebenfolge der in erster Linie auf die Feststellung des Gesundheitszustandes gerichteten Untersuchung gewesen. Die entscheidende ärztliche Leistung hätte in der Durchführung der Untersuchung und in der Beurteilung der gesundheitlichen Verhältnisse bestanden. Demgegenüber wäre das Ausstellen einer Bescheinigung nur von untergeordneter Bedeutung gewesen. Es hätte sich um einen unwesentlichen Nebenzweck gehandelt. Bestimmend für die Fahrt wären die ärztliche Untersuchung und die Beratung durch Frau R. gewesen. Dieser Zweck begründe jedoch keinen Versicherungsschutz.

Gegen dieses Urteil hat die Klägerin die vom LSG zugelassene Revision eingelegt und die Verletzung des § 548 RVO gerügt. Sie hat vorgetragen: Bei der unfallbringenden Fahrt habe es sich um eine gemischte Tätigkeit gehandelt, deren auch betriebsbezogenes Ziel nicht von nur untergeordneter Bedeutung gewesen sei. Die Klägerin habe mit der Beschaffung der Arbeitsfähigkeitsbescheinigung eine Arbeitsvertragspflicht erfüllen wollen; ohne die Bescheinigung hätte sie selbst bei objektiv vorliegender Arbeitsfähigkeit nicht beschäftigt werden dürfen. Die Erfüllung einer Arbeitsvertragspflicht begründe den Versicherungsschutz für die damit zusammenhängenden Wege. Hierfür sei es rechtlich ohne Bedeutung, daß die entscheidende ärztliche Leistung in der Untersuchung und der Beurteilung des Gesundheitszustandes der Klägerin bestanden haben würde; der Ausstellung einer Arbeitsfähigkeitsbescheinigung müsse zwansgläufig eine ärztliche Untersuchung vorausgehen.

Die Klägerin beantragt,

unter Aufhebung der angefochtenen Urteile und des Bescheides des Beklagten vom 29. Januar 1970 die Beklagte zu verurteilen, Verletztengeld und Verletztenrente zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie meint, der Betriebsvereinbarung sei nicht zu entnehmen, daß die Klägerin nur nach Vorlage einer Arbeitsfähigkeitsbescheinigung wieder hätte beschäftigt werden dürfen; hiergegen spreche im übrigen auch der derzeit allgemein herrschende Personalmangel. Dem LSG-Urteil sei im Ergebnis und in der Begründung beizupflichten.

 

Entscheidungsgründe

II

Der Senat kann ohne mündliche Verhandlung entscheiden, da die Beteiligten hiermit einverstanden sind (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes).

Die – zulässige – Revision der Klägerin ist begründet. Sie führt zur Zurückverweisung der Streitsache an das LSG.

Nach den nicht angegriffenen Feststellungen des LSG war die bei der Debeka beschäftigte Klägerin seit dem 18. Juli 1969 arbeitsunfähig und im Unfallzeitpunkt am 28. Juli 1969 gegen 18,00 Uhr von ihrer Wohnung aus unterwegs zu der sie behandelnden Ärztin Frau R. bei der sie für diesen Zeitpunkt zur Untersuchung angemeldet war. Bei einem entsprechenden Ergebnis der ärztlichen Untersuchung und Beratung wollte sie sich eine Arbeitsfähigkeitsbescheinigung ausstellen lassen. Zu deren Vorlage beim Arbeitgeber war sie verpflichtet aufgrund der Betriebsvereinbarung zwischen dem Vorstand und dem Gesamtbetriebsrat des Unternehmens, nach der das Ende einer länger als eine Woche dauernden Arbeitsunfähigkeit durch Vorlage einer ärztlichen Bescheinigung anzuzeigen ist.

Aufgrund dieser Sachlage hat das LSG zutreffend angenommen, daß die Fahrt der Klägerin im Unfallzeitpunkt sowohl privaten als auch betrieblichen Zwecken gedient hat und deshalb als sog. „gemischte Tätigkeit” anzusehen ist (vgl. BSG 3, 240, 245; 20, 215, 217). Auf den zur Heilbehandlung notwendigen Wegen steht nach § 555 idF des Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetzes (UVNG) der Verletzte insofern unter Versicherungsschutz, als ein auf diesem Weg eingetretener Unfall als Folge des voraufgegangenen Arbeitsunfalls gilt. Den tatsächlichen Feststellungen des LSG ist mangels entgegenstehender Anhaltspunkte hinreichend zu entnehmen, daß die Krankheit der Klägerin und die dadurch bedingte Arbeitsunfähigkeit nicht auf einen Arbeitsunfall zurückzuführen sind. Die Einführung des § 555 RVO durch das UVNG Wurde damit begründet, die frühere Rechtsprechung, nach der ein ursächlicher Zusammenhang zwischen dem Weg zum Arzt aus Anlaß eines Arbeitsunfalls und der versicherten Tätigkeit im Regelfall zu verneinen sei, weil das eigene Interesse des Versicherten an der ärztlichen Beratung und Behandlung regelmäßig überwiege, trage den besonderen sozialpolitischen Bedürfnissen nicht immer hinreichend Rechnung (vgl. Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1.-7. Aufl. S. 488h mit Nachweisen). Die Auffassung, daß ein betriebliches Interesse im Regelfall nicht gegeben ist, wenn der Arzt nicht wegen der Folgen eines Arbeitsunfalls aufgesucht wird, hat hiernach Bestand auch für die Zeit nach Inkrafttreten des UVNG.

Allerdings hat im vorliegenden Fall die Klägerin die Ärztin zumindest auch zu dem Zweck aufgesucht, sich eine Arbeitsfähigkeitsbescheinigung ausstellen zu lassen für den Fall, daß die Untersuchung nicht die Notwendigkeit weiterer Heilbehandlung, sondern die Wiederherstellung ihrer Arbeitsfähigkeit ergeben sollte. Die Beibringung einer solchen Arbeitsfähigkeitsbescheinigung war eine ihr aus dem Arbeitsverhältnis obliegende Verpflichtung. Zutreffend hat das LSG die zur Erfüllung der aus dem Arbeitsverhältnis sich ergebenden Vertragspflicht verrichtete Tätigkeit als dem Beschäftigungsverhältnis der Klägerin zurechenbar angesehen (vgl. BSG SozR Nr. 11 zu § 550 RVO). Es ist jedoch zu Unrecht der Auffassung, die solchermaßen betrieblich gekennzeichneten Gründe für das Aufsuchen der Ärztin seien für die unfallbringende Fahrt nicht wesentlich gewesene. Ersichtlich geht das LSG von der Rechtsprechung aus, nach der Wege, die sowohl den Interessen des Unternehmens als auch privaten Interessen des Versicherten dienen und sich – wie hier – nicht eindeutig in einen unternehmensbedingten und einen unternehmensfremden Teil zerlegen lassen, als gemischte Tätigkeiten unter Versicherungsschutz stehen, wenn sie dem Unternehmen wesentlich dienen (BSG 3, 240; 20, 215; Brackmann aaO S. 480s II). Zu Unrecht ist das LSG jedoch aufgrund der tatsächlichen Feststellungen zu der rechtlichen Wertung gelangt, es habe sich nicht feststellen lassen, daß die betrieblichen Gründe für die Fahrt wesentlich gewesen seien. Wie die Revision zutreffend geltend gemacht hat, kommt es für die Beantwortung der Frage, ob der von der Klägerin mit der Fahrt zur Ärztin auch verfolgte Zweck, gegebenenfalls die vom Arbeitgeber geforderte Arbeitsfähigkeitsbescheinigung ausgestellt zu bekommen, für die unfallbringende Fahrt ein wesentlicher (nicht notwendig der überwiegende) Anlaß gewesen ist, nicht darauf an, ob die von der untersuchenden Ärztin erwartete Leistung hauptsächlich in der Untersuchung und der Beurteilung der gesundheitlichen Verhältnisse der Klägerin bestanden haben würde. Selbst wenn die Klägerin überwiegend daran interessiert gewesen sein sollte, durch die ärztliche Untersuchung über ihren Gesundheitszustand informiert zu werden, kann ihr Interesse, sich im Falle der Bestätigung ihrer wiederhergestellten Arbeitsfähigkeit die aufgrund der Arbeitsvertragspflicht erforderliche Bescheinigung darüber aushändigen zu lassen, nicht als rechtlich unwesentlich Erachtet werden. Daran ändert entgegen der Auffassung des LSG nichts, daß im Unfall Zeitpunkt noch ungewiß war, ob das Ergebnis der Untersuchung die Ausstellung einer Arbeitsfähigkeitsbescheinigung rechtfertigen würde. Da die Klägerin mit dieser Möglichkeit und deshalb damit rechnen mußte, am folgenden Tag ihre Beschäftigung wieder aufnehmen zu müssen, konnte sie jedenfalls nach ihrer Vorstellung – was ausreichend ist – davon ausgehen 9 daß die Fahrt auch dem Unternehmen wesentlich diente (vgl. BSG 20, 215). Die Klägerin stand somit im Unfallzeitpunkt nach § 548 i.V.m. § 539 Abs. 1 Nr. 1 RVO unter Versicherungsschutz.

Den tatsächlichen Feststellungen des LSG ist nicht hinreichend zu entnehmen, welche Unfallfolgen vorliegen oder vorgelegen haben, insbesondere ob die Folgen des Unfalls die begehrte Verurteilung der Beklagten zur Gewährung von Rente und Verletztengeld rechtfertigen. Die Sache war deshalb unter Aufhebung des angefochtenen Urteils zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Die Kostenentscheidung bleibt der abschließenden Entscheidung des LSG vorbehalten.

 

Unterschriften

Küster, Friedrich, Dr. Krasney

 

Fundstellen

Dokument-Index HI926476

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Deutsches Anwalt Office Premium. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge