Entscheidungsstichwort (Thema)

Selbstverstümmelung vor dem Wehrdienst. Todesstrafe

 

Leitsatz (amtlich)

Eine Strafmaßnahme, die als offensichtliches Unrecht anzusehen ist (vollstrecktes Todesurteil), kann iS des BVG § 1 Abs 2 Buchst d mit dem militärischen Dienst auch dann zusammenhängen, wenn die Tat, wegen der sie verhängt wurde (Selbstverstümmlung), bereits vor dem Gestellungstag begangen wurde.

 

Leitsatz (redaktionell)

Das Todesurteil und seine Vollstreckung sind als offensichtliches Unrecht gemäß BVG § 1 Abs 2 Buchst d anzusehen, wenn die Todesstrafe nachträglich durch gerichtlichen Beschluß aufgehoben wurde.

 

Normenkette

BVG § 1 Abs. 2 Buchst. d Fassung: 1950-12-20

 

Tenor

Auf die Revision der Kläger werden die Urteile des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 25. Januar 1963 und des Sozialgerichts Hildesheim vom 29. November 1960 sowie der Bescheid vom 24. Mai 1954 und der Widerspruchsbescheid vom 16. Juli 1958 aufgehoben.

Der Beklagte wird dem Grunde nach verurteilt, den Klägern ab 1. September 1953 Witwen- und Waisenrente nach dem am 14. Oktober 1943 verstorbenen H B zu zahlen.

Der Beklagte hat den Klägern die außergerichtlichen Kosten aller Rechtszüge zu erstatten.

 

Gründe

Der Ehemann und Vater der Kläger (B.) erhielt am 5. Januar 1941 den Gestellungsbefehl, am 15. Januar 1941 in Hannover den Wehrdienst anzutreten. Am 13. Januar 1941 schlug er sich zwei Finger der rechten Hand ab. Am 16. Januar meldete er sich bei seinem Truppenteil, wurde ins Lazarett eingewiesen, alsbald in Untersuchungshaft genommen und durch Urteil des Sondergerichts beim Landgericht in Hannover vom 4. September 1943 wegen Selbstverstümmelung nach § 5 Abs. 1 Nr. 3 der Kriegssonderstrafrechtsverordnung (KSStVO) vom 17. August 1938 (RGBl 1939, I, 1455) zum Tode verurteilt. Er wurde am 14. Oktober 1943 hingerichtet.

Durch rechtskräftigen Beschluß des Oberlandesgerichts (OLG) Celle vom 31. Januar 1958 wurde das die Todesstrafe aussprechende Urteil in Freiheitsstrafe wegen Selbstverstümmelung abgeändert und auf Grund der Verordnung über die Gewährung von Straffreiheit vom 3. Juni 1947 (VOBl Brit. Zone S. 68) für diese Strafe Straffreiheit gewährt.

1953 beantragten die Kläger Hinterbliebenenversorgung nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG). Versorgungsantrag, Widerspruch und Klage blieben erfolglos. Die Berufung der Kläger wies das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen durch Urteil vom 25. Januar 1963 zurück. Voraussetzung des Versorgungsanspruchs sei eine durch militärischen oder militärähnlichen Dienst erlittene Schädigung, der eine Schädigung durch eine mit militärischem Dienst zusammenhängende Strafmaßnahme gleichstehe, wenn diese den Umständen nach als offensichtliches Unrecht anzusehen sei. Das der Hinrichtung zugrunde liegende Strafurteil stehe mit militärischem oder militärähnlichem Dienst in keinem Zusammenhange, denn dieser Dienst beginne grundsätzlich erst mit dem Dienstantritt am Gestellungstag, keinesfalls aber vor Beginn des Weges zum Gestellungsort. Deshalb habe der militärische Dienst des B. zur Zeit der später mit dem Tode bestraften Handlung noch nicht begonnen. Damit entfalle der notwendige Zusammenhang der Hinrichtung des B. mit militärischem oder militärähnlichem Dienst. Daß sich B. vor seiner Verurteilung an den Gestellungsort begeben habe, ändere hieran nichts, denn die Handlung, deretwegen die Verurteilung erfolgt sei, sei - im Gegensatz zu dem in BSG 12, 216 entschiedenen Fall - vor Eintritt in den militärischen Dienst abgeschlossen gewesen. Darum komme es nicht darauf an, ob das die Hinrichtung anordnende Strafurteil als offensichtliches Unrecht anzusehen sei.

Mit der nicht zugelassenen Revision rügen die Kläger, das LSG habe die Grenzen seines Rechts freier richterlicher Beweiswürdigung überschritten, weil es gegen Denkgesetze verstoßen und dadurch § 128 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) verletzt habe. Straftatbestand in seiner eigentlichen kausalen Verknüpfung mit dem Ausspruch des Todesurteils und dessen Vollstreckung sei nicht die am 13. Januar 1941 vollzogene Selbstverstümmelung, sondern die dadurch verursachte Unmöglichkeit einer Verwendung als Soldat nach der Meldung am Standort. Es wäre niemandem eingefallen, B. wegen seiner Tat am eigenen Leibe strafrechtlich zur Rechenschaft zu ziehen, wenn er nicht als Soldat einem Sonderstatus unterstellt gewesen wäre, der auf der Grundlage der KSStVO zum Todesurteil führte. Deshalb könne sich auch § 1 Abs. 2 Buchst. d BVG kausal nur auf die Folgen der Tat, nämlich die durch sie geschaffene Dienstunfähigkeit, nicht aber auf den Zeitpunkt der Tat beziehen. Das LSG habe die Verurteilung und Vollstreckung als offensichtliches Unrecht im Sinne des § 1 Abs. 2 Buchst. d BVG ansehen müssen. Es habe nicht davon ausgehen dürfen, daß der Tod des B. nicht durch wehrdienstliche Einflüsse, sondern letzten Endes durch sein eigenes Verhalten verursacht worden sei.

Die Revision beantragt,

unter Aufhebung des Bescheides vom 24. Mai 1954 idF des Widerspruchsbescheides vom 16. Juli 1958 sowie der Urteile des Sozialgerichts Hildesheim vom 29. November 1960 und des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 25. Januar 1963 den Beklagten dem Grunde nach zu verurteilen, den Klägern ab 1. September 1953 die beantragte Hinterbliebenenversorgung zu gewähren,

hilfsweise,

die Sache unter Aufhebung des angefochtenen Urteils zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Der Beklagte beantragt,

die Revision als unzulässig zu verwerfen.

Er hält das angefochtene Urteil für rechtlich einwandfrei.

Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§§ 164, 166 SGG). Sie ist auch statthaft, denn die Kläger rügen zutreffend einen wesentlichen Mangel im Verfahren des LSG (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG), der vorliegt.

Die Revision erblickt einen Verstoß gegen § 128 SGG darin, daß das LSG die Handlung des B. nicht ausreichend unter dem Gesichtspunkt des militärischen Dienstes und des durch den militärischen Dienst begründeten Sonderstatus gesehen und gewürdigt und außerdem verkannt habe, daß als Schädigungstatbestand nicht die Selbstverstümmelung, sondern das Todesurteil der rechtlichen Beurteilung zugrunde zu legen war. Diese Rügen treffen zu. Für die Frage, ob das Verfahren des LSG an einem wesentlichen Mangel leidet, kommt es auf den sachlich-rechtlichen Standpunkt des LSG, nicht des Revisionsgerichts an (BSG in SozR SGG § 162 Bl. Da 3 Nr. 20, Da 21 Nr. 79). Das LSG hat dem Zusammenhang des der Hinrichtung zugrunde liegenden Urteils mit dem militärischen Dienst schon deshalb verneint, weil die Handlung, die zu dem Todesurteil geführt hat, bereits vor dem Beginn des militärischen Dienstes abgeschlossen war. Darum scheide ein Zusammenhang der Strafmaßnahme mit militärischem oder militärähnlichem Dienst im Sinne des § 1 Abs. 2 Buchst. d BVG aus. Das LSG hat jedoch schon in tatsächlicher Hinsicht die Bedeutung verkannt, die der Handlung des B. und der Strafvorschrift gegen Selbstverstümmelung nicht nur für die Zeit vor der Einberufung, sondern auch für den militärischen Dienst selbst zukam, nachdem B. am 16. Januar 1941 den Gestellungsbefehl befolgt hatte und Soldat geworden war. Das Sondergericht hat B. zwar nicht wegen einer fortgesetzten Handlung, sondern wegen der strafrechtlich am 13. Januar 1941 abgeschlossenen Selbstverstümmelung nach § 5 Abs. 1 Nr. 3 KSStVO verurteilt. Die Folgen dieser Tat haben aber die Tauglichkeit des B. für den militärischen Dienst allgemein und auch für den Dienst, den er am 16. Januar 1941 angetreten hat, beeinträchtigt. Nach § 5 KSStVO wurde wegen Zersetzung der Wehrkraft mit dem Tode, in minder schweren Fällen mit Zuchthaus oder Gefängnis, bestraft, wer es unternahm, sich oder einen anderen durch Selbstverstümmelung, durch ein auf Täuschung berechnetes Mittel oder auf andere Weise der Erfüllung des Wehrdienstes ganz, teilweise oder zeitweise zu entziehen. Diese Vorschrift beruht auf einer gleicherweise für die Zeit vor wie nach der Einberufung geltenden und zur Sicherung des militärischen Dienstes befohlenen Unterlassungspflicht, deren Verletzung schon in § 81 des Militärstrafgesetzbuches (MStGB) vom 10. Oktober 1940 (RGBl I, 1347) unter Strafe gestellt war; diese Bestimmung war nach § 6 II KSStVO während der Geltungsdauer dieses Gesetzes nicht anzuwenden. Die Selbstverstümmelung wurde nach den §§ 1, 6 a MStGB auch für die vorläufig in die Heimat beurlaubten ausgehobenen Wehrpflichtigen schon als militärische Straftat geahndet; daß B. im Zeitpunkt der Selbstverstümmelung zu diesem Kreis von Personen gehörte und auch früher schon eingezogen gewesen war, hat bereits das OLG, auf dessen Beschluß sich das LSG gestützt hat, festgestellt. Daraus ergibt sich, daß die Selbstverstümmelung zum Zwecke, sich der Einberufung zu entziehen, als eine unmittelbare Verletzung militärischer Pflichten angesehen wurde. Daran hat sich auch durch die verschärfte Strafbestimmung des § 5 KSStVO nichts geändert. Der noch nicht zum Wehrdienst einberufene Wehrpflichtige wurde nach § 6 a MStGB und § 2 Nr. 2 Buchst. b der Kriegsstrafverfahrensordnung (KStVO) vom 17. August 1938 (RGBl 1939, I 1457) strafrechtlich wie ein Soldat behandelt. Dieser Regelung lag die Auffassung zugrunde, daß derjenige, der eine Selbstverstümmelung in voller Voraussicht ihrer Folgen begeht und somit seine Tauglichkeit für den künftigen militärischen Dienst beeinträchtigt oder beseitigt, gegen die sich aus der Wehrdienstpflicht ergebenden Verpflichtungen verstößt. Der von B. bezweckte Erfolg, sich dem Wehrdienst zu entziehen, konnte zwar erst mit dem Gestellungstag eintreten. Ob die Tat während des militärischen Dienstes oder unmittelbar vor dessen Beginn begangen wurde, änderte aber nichts an ihrem Wesen als einem schweren Verstoß gegen die Wehrdienstpflicht, da sie allein auf einen gesundheitlichen Dauerzustand abzielte, der dann bei Beginn des militärischen Dienstes unabänderlich gegeben war. Das LSG hätte sich daher veranlaßt sehen müssen, den Sachverhalt, dessen Besonderheit in dieser, schon vor Dienstbeginn erfolgten Verletzung der Wehrdienstpflicht bestand, näher zu würdigen und nicht lediglich auf den äußeren Umstand des noch nicht begonnenen aktiven Dienstes abzustellen. Das LSG war dieser Prüfung nicht schon deshalb enthoben, weil es der Auffassung war, daß eine Schädigung nach § 1 Abs. 2 Buchst. d BVG den Beginn des militärischen Dienstes voraussetze; denn bei einer vollständigen Würdigung des Gesamtergebnisses des Verfahrens hätte es nicht unbeachtet lassen können, daß die "Schädigung", wegen der ein Versorgungsanspruch geltend gemacht wurde, die nach Dienstantritt ausgesprochene, offensichtlich ungerechtfertigte Todesstrafe war und daß die Selbstverstümmelung, die allein zur Todesstrafe führte, sich für den militärischen Dienst erst nach Dienstbeginn auswirken konnte. B. hatte sich gerade für den unmittelbar bevorstehenden militärischen Dienst in einen Zustand versetzt, der seine Tauglichkeit erheblich herabsetzte und nicht mehr rückgängig zu machen war; für diesen Zustand war er - unabhängig von der strafrechtlichen Beurteilung - voll verantwortlich, weil er ihn absichtlich herbeigeführt hatte. Weil das LSG diese Besonderheit des Falles nicht denkgesetzlich einwandfrei beurteilt bzw. nicht ausreichend in Betracht gezogen und damit den Sachverhalt nur unvollständig gewürdigt hat, hat es § 128 SGG verletzt.

Das angefochtene Urteil beruht auch auf dem gerügten Verfahrensmangel; es ist nicht auszuschließen, daß das LSG ohne den Verstoß gegen § 128 SGG anders entschieden hätte (vgl. BSG 2, 197). Daher war das Urteil des LSG aufzuheben (§ 170 Abs. 2 SGG).

Der Senat konnte in der Sache selbst entscheiden. Die von der Revision nicht angegriffenen und daher auch für den Senat bindenden tatsächlichen Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) reichen zur Entscheidung über den Klageanspruch aus.

Das LSG hat den Zusammenhang des Todesurteils und der Hinrichtung mit dem militärischen Dienst im Sinne des § 1 Abs. 2 Buchst. d BVG verneint, weil die Selbstverstümmelung des B. bereits vor dem Beginn des militärischen Dienstes abgeschlossen war; es sei dem BVG nicht zu entnehmen, daß der militärische Dienst im Sinne des § 1 Abs. 2 Buchst. d BVG zu einem anderen Zeitpunkt beginnen sollte als in § 1 Abs. 1 BVG vorausgesetzt ist. Damit ist jedoch nicht ausreichend dargetan, daß es für den Zusammenhang der Strafmaßnahme mit dem militärischen Dienst allein darauf ankommt, ob die Tat im militärischen Dienst begangen wurde. Das würde nur dann zutreffen, wenn in § 1 Abs. 2 Buchst. d BVG das Tatbestandsmerkmal des militärischen Dienstes nach dem Gesamtinhalt der Vorschrift demselben oder einem vergleichbaren Zweck wie in § 1 Abs. 1 BVG dienen würde und darum auch der gleichen Auslegung zugänglich wäre. Das ist jedoch nicht der Fall. Das durch § 1 Abs. 2 Buchst. d BVG geschützte rechtliche Interesse des Versorgungsberechtigten unterscheidet sich wesentlich von den in § 1 Abs. 1 BVG geregelten Fällen. In § 1 Abs. 1 BVG wie ebenso in den §§ 2 und 3 BVG kommt es darauf an, die Schädigungen, die der Betroffene "durch" eine militärische oder militärähnliche Dienstverrichtung oder durch einen Unfall während der Ausübung des Dienstes erlitten hat, gegen andere Schädigungen, die keine Versorgung begründen, abzugrenzen. Darum kommen hier, abgesehen von den Sonderfällen der §§ 4 und 3 Abs. 1 Buchst. a BVG, nur Schädigungen in Betracht, die nach dem Beginn des militärischen Dienstes entstanden sind. § 1 Abs. 2 Buchst. d BVG betrifft hingegen einen Tatbestand, der nur in den Rechtsfolgen dem in § 1 Abs. 1 BVG geregelten Sachverhalt gleichgestellt ist, dessen Tragweite aber selbständig aus dem Sinn und Zweck der Norm ermittelt werden muß. Hier bilden nicht militärische Dienstverrichtungen die Grundlage des Versorgungsanspruchs, sondern - offensichtlich ungerechte - Strafmaßnahmen, die mit militärischem Dienst "zusammenhängen", d. h. die wegen Verstoßes gegen militärische Pflichten verhängt wurden. Zwar ist auch hier wie in § 1 Abs. 1 BVG gefordert, daß "durch" die Schädigung, d. h. durch die Strafmaßnahme, die Gesundheitsstörung verursacht sein muß. Die Strafmaßnahme selbst braucht jedoch nicht durch den militärischen Dienst verursacht zu sein, es genügt, daß sie mit ihm zusammenhängt. Damit ist eine weniger strenge Beziehung zwischen Strafmaßnahme und militärischem Dienst vorausgesetzt; es soll schon genügen, daß der militärische Dienst den Anlaß zu der Strafmaßnahme gegeben hat. Daher hängt eine Strafmaßnahme mit militärischem Dienst im Sinne des § 1 Abs. 2 Buchst. d BVG dann zusammen, wenn sie als Sühne für ein Verhalten ausgesprochen wurde, das einen Verstoß gegen die durch das Wehrdienstverhältnis begründeten Pflichten darstellt. Zwar wird es sich im Anwendungsbereich des § 1 Abs. 2 Buchst. d BVG regelmäßig um eine Strafmaßnahme zur Ahndung eines Verhaltens während des militärischen Dienstes handeln, weil die militärischen Dienstpflichten überwiegend erst mit dem Antritt des Dienstes selbst beginnen. Die Dienstpflicht als ganzes besteht aber als eine die Einzelverpflichtungen überragende Obliegenheit schon vor dem in dem Gestellungsbefehl bestimmten Tag des Dienstbeginns; sie ist u. a. gekennzeichnet durch die allgemeine Unterlassungspflicht, sich - durch Verstümmelung oder in anderer Weise - dem Wehrdienst zu entziehen. Die Selbstverstümmelung der vorläufig in die Heimat beurlaubten, für den Wehrdienst ausgehobenen Wehrpflichtigen, zu denen B. gehörte, wurde bereits nach den §§ 1, 6 a, 81 MStGB als eine militärische Straftat angesehen und auch dann noch gemäß § 2 Nr. 2 b und Nr. 4 d sowie § 14 Abs. 1 Nr. 9 KStVO im Kriegsverfahren, also von einem mit militärischen Richtern besetzten Gericht, abgeurteilt, als die Selbstverstümmelung mit verschärfter Strafdrohung in den umfassenderen Tatbestand der Wehrkraftzersetzung nach § 5 Abs. 1 Nr. 3 KSStVO einbezogen war. Die Herausnahme der Wehrkraftzersetzung aus der ausschließlichen Zuständigkeit der Wehrmachtgerichte durch Art. I der Siebenten Durchführungs- und Ergänzungs-Verordnung (7. DE-VO) zur KStVO vom 18. Mai 1940 (RGBl I, 787) hat an dieser grundsätzlichen Beurteilung der Selbstverstümmelung des ausgehobenen Wehrpflichtigen als eines Verstoßes gegen die militärische Dienstpflicht nichts geändert, zumal die diesen Tatbestand regelnde Vorschrift des § 2 Nr. 2 Buchst. b KStVO nicht zugleich außer Kraft gesetzt worden ist, obgleich § 81 MStGB nach § 6 II KSStVO nicht mehr anwendbar war. Daraus ergibt sich, daß derjenige, der nach Aushebung, aber vor dem Gestellungstag durch Selbstverstümmelung seine Tauglichkeit für den militärischen Dienst beseitigte oder herabsetzte, ähnlich wie der Soldat gegen die militärische Dienstpflicht verstieß und sich deshalb wie dieser zu verantworten hatte.

Das LSG hat sich für seine Auffassung, daß eine vor dem Beginn des militärischen Dienstes begangene Handlung nicht dem § 1 Abs. 2 Buchst. d BVG zugeordnet werden kann, auf BSG 12, 216 (218) bezogen. In diesem Falle handelte es sich strafrechtlich - anders als hier - um ein Dauerdelikt. Es war daher nicht darüber zu entscheiden, ob Hinterbliebenenrente versagt werden kann, wenn die Tat vor dem Beginn des Dienstes bereits vollendet war. Im übrigen wäre der Senat auch dann nicht verpflichtet, nach § 42 SGG den Großen Senat anzurufen, wenn der damals entscheidende 11. Senat anderer Auffassung gewesen sein sollte, da dieser Senat als Kriegsopfersenat nicht mehr besteht (RGSt 60, 178). Überdies wäre es verfehlt, bei der Beurteilung der Frage, ob eine Strafmaßnahme im Sinne des § 1 Abs. 2 Buchst. d BVG mit militärischem Dienst zusammenhängt, die Entscheidung allein auf die strafrechtliche Klassifizierung der Tat als Dauerdelikt oder abgeschlossene Handlung abzustellen, denn damit würde das Ergebnis von Zufälligkeiten des Sachverhalts abhängen. Versorgungsrechtlich kann es keinen Unterschied begründen, ob sich ein Wehrpflichtiger durch Selbstverstümmelung für den Wehrdienst untauglich macht und dann, nachdem er dem Gestellungsbefehl nachgekommen ist, alsbald wieder entlassen werden muß, oder ob er sich durch das Dauerdelikt der Fahnenflucht dem Wehrdienst entzieht. In beiden Fällen wirkt der von dem Täter erstrebte Dauererfolg in die Zeit, in der der militärische Dienst beginnen soll, hinein, und in beiden Fällen verstößt er gegen eine Strafdrohung, die verhindern will, daß er sich der Wehrpflicht entzieht. Nach alledem hängt die gegen B. erkannte Todesstrafe mit militärischem Dienst im Sinne des § 1 Abs. 2 Buchst. d BVG zusammen.

Das Todesurteil und seine Vollstreckung sind auch als offensichtliches Unrecht im Sinne des § 1 Abs. 2 Buchst. d BVG anzusehen. Das OLG Celle hat mit Beschluß vom 31. Januar 1958 die Todesstrafe beseitigt, weil die vom Sondergericht ausgesprochene Verurteilung wegen Zersetzung der Wehrkraft durch das Unternehmen einer Selbstverstümmelung (§ 5 Abs. 1 Nr. 3 KSStVO) keinen Bestand haben könne. Nach § 1 Abs. 2 der Straffreiheitsverordnung vom 3. Juni 1947 wurde Straffreiheit für Zuwiderhandlungen gegen die durch Art. I und II des Kontrollratsgesetzes Nr. 11 (AmtsBl. d. Militärregierung Deutschland Brit. Kontrollgebiet Nr. 7 S. 97) aufgehobenen Vorschriften gewährt, zu denen auch die KSStVO gehöre. Das OLG ist zwar der Auffassung gewesen, daß die Tat des B. nach § 81 MStGB strafbar geblieben sei und daß demgemäß das Urteil des Sondergerichts nur der Abänderung unterliege. Es hat aber ausdrücklich festgestellt, daß für die Tat Freiheitsstrafe, nicht aber Todesstrafe angemessen war. Aus dieser Entscheidung ergibt sich somit, daß das Urteil von Anfang an mit dem schweren Makel des Unrechts behaftet war, weil eine extrem hohe Strafe, nämlich die nur nach nationalsozialistischer Auffassung angemessene Todesstrafe verhängt worden war (BSG, Urteil vom 14. März 1963 - 10 RV 799/58 -). Damit ist die Rechtslage wie durch ein Urteil im Wiederaufnahmeverfahren neu gestaltet worden. Diese Gestaltungswirkung müssen alle Gerichte, also auch die der Sozialgerichtsbarkeit, anerkennen (BSG 12, 219). Sie bedeutet, daß die Todesstrafe im Sinne des § 1 Abs. 2 Buchst. d BVG als offensichtliches Unrecht zu gelten hat.

Die Witwe des B. hat für sich und ihre beiden Kinder am 26. September 1953 Hinterbliebenenversorgung beantragt. Nach den §§ 1 Abs. 2 Buchst, d und Abs. 5, 38 ff., 60 Abs. 1 BVG ist ihnen ab 1. September 1953 Witwen- und Waisenrente zu gewähren. Diese Verpflichtung des Beklagten war dem Grunde nach auszusprechen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.

 

Fundstellen

Haufe-Index 2136111

BSGE, 222

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