Leitsatz (amtlich)

Das im Wege der Gleichwohlgewährung (§ 117 Abs 4 S 1 AFG) gezahlte Arbeitslosengeld mindert die Anspruchsdauer (§ 110 Abs 1 Nr 1 AFG) auch dann, wenn die Bundesanstalt für Arbeit den auf sie übergegangenen Entgeltanspruch nicht beitreibt, obwohl ihr das möglich ist. Der Arbeitslose kann diese Rechtsfolge dadurch vermeiden, daß er gegen den Arbeitgeber auf Zahlung des übergegangenen Entgeltanspruchs an die Bundesanstalt für Arbeit klagt (Anschluß an und Fortführung von BSG vom 11.6.1987 7 RAr 16/86 = SozR 4100 § 117 Nr 18).

 

Normenkette

AFG § 110 Abs 1 Nr 1, § 117 Abs 4 S 1; SGB 10 § 115; ZPO § 256

 

Verfahrensgang

LSG Berlin (Entscheidung vom 27.03.1987; Aktenzeichen L 4 Ar 96/85)

SG Berlin (Entscheidung vom 10.06.1985; Aktenzeichen S 57 Ar 2980/84)

 

Tatbestand

Im Prozeß geht es um die Frage, ob Arbeitslosengeld (Alg), das im Wege der Gleichwohlgewährung (§ 117 Abs 4 Satz 1 Arbeitsförderungsgesetz - AFG -) gezahlt worden ist, die Anspruchsdauer auch dann mindert (§ 110 Abs 1 Nr 1 Halbsatz 1 AFG), wenn die Bundesanstalt für Arbeit (BA) den auf sie übergegangenen Arbeitsentgeltanspruch nicht beitreibt, obwohl ihr das möglich ist.

Die im Jahr 1955 geborene Klägerin war als kaufmännische Angestellte in Berlin beschäftigt. Die Arbeitgeberin, eine GmbH, kündigte das Arbeitsverhältnis auf Ende September 1982, zahlte aber nur bis 11. Juli 1982 Gehalt. Die Klägerin meldete sich arbeitslos und beantragte Alg. Das Arbeitsamt bewilligte ihr mit Bescheid vom 10. September 1982 Alg ab 26. Juli 1982 für 312 Wochentage und zahlte die Leistung bis 23. Juli 1983 aus.

Im Prozeß der Klägerin gegen die GmbH stellte das Arbeitsgericht mit Urteil vom 29. Juni 1983 fest, daß das Arbeitsverhältnis bis zum 31. Dezember 1982 angedauert habe, und verurteilte die GmbH, der Klägerin das noch ausstehende Arbeitsentgelt abzüglich des für den gleichen Zeitraum erhaltenen Alg zu zahlen. Die Klägerin trieb den zuerkannten Betrag im Wege der Zwangsvollstreckung bei.

Das Arbeitsamt lehnte den Antrag der Klägerin auf Weiterbewilligung des Alg mit Bescheid vom 23. August 1983 ab, weil der Anspruch der Klägerin durch die Zahlung für 312 Wochentage erfüllt und das im Wege der Gleichwohlgewährung gezahlte Alg darauf anzurechnen sei, wenn der Arbeitgeber den auf die BA übergegangenen Entgeltanspruch nicht befriedigt habe. Der Widerspruch der Klägerin blieb erfolglos.

Das Sozialgericht hat mit Urteil vom 10. Juni 1985 die angefochtenen Bescheide aufgehoben, die Beklagte verurteilt, der Klägerin über den 23. Juli 1983 hinaus Alg zu bewilligen, und die Berufung zugelassen. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen und die Revision zugelassen. Es hat ausgeführt, da die Beklagte den auf sie übergegangenen Arbeitsentgeltanspruch nicht beigetrieben habe, obwohl ihr das möglich gewesen sei, könne das Alg, das für die Zeit gezahlt worden sei, für die der Arbeitgeber Entgelt schulde, nicht auf die Gesamtbezugsdauer angerechnet werden.

Mit der Revision rügt die Beklagte die Verletzung der §§ 110 Abs 1 Nr 1 und 117 Abs 4 AFG. Sie hält sich nach dem Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 11. Juni 1987 - 7 RAr 16/86 - (SozR 4100 § 117 Nr 18) nicht für verpflichtet, den auf sie übergegangenen Entgeltanspruch des Arbeitslosen beizutreiben.

Die Beklagte beantragt,

die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie meint, das Urteil des BSG vom 11. Juni 1987 greife in ihre verfassungsrechtlich geschützte Position aus Art 14 Grundgesetz (GG) ein, indem es eine Verpflichtung der Beklagten zur Geltendmachung der übergeleiteten Ansprüche verneine und damit die von ihr erworbene Anwartschaft kürze. Sie, die Klägerin, habe keine Möglichkeit gehabt, den auf die Beklagte übergegangenen Entgeltanspruch gegen den Arbeitgeber geltend zu machen. Auch gegen die Art 3 und 1 GG (das Willkürverbot) werde verstoßen, wenn es der Beklagten überlassen bleibe, ob sie die auf sie übergegangenen Gehaltsansprüche einziehe oder nicht.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist begründet. Die Klägerin hat entgegen der Ansicht der Vorinstanzen keinen Anspruch auf Alg über den 23. Juli 1983 hinaus.

Nach dem bindend gewordenen Bescheid des Arbeitsamtes vom 10. September 1982 stand der Klägerin Alg für 312 Wochentage zu. Diese Leistung ist der Klägerin für die Zeit vom 26. Juli 1982 bis 23. Juli 1983 ausgezahlt worden. Damit ist der Anspruch erfüllt.

Zwar hat der Anspruch auf Alg für die Zeit vom 26. Juli bis 31. Dezember 1982, für die die Klägerin Arbeitsentgelt zu beanspruchen hatte, geruht (§ 117 Abs 1 AFG). Das Arbeitsamt hat zu Recht aber auch für diesen Zeitraum Alg gezahlt ("Gleichwohlgewährung"), weil die Klägerin das Arbeitsentgelt tatsächlich nicht erhalten hat (§ 117 Abs 4 Satz 1 AFG). Der Anspruch der Klägerin auf Arbeitsentgelt ist insoweit auf die Beklagte übergegangen (§ 115 des Sozialgesetzbuches - Verwaltungsverfahren - -SGB 10-).

Nach den §§ 110 Abs 1 Nr 1 Halbsatz 1 iVm 117 Abs 4 Satz 1 AFG wird die Dauer des Anspruchs auf Alg grundsätzlich auch um die Tage der Gleichwohlgewährung gemindert; die Minderung entfällt jedoch, wenn und soweit die Beklagte für das Alg Ersatz erlangt (SozR 4100 § 117 Nr 16). Streitig ist insoweit nur die Frage, ob die Minderung auch dann entfällt, wenn die Beklagte deshalb keinen Ersatz erhält, weil sie den übergegangenen Arbeitsentgeltanspruch nicht beitreibt, obgleich ihr das möglich ist.

Die Frage hat der 7. Senat des BSG bereits verneint (SozR 4100 § 117 Nr 18 S 90 f). Nach diesem Urteil ist die Beklagte nicht gegenüber dem Arbeitslosen verpflichtet, den auf sie übergegangenen Entgeltanspruch beizutreiben. Der Übergang entspricht nur dem Prinzip der Schadensversicherung, die Aufwendungen auf den bei dem Versicherten eingetretenen versicherten Schaden zu begrenzen; er erfolgt also im Interesse der Versicherung, nicht aber, um die Interessen des Versicherten zu wahren, der die Vermögenslage seines Arbeitgebers in vielen Fällen besser einschätzen kann als die Beklagte und es im übrigen in der Hand hat, zunächst seinen Anspruch gegen den Arbeitgeber geltend zu machen, bevor er seine Rechte aus der Arbeitslosenversicherung in Anspruch nimmt. Dieser Rechtsauffassung hat sich der erkennende Senat bereits im Urteil vom 14. Juni 1988 - 11/7 RAr 57/87 - angeschlossen. Ihr ist auch im vorliegenden Fall zu folgen.

Die Beitreibung übergegangener Entgeltansprüche gehört nicht zu den Pflichten der BA. Ob die Zahlung von Alg im Einzelfall eine Gleichwohlgewährung iS von § 117 Abs 4 Satz 1 AFG darstellt, ob also der Arbeitslose von seinem Arbeitgeber noch Arbeitsentgelt zu beanspruchen hat, ist nämlich oft nicht ohne weiteres, sondern erst im Verfahren vor den Arbeitsgerichten festzustellen. Wollte man annehmen, die BA müsse in jedem Fall, in dem ein Empfänger von Alg behauptet, sein Arbeitgeber schulde ihm noch Gehalt, Klage beim Arbeitsgericht erheben, würde der BA und damit der Versichertengemeinschaft einerseits ein erheblicher Verwaltungsaufwand und ein beachtliches Prozeßrisiko auferlegt, während andererseits dem Arbeitslosen in Bezug auf ausstehendes Gehalt im Ergebnis eine unentgeltliche Rechtsschutzversicherung entstünde. Dafür bietet indes § 117 Abs 4 AFG weder nach seinem Wortlaut noch nach seinem Sinn einen Anhalt. Zweck dieser Regelung ist vielmehr allein ein schnelles Eintreten der Arbeitslosenversicherung unter Vermeidung der Zahlung von Lohn oder Gehalt zugleich mit Alg (vgl § 117 Abs 4 Satz 2 AFG).

Die Klage der BA beim Arbeitsgericht ist auch nicht der einzige Weg, den Arbeitgeber zur Zahlung des auf die BA übergegangenen Arbeitsentgelts zu veranlassen. Der Arbeitslose kann nämlich entweder selbst auf Leistung für die Zukunft klagen (§ 256 Zivilprozeßordnung -ZPO-), soweit die BA das Alg noch nicht "erbracht" hat, oder sich von ihr eine Einziehungsermächtigung mit (gewillkürter) Prozeßstandschaft erteilen lassen, um dann auch den auf die BA übergegangenen Teil des Entgeltanspruchs einzuklagen. Daran hat er wegen der ihm bei "Gleichwohlgewährung" drohenden zeitlichen Vorverlegung und der damit verbundenen früheren Erschöpfung seines Anspruchs auf Alg ein eigenes schutzwürdiges Interesse. In beiden Fällen muß er beantragen, den Arbeitgeber zur Zahlung an die BA zu verurteilen, soweit diese Alg erbracht hat. Bei Erfüllung des auf die BA übergegangenen Entgeltanspruchs durch den Arbeitgeber entfällt für den davon erfaßten Zeitraum die Minderung des Anspruchs auf Alg, welche andernfalls nach § 110 Abs 1 Nr 1 Halbsatz 1 AFG eintreten würde.

Die verfassungsrechtlichen Bedenken der Klägerin gegen die Verweisung des Arbeitslosen auf die von ihm zu erhebende Klage greifen nicht durch. Die von der Klägerin erworbene Anwartschaft wird nämlich als solche durch die "Gleichwohlgewährung" nicht verkürzt. Die Beklagte verletzt auch nicht das Willkürverbot, wenn sie bei dem einen Arbeitgeber die übergangenen Entgeltansprüche einzieht und bei dem anderen nicht, weil es dem Arbeitslosen stets frei steht, seinerseits diese Ansprüche mit dem Antrag auf Leistung an die BA geltend zu machen und damit die vorzeitige Erschöpfung seines Anspruchs auf Alg zu vermeiden.

Eine Rechtspflicht der Beklagten zur Belehrung der Klägerin über die Möglichkeit, selbst Klage zu erheben, besteht nicht. Es muß nämlich davon ausgegangen werden, daß der Arbeitnehmer weiß, auf welche Weise er gegen den das Arbeitsentgelt verweigernden Arbeitgeber vorzugehen hat. Das gilt unabhängig davon, ob Anspruch auf Alg besteht oder nicht. Sieht der Arbeitnehmer - aus welchen Gründen auch immer - davon ab, rückständiges Arbeitsentgelt einzuklagen, ist dies seine persönliche Entscheidung, für deren Rechtsfolgen die BA und damit die Versichertengemeinschaft nicht einzustehen hat. Ein Hinweis der BA darauf, daß die Beitreibung rückständigen Arbeitsentgelts im Falle langdauernder Arbeitslosigkeit zu einem rechnerisch erst im Anschluß an die vom Arbeitsentgelt abgedeckte Zeit beginnenden und deshalb einen späteren Zeitraum abdeckenden Anspruch auf Alg führt, erscheint dem Senat jedoch im Rahmen des von der BA herausgegebenen Merkblatts für Arbeitslose als zweckmäßig.

Auf die Revision der Beklagten waren daher die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Klage abzuweisen. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.

 

Fundstellen

BSGE, 199

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