Leitsatz (amtlich)

1. Ist die Klage eines Unfallverletzten, den der Verletztenrente aus der Unfallversicherung nicht gleichzustellen. Abfindungsbescheides und Weiterzahlung der Rente gerichtet, so handelt es sich hierbei nicht um einen Anspruch auf eine einmalige Leistung im Sinne des SGG § 144 Abs 1 Nr 1.

2. Der Abfindung des Verletzten auf Grund des RVO § 616 Abs 1 steht nicht entgegen, daß er auch Anspruch auf eine Versorgungsrente nach dem BVG hat.

 

Normenkette

SGG § 144 Abs. 1 Nr. 1; RVO § 616 Abs. 1 Fassung: 1926-06-25; BVG

 

Tenor

Das Urteil des Sozialgerichts Heilbronn vom 8. Dezember 1954 und das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 6. März 1956 werden aufgehoben.

Die Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 28. Mai 1953 wird abgewiesen.

Außergerichtliche. Kosten sind nicht zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I

Der Kläger erlitt am 27. August 1948 einen Arbeitsunfall. Deswegen gewährte ihm die Beklagte eine vorläufige Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE.) von zunächst 20 v.H., später 10 v.H. Damals bezog er schon wegen einer Wehrdienstbeschädigung eine Versorgungsrente von 50 v.H. der Vollrente. Durch Bescheid vom 15. September 1950 entzog die Beklagte dem Kläger die Verletztenrente aus der Unfallversicherung mit der Begründung, daß seine Erwerbsfähigkeit durch Unfallfolgen nicht mehr meßbar beeinträchtigt sei. Diesen Bescheid hob das Oberversicherungsamt (OVA.) Stuttgart durch Urteil vom 28. April 1953 auf und verurteilte die Beklagte, die Rente nach einer MdE. von 10 v.H. weiterzugewähren.

Durch Bescheid vom 28. Mai 1953 fand die Beklagte den Kläger, ohne seine Zustimmung eingeholt zu haben, auf Grund des § 616 Abs. 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) mit dem dreifachen Betrag der Jahresrente ab.

Diesen Bescheid hat der Kläger mit der Begründung angefochten, die Abfindung sei nach § 616 Abs. 1 Satz 2 RVO unzulässig, weil er Anspruch auf eine weitere Verletztenrente, nämlich eine Versorgungsrente, habe. Das Sozialgericht (SG.) Heilbronn hat durch Urteil vom 8. Dezember 1954 den Abfindungsbescheid aufgehoben und die Beklagte zur Weitergewährung der Rente verurteilt. Es hat aus § 559 a Abs. 3 und 4 RVO gefolgert, daß die Renten der Kriegsversehrten ebenso zu behandeln seien wie die Verletztenrenten aus der gesetzlichen Unfallversicherung.

Die von der Beklagten hiergegen rechtzeitig eingelegte Berufung ist vom Landessozialgericht (LSG.) Baden-Württemberg durch Urteil vom 6. März 1956 als unzulässig verworfen worden, weil der im Streit befangene Anspruch eine Kapitalabfindung und somit eine einmalige Leistung im Sinne des Berufungsausschlußgrundes des § 144 Abs. 1 Nr. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) betreffe. Das LSG. hat die Revision zugelassen.

Die Beklagte hat gegen das ihr am 13. April 1956 zugestellte Urteil am 27. April 1956 Revision eingelegt und diese gleichzeitig wie folgt begründet: Der Berufungsausschlußgrund des § 144 Abs. 1 Nr. 1 SGG liege nicht vor; denn der Kläger habe keine einmalige Leistung beansprucht. In sachlich-rechtlicher Hinsicht dürfe § 559 a Abs. 3 und 4 RVO nicht zur Auslegung des § 616 Abs. 1 RVO herangezogen werden. Wenn der Anspruch auf eine der in § 559 a Abs. 4 RVO aufgeführten Renten dem Abfindungsrecht der Berufsgenossenschaft ebenso im Wege stände wie der Anspruch auf eine andere Verletztenrente aus der Unfallversicherung, so gäbe es, da eine Rente nach einer MdE. von 10 v.H. für sich allein nicht gewährt werde (§ 559 a Abs. 3 RVO), überhaupt keinen Fall, in dem § 616 Abs. 1 Satz 1 RVO anwendbar sei.

Die Beklagte beantragt,

die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Klage abzuweisen,

hilfsweise,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuverweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er bezieht sich auf die Urteilsgründe der beiden Vorinstanzen.

II

Die Revision ist, da das LSG. sie zugelassen hat, statthaft (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG); sie ist auch form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden, also zulässig. Sie hatte auch Erfolg.

Das LSG. hat zu Unrecht die Berufung der Beklagten nach § 144 Abs. 1 Nr. 1 SGG als ausgeschlossen erachtet. Eine Kapitalabfindung nach § 616 RVO ist zwar eine einmalige Leistung im Sinne der angeführten Vorschrift; die Klage bezieht sich auch insofern auf eine solche einmalige Leistung, als eine Entscheidung über die Zulässigkeit der Abfindung erstrebt wird. Damit sind jedoch entgegen der Auffassung des LSG. nicht die Merkmale gegeben, welche die Berufung unstatthaft machen. Die Berufung ist nur "bei Ansprüchen auf einmalige Leistungen" ausgeschlossen. Ob ein solcher Anspruch vorliegt, richtet sich nach dem Klagebegehren. Dieses ist aber gerade nicht auf eine einmalige Leistung gerichtet, vielmehr erstrebt der Kläger die Aufhebung des Abfindungsbescheides und Weiterzahlung der Rente, also wiederkehrender Leistungen. Die vom Senat vertretene Auffassung entspricht auch den Vorschriften des Zivilprozesses, durch welche z.B. die sachliche oder örtliche Zuständigkeit des Gerichts, der Wert des Streitgegenstandes oder die Statthaftigkeit eines Rechtsmittels von der Art des Anspruchs abhängig gemacht wird (§§ 23, 27, 547 Abs. 1 Nr. 2 ZPO); auch dort ist der Anspruch nach dem Klagebegehren zu beurteilen (vgl. z.B. Rosenberg, Lehrbuch des deutschen Zivilprozeßrechts, 7. Auflage, § 31 I, 2). Dementsprechend wird im Zivilprozeß auch als Streitgegenstand nicht der Gegenstand (im wirtschaftlich-tatsächlichen Sinn) angesehen, auf den sich die Klage bezieht, sondern die Rechtsfolge, über die nach dem Klageantrag entschieden werden soll (vgl. Stein-Jonas-Schönke-Pohle, ZPO, § 3 Anm. I, 1). Kommt es somit bei der Prüfung des § 144 Abs. 1 Nr. 1 SGG allein auf das Klagebegehren an, so ist es unerheblich, daß im vorliegenden Falle die Beklagte, die im ersten Rechtszuge unterlegen war, mit der Berufung die "Wiederherstellung des Abfindungsbescheides" erstrebt hat. Der Ausschluß der Berufung nach § 144 SGG trifft die Beteiligten stets in gleicher Weise; er gilt entweder für keinen der Beteiligten oder für alle. Für die vom Senat vertretene Auffassung spricht auch die Erwägung, daß es sich bei einem Streit um die Zulässigkeit der Abfindung (anstatt Weitergewährung der Rente) - im Unterschied beispielsweise zum Streit über die Höhe der Abfindung - in der Regel nicht um einen der minder bedeutsamen Streitfälle handelt, die nach dem Willen des Gesetzgebers der Berufung nicht zugänglich gemacht werden sollten (vgl. Amtliche Begründung zum Entwurf der Sozialgerichtsordnung, Bundestagsdrucksache Nr. 4357 - Allgemeiner Teil - B 6).

Da die Berufung der Beklagten auch keinem anderen Ausschlußgrund unterlag, hätte das LSG. sie nicht als unstatthaft ansehen dürfen, vielmehr sachlich darüber entscheiden müssen.

Da in der Sache selbst nur über Rechtsfragen zu entscheiden war, konnte das Bundessozialgericht diese Entscheidung selbst treffen (§ 170 Abs. 2 SGG). Sie mußte zur Abweisung der Klage führen, weil die Voraussetzungen, unter denen die Beklagte den Kläger ohne seine Zustimmung abfinden konnte (§ 616 Abs. 1 RVO), gegeben sind.

In dem Zeitpunkt, in dem der Abfindungsbescheid erteilt wurde, waren mehr als zwei Jahre seit dem Unfall vergangen. Außerdem handelt es sich bei der den Gegenstand der Abfindung bildenden Rente - dies wird in der Rechtsprechung des Reichsversicherungsamts (RVA.) und im Schrifttum als weitere, ungeschriebene Voraussetzung für die Abfindung erachtet (Grunds. Entscheidung Nr. 3262 des RVA, AN. 1927 S. 319; RVO-Mitgl. Komm. § 616 Anm. 4) - um eine Dauerrente. Will man nicht schon in dem Urteil des Württ. OVA. S... vom 28. April 1953 eine Verurteilung zur Zahlung einer Dauerrente sehen, so gilt jedenfalls der Abfindungsbescheid zugleich als Bescheid über die erste Feststellung der Dauerrente in Höhe der zuletzt festgesetzten vorläufigen Rente (Grunds. Entscheidung Nr. 3262 a.a.O.). Weiter beträgt die Rente, deretwegen die Beklagte eine Kapitalabfindung bewilligt hat, nicht mehr als ein Zehntel der Vollrente, und der Kläger hat keinen Anspruch auf eine andere Verletztenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung.

Die Auffassung des Klägers, daß trotz des eindeutig gegenteiligen Wortlauts des § 616 Abs. 1 RVO auch eine Versorgungsrente nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) einer Abfindung ohne Zustimmung des Berechtigten entgegenstehe, ist mit dem Gesetz nicht vereinbar. Insbesondere läßt sie sich nicht, wie das SG. meint, aus § 559 a Abs. 3 und 4 RVO herleiten. § 559 a Abs. 4 RVO stellt zwar gewisse Beschädigungen, u.a. solche im Sinne des - durch das BVG aufgehobenen - Reichsversorgungsgesetzes, einem Unfall und damit auch die für solche Beschädigungen zu gewährenden Renten einer Rente aus der gesetzlichen Unfallversicherung gleich, dies jedoch nicht schlechthin, sondern nur hinsichtlich der in Abs. 3 getroffenen Regelung, also der Stützung eines MdE-Grades von weniger als einem Fünftel. Diese Folgerung ergibt sich aus der Stellung der beiden angeführten Absätze innerhalb desselben Paragraphen. Wollte man der Auffassung des SG. beipflichten, so wäre z.B. auch bei der Anwendung des § 559 b RVO eine Versorgungsrente geeignet, eine oder mehrere Unfallrenten, deren Hundertsätze zusammen die Zahl fünfzig nicht erreichen, in der Weise zu stützen, daß ein Anspruch auf Kinderzulage aus der gesetzlichen Unfallversicherung bestände. Diese Auffassung wird aber allenthalben abgelehnt (vgl. Lauterbach, Unfallversicherung, 2. Aufl., § 559 b, Anm. 2 mit weiteren Nachweisen).

Die vom Senat vertretene, mit dem Schrifttum übereinstimmende Auffassung (vgl. Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Stand: 1. Juni 1958, Bd. II S. 596 a; Lauterbach a.a.O. § 616 Anm. 2; anscheinend auch Podzum BG. 1956 S. 249) findet auch in der Entstehungsgeschichte des § 616 Abs. 1 RVO eine Stütze. Eine Kapitalabfindung ohne Zustimmung des Verletzten gibt es erst seit dem Zweiten Änderungsgesetz zur Unfallversicherung vom 14. Juli 1925 (RGBl. I S. 97). Durch dieses Gesetz erhielt § 616 Abs. 1 RVO die Fassung des heutigen Satz 1. Einen Ausschluß des Abfindungsrechts des Versicherungsträgers durch eine zweite oder mehrere weitere Renten kannte das Gesetz nicht, Es war also damals die Abfindung ohne Zustimmung des Berechtigten auch zulässig, wenn der Verletzte zwei oder mehr Renten von je 10 v.H. der Vollrente bezog, ja sogar, wenn die Vomhundertsätze die Zahl fünfzig erreichten und er damit "Schwerverletzter" war (vgl. Roewer, Änderungsgesetz zur Unfallversicherung vom 14. Juli 1925, 2. Aufl., S. 167 Anm. 2). Der die Abfindung bei einem Anspruch auf eine "andere Verletztenrente aus der Unfallversicherung" ausschließende Satz 2 des § 616 Abs. 1 RVO wurde durch das Gesetz zur Änderung der Reichsversicherungsordnung und des Angestelltenversicherungsgesetzes vom 25. Juni 1926 (RGBl. I S. 311) angefügt. Da in diesem Zeitpunkt § 559 a RVO noch nicht die jetzigen Absätze 3 und 4 hatte - sie wurden erst durch Art. 1 Nr. 10 des Fünften Gesetzes über Änderungen in der Unfallversicherung vom 17. Februar 1939 (RGBl. I S. 267) eingefügt -, kam jedenfalls damals die Gleichsetzung einer Beschädigung nach dem Reichsversorgungsgesetz mit einem Arbeitsunfall nicht in Frage. Hätte im Jahre 1939 die Rechtslage insoweit geändert und eine der in § 559 a Abs. 4 RVO aufgeführten Beschädigungen in jeder Beziehung, insbesondere auch hinsichtlich der Vorschriften über die Abfindung der kleinen Renten, einem Arbeitsunfall gleichgestellt werden sollen, so kann angenommen werden, daß dies gerade im Hinblick auf die Entwicklung, welche die Vorschriften über die Abfindung von Verletztenrenten aus der Unfallversicherung bis dahin genommen hatten, durch eine andere systematische Anordnung des jetzigen Abs. 4 des § 559 a RVO oder auf sonstige Weise im Gesetz zum Ausdruck gekommen wäre.

Die Beklagte war somit berechtigt, den Kläger ohne seine Zustimmung mit dem dreifachen Betrag seiner Jahresrente abzufinden. Infolgedessen waren die Entscheidungen der beiden Vorinstanzen aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 101

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