Leitsatz (redaktionell)

Der Zusammenhang zwischen dem Zurücklegen des restlichen Heimwegs und der versicherten Tätigkeit wird durch einen etwa 1 1/2 stündigen, in dem Heimweg eingeschobenen Besuch bei der Mutter, nicht gelöst.

 

Normenkette

RVO § 543 Fassung: 1942-03-09

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 1. März 1960 wird aufgehoben.

Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Oldenburg vom 27. Juni 1957 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat den Klägern die außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens und des Revisionsverfahrens zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I.

Die Kläger Christa und Jürgen F sind uneheliche Kinder des Arbeiters Walter B; die beigeladene Karin B ist sein eheliches Kind.

Walter B verunglückte am 2. September 1955 auf der Fahrt mit einem Motorroller und ist am 2. September 1955 an den Folgen dieses Unfalles gestorben.

Er hatte am Unfalltag von 7.00 Uhr bis 16.15 Uhr in einer der Beklagten als Mitglied angehörigen Metallwarenfabrik gearbeitet. Nach den Feststellungen des Landessozialgerichts (LSG) hat er den Betrieb wahrscheinlich zwischen 16.40 Uhr und 16.50 Uhr verlassen. Die Entfernung zwischen der Arbeitsstätte und der Wohnung betrug etwa 8 km und konnte mit dem Motorroller in etwa 15 Minuten zurückgelegt werden. Walter B ist jedoch vom Betrieb aus nicht unmittelbar zu seiner Wohnung gefahren, sondern hat zunächst seine Mutter aufgesucht. Zu diesem Zwecke mußte er von der Strecke des gewöhnlichen Heimweges abbiegen. Dieser Weg, einschließlich des Aufenthaltes bei der Mutter, hat nach den Feststellungen des LSG knapp 1 1/2 Stunden beansprucht. Er hat seiner Mutter, die verreisen wollte, Geld gebracht, ihr beim Packen ihrer Sachen geholfen und schließlich mit ihr Tee getrunken und etwas gegessen. Das LSG hat als erwiesen angesehen, daß er ursprünglich nur die Absicht gehabt hat, einen kurzen Besuch zu machen. Im Zeitpunkt des Unfalles hatte er bereits wieder die Strecke erreicht, die er gewöhnlich für den Heimweg benutzte. Durch die Fahrt zu seiner Mutter ist nach den Feststellungen des LSG die Heimfahrt um über 1,5 km verlängert worden.

Die Ansprüche auf Hinterbliebenenentschädigung lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 19. September 1955 mit folgender Begründung ab: Walter B habe die P-straße, auf der sich der Unfall ereignet hat, erst gegen 18,30 Uhr befahren, während er bei Innehalten des gewöhnlichen Arbeitsweges spätestens 1/4 Stunde nach Verlassen des Betriebes die Unfallstelle hätte passieren müssen.

Daraus sei zu folgern, daß er in der Zwischenzeit eigenwirtschaftlichen Interessen nachgegangen sei. Er habe auch tatsächlich in dieser Zeit seine Mutter besucht; dadurch sei der Zusammenhang mit der Beschäftigung im Betrieb gelöst worden.

Dieser Bescheid ist Frau Elfriede W geborene F als der gesetzlichen Vertreterin der Kläger Christa und Jürgen F und Frau Grete H geschiedene B als der gesetzlichen Vertreterin der damals noch minderjährigen beigeladenen Karin B zugestellt worden.

Die Kläger Christa und Jürgen F haben gegen den Bescheid Klage zum Sozialgericht (SG) Oldenburg erhoben. Sie sind der Auffassung, durch das Aufsuchen der Mutter sei der Zusammenhang des Heimweges mit der versicherten Tätigkeit nur unterbrochen, aber nicht endgültig gelöst worden. Die Beklagte hat demgegenüber ausgeführt, Walter B habe die Arbeitsstätte nicht verlassen, um sich nach Hause zu begeben, sondern in der Absicht, seine Mutter zu besuchen. Von ihr aus habe er dann den Heimweg angetreten. Der Weg habe daher eindeutig rein persönlichen Zwecken gedient. Selbst wenn ihm erst während der Heimfahrt der Gedanke gekommen sein sollte, seine Mutter aufzusuchen, habe er im Zeitpunkt des Unfalles nicht mehr unter Versicherungsschutz gestanden, weil die Unterbrechung des Weges von so langer Dauer gewesen sei, daß der Rest des Weges nach allgemeiner Anschauung nicht mehr als Weg von der Arbeitsstätte angesehen werden könne.

Das SG hat durch Urteil vom 27. Juni 1957 die Beklagte unter Aufhebung des angefochtenen Bescheides verurteilt, den Klägern Waisenrente zu zahlen. Zur Begründung hat das SG ausgeführt: Es sei wahrscheinlich, daß Walter B von vornherein die Absicht gehabt habe, seine Mutter zu besuchen. Dieser innere Vorgang sei aber rechtlich ohne Bedeutung. Von der Besuchszeit müsse die Zeit für das Anhalten und Wegsetzen des Fahrzeuges und die entsprechenden Maßnahmen bei der Abfahrt abgezogen werden. Der Besuch habe keine Lösung vom Betrieb herbeigeführt. Walter B habe von vornherein vorgehabt, den Heimweg zu vollenden, und sei auch auf der üblichen Strecke seines Heimweges verunglückt. Lediglich für die Dauer des Umweges sei der Versicherungsschutz unterbrochen gewesen. Die Gefahr des Heimweges sei auch durch diese Unterbrechung verringert worden, da B auf diese Weise nicht mehr in den üblichen Feierabendverkehr hineingekommen sei.

Gegen dieses Urteil hat die Beklagte Berufung zum LSG Niedersachsen eingelegt. Dieses hat Karin B zum Verfahren beigeladen und im Termin vom 1. März 1960 die Mutter der Kläger gehört. Durch Urteil vom 1. März 1960 hat das LSG das Urteil des SG Oldenburg aufgehoben und die Klage abgewiesen. Die Revision ist vom LSG zugelassen worden.

Zur Begründung hat das LSG unter anderem ausgeführt: Der Weg von der Betriebsstätte habe zunächst wesentlich mit der versicherten Tätigkeit zusammengehangen, da B nur die Absicht gehabt habe, seiner Mutter - wie üblich - einen kurzen Besuch zu machen und dann sofort nach Hause zu fahren, um dort seine warme Mahlzeit einzunehmen. Auch habe B die erste Wegstrecke nach Hause fahren müssen, wenn er ohne Umweg nach Hause gelangen wollte. Die Unterbrechung des Heimweges sei aber ihrer Art und Dauer nach derart wesentlich gewesen, daß der danach angetretene weitere Weg nach allgemeiner Verkehrsanschauung nicht mehr als Fortsetzung des Heimweges von der Arbeit, sondern als Heimweg vom Besuch der Mutter anzusehen sei. Für die Grenze zwischen Unterbrechung und endgültiger Lösung gebe es keine schematische zeitliche Grenze, es komme nicht nur auf die Dauer, sondern auch auf die Art der privaten Tätigkeit an. Jedoch sei es wesentlich, in welchem Verhältnis die Dauer der privaten Tätigkeit zu der Zeit stehe, die der Versicherte für den Weg von der Arbeitsstätte benötige. Bei einem kurzen Heimweg trete die Lösung eher ein als bei einem längeren Weg. Auch sei zu berücksichtigen, ob die Unterbrechung rein private Gründe habe oder in mehr oder weniger starkem Umfange mit der versicherten Tätigkeit in Zusammenhang stehe. Das sei z. B. bei einem Erfrischungs- und Erholungsbedürfnis der Fall, bei ungewöhnlich langer Arbeitszeit oder Arbeit unter ungünstigen Bedingungen, insbesondere dann, wenn ein verhältnismäßig weiter Heimweg zurückzulegen sei. Bei einem kurzen Heimweg und wenn keine besonderen betrieblichen Zusammenhänge die private Unterbrechung rechtfertigen, trete dagegen bereits früher eine Lösung ein. Eine Unterbrechung um ein Vielfaches der für den Heimweg benötigten Zeit führe deshalb meist zur Lösung. Das sei hier der Fall. B habe unter normalen Bedingungen gearbeitet, so daß kein besonderes Erholungsbedürfnis vor Antritt des Heimweges bestanden habe. Die Entfernung zwischen der Arbeitsstätte und der Wohnung betrage etwa 8 km und könne mit dem Motorroller in etwa 15 Minuten zurückgelegt werden. Der rein private Aufenthalt bei der Mutter einschließlich des Weges zum Aufsuchen der Wohnung und des Rückweges habe knapp 1 1/2 Stunden gedauert. B habe nicht einen der üblichen kurzen Besuche von 1 1/2 bis 1 Stunde gemacht. Der Umweg habe über 1,5 km betragen. Für die Fahrtstrecke vom Betrieb zur Unfallstelle hätte B. etwa 10 Minuten benötigt. Der Zeitraum von 1 1/2 Stunden sei unter Berücksichtigung der Art der privaten Tätigkeit und der Dauer des Heimweges von etwa 15 Minuten zu lang, um noch als Unterbrechung gewertet werden zu können. B habe zwar die Absicht, alsbald nach Hause zu fahren, um dort seine Hauptmahlzeit einzunehmen, niemals aufgegeben, sein Besuch bei der Mutter sei aber durch den Umweg und durch Art und Dauer des Aufenthaltes so gestaltet, daß er gegenüber dem Heimweg im Anschluß an die Arbeit in den Vordergrund trete. Er habe B von der versicherten Tätigkeit gelöst. Der Umstand, daß B nur die Absicht gehabt habe, einen kurzen Besuch zu machen, sei für die rechtliche Beurteilung ohne Bedeutung, da die tatsächliche Dauer der privaten Tätigkeit maßgebend sei.

Das Urteil ist dem Prozeßbevollmächtigten der Kläger am 22. März 1960 zugestellt worden.

Die Kläger haben gegen dieses Urteil am 9. April 1960 Revision eingelegt und sie zugleich auch begründet. Sie beantragen,

unter Aufhebung des Urteils des LSG die Berufung gegen das Urteil des SG Oldenburg vom 27. Juni 1957 zurückzuweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Die Beigeladene hat keine Anträge gestellt und keine Erklärungen abgegeben.

II.

Die Revision ist durch Zulassung statthaft und in der gesetzlichen Form und Frist eingelegt und begründet worden; sie ist somit zulässig. Das Rechtsmittel hatte auch Erfolg.

Der tödliche Unfall des Walter B hat sich auf einer Wegstrecke ereignet, die der Verunglückte zurücklegen mußte, wenn er nach der Arbeit seine Wohnung erreichen wollte. Jedoch hatte B diesen Teil des Heimwegs nicht unmittelbar von der Arbeitsstätte aus erreicht. Er hatte vielmehr das Zurücklegen des Heimwegs dadurch unterbrochen, daß er zur Wohnung seiner Mutter abgebogen und dann von dort aus wieder zu der Stelle zurückgefahren war, an der er den üblichen Heimweg verlassen hatte. Es handelt sich also nicht um einen Fall des sogenannten "Umwegs", der dadurch gekennzeichnet ist, daß die gesamte Fahrt die Wohnung - oder die Arbeitsstätte - zum Ziel hat, dieses Ziel aber auf einer anderen als der kürzesten oder üblichen Strecke erreicht werden soll (vgl. z. B. BSG 4, 219).

Den restlichen Heimweg, auf dem sich der Unfall ereignet hat, mußte Walter B aus zwei Gründen zurücklegen: weil er den Tag über im Betrieb gearbeitet hatte und weil er seine Mutter besucht hatte. Entscheidend ist deshalb, ob dieser zweite Grund für das Zurücklegen des Weges rechtlich so wesentlich ist, daß die ursächliche Beziehung zur versicherten Tätigkeit als rechtlich unwesentlich außer Betracht bleiben muß. Infolgedessen kommt es, wie das LSG zutreffend ausgeführt hat, darauf an, ob die Unterbrechung des Heimwegs durch den Abweg zur Wohnung der Mutter und den Aufenthalt bei der Mutter ihrer Art und Dauer nach derart war, daß man die Fortsetzung des Wegs zur Wohnung nicht mehr als Heimweg von der Arbeit, sondern als einen dem unversicherten persönlichen Lebensbereich zuzurechnenden Heimweg von einem Besuch bei der Mutter ansehen muß, oder ob Art und Dauer der Unterbrechung es nach natürlicher Anschauung zulassen, auch die Fortsetzung des Wegs noch als Heimweg von der Arbeit anzusehen.

Dabei hat das LSG an sich zutreffend berücksichtigt, daß der Besuch bei der Mutter mit der versicherten Tätigkeit in keiner noch so entfernten Beziehung stand. Andererseits zwingt aber die Art der Unterbrechung auch nicht - wie das z. B. bei einem Kinobesuch der Fall sein würde - zu dem Schluß, daß B bereits dazu übergegangen war, seine Freizeit zu einer "Feierabendbeschäftigung" zu verwenden (vgl. SozR RVO § 543 Bl. Aa 22 Nr. 29). Vielmehr gehörte der Besuch bei der Mutter unter den hier gegebenen Umständen noch zu den Angelegenheiten, die ohne erheblichen Zeitaufwand üblicherweise gelegentlich des Heimwegs erledigt werden können.

Auch die tatsächliche Dauer der Unterbrechung schließt es nach der Auffassung des erkennenden Senats nicht aus, den restlichen Heimweg noch als Fortsetzung des Wegs von der Arbeitsstätte anzusehen. Das LSG hat in dieser Beziehung zuviel Gewicht auf das Verhältnis zwischen der an sich für den Heimweg erforderlichen Zeit und der zeitlichen Dauer der Unterbrechung gelegt. Dieser Gesichtspunkt, der in Fällen des Umwegs von entscheidender Bedeutung sein kann, ist zwar auch in Fällen der Unterbrechung nicht immer bedeutungslos; er kann - z. B. bei sehr kurzer Entfernung zwischen Arbeitsstätte und Wohnung - gegebenenfalls den Schluß rechtfertigen, daß der Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit durch einen Übergang zum Ausfüllen der Freizeit gelöst war; im vorliegenden Fall rechtfertigt jedoch das Verhältnis zwischen der üblichen Fahrtdauer und der Dauer der Unterbrechung nach der Auffassung des erkennenden Senats einen solchen Schluß nicht.

Das SG ist - entgegen der Auffassung des LSG - im Ergebnis zutreffend zu der Auffassung gelangt, daß das Einschieben des Besuchs bei der Mutter den Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit nur unterbrochen, die Unterbrechung ihrer Art und Dauer nach jedoch keine endgültige Lösung dieses Zusammenhangs herbeigeführt hat. Das Zurücklegen des restlichen Heimwegs stand mit der vorangegangenen versicherten Tätigkeit noch in einem rechtlich wesentlichen Zusammenhang. Der Unfall auf diesem Wegstück war ein Arbeitsunfall (§§ 542, 543 RVO).

Die Revision der Kläger ist somit begründet. Das Urteil des LSG war aufzuheben und die Berufung gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.

Die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens ergeht auf Grund von § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2380501

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Deutsches Anwalt Office Premium. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge