Leitsatz (amtlich)

Ein selbständiger Handwerksmeister, der einen Handwerksbetrieb mittlerer Größe betreibt und der wesentliche körperliche Tätigkeiten seines Handwerks nicht mehr verrichten kann, kann bei der Prüfung der BU auch dann nicht auf die Tätigkeit in einem solchen Handwerksbetrieb verwiesen werden, wenn er ihn gemeinsam mit seinem Bruder betreibt und dieser die wesentlichen körperlichen Tätigkeiten für den Versicherten mitverrichtet.

 

Normenkette

RVO § 1246 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1957-02-23, § 1276 Abs. 3 Fassung: 1957-02-23

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers werden die Urteile des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 3. Juli 1975, das Urteil des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 16. Juli 1974 und der Bescheid der Beklagten vom 4. September 1973 aufgehoben. Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger ab 1. September 1973 Rente wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren.

Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Verfahrenskosten zu erstatten.

 

Tatbestand

Der Kläger und sein Zwillingsbruder sind beide Fleischermeister. Sie betreiben gemeinsam einen Fleischereibetrieb. Der Betrieb gehörte früher dem Vater, der noch als Viehhändler tätig ist. Der Kläger erlitt am 28. Mai 1969 einen Autounfall mit einer schweren Schädelverletzung. Der Unfall ist als Betriebsunfall anerkannt.

Mit Bescheid vom 20. Oktober 1970 gewährte die Beklagte dem Kläger zunächst Rente wegen Berufsunfähigkeit für die Zeit vom 27. November 1969 bis zum 31. August 1971, mit Bescheid vom 17. August 1973 verlängerte sie die Zeitrente bis zum 31. August 1973. Mit Bescheid vom 4. September 1973 lehnte die Beklagte eine weitere Rentengewährung ab, weil der Kläger nicht mehr berufsunfähig sei. Die gegen diesen Bescheid erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG) Gelsenkirchen mit Urteil vom 16. Juli 1974 abgewiesen. Die gegen dieses Urteil vom Kläger eingelegte Berufung hat das Landessozialgericht (LSG) für das Land Nordrhein-Westfalen mit Urteil vom 3. Juli 1975 zurückgewiesen. Nach den Feststellungen des LSG kann der Kläger keine schweren und fortgesetzt auch keine mittelschweren Arbeiten mehr verrichten. Damit sei er außerstande, die im eigentlichen Sinne handwerklichen Tätigkeiten seines Berufs auszuführen. Er könne aber aufsichtsführende Tätigkeiten als Fleischermeister sowie Tätigkeiten eines Vieheinkäufers verrichten. An seine geistige Leistungsfähigkeit und an die Fähigkeit zur Selbstbeherrschung dürften zwar keine besonderen Anforderungen gestellt werden, aber im eigenen Betrieb könne er sich bei Erregungszuständen zurückziehen und die Mitarbeiter hätten die Möglichkeit, ihm auszuweichen. Bei schlechtem Befinden könne er Pausen einlegen und die Arbeitsleistung nach seinen Möglichkeiten und den jeweiligen Erfordernissen über den ganzen Tag hinweg verteilen. Der Umstand, daß er zur Aufsichtstätigkeit nur im eigenen, nicht im fremden Betrieb imstande sei, sei ohne Bedeutung. Es möge sein, daß er als Fleischermeister in abhängiger Stellung berufsunfähig wäre. Bei Prüfung der Frage, ob eine Berufsunfähigkeit vorliege, sei jedoch an die tatsächlichen Gegebenheiten anzuknüpfen, also daran, daß er mit seinem Bruder Mitinhaber eines Fleischereibetriebes sei. Sofern er bis zum Unfall ausschließlich oder in erster Linie handwerklich tätig gewesen sei, sei ihm der Übergang zu der unternehmerischen Tätigkeit zuzumuten, denn aufgrund der von ihm abgelegten Meisterprüfung sei er auch zu kaufmännischer und organisatorischer Tätigkeit befähigt. Von der Größe des Betriebes her, in welchem außer ihm und sein Bruder noch deren Ehefrauen, zwei Gesellen und zwei bis drei Verkäuferinnen tätig seien, sei das möglich. Es handele sich um einen mittleren Betrieb, in welchem außerhalb des handwerklichen Bereichs so viele Tätigkeiten anfielen, daß der Kläger damit ausgelastet sei. So sei er fast an jedem Arbeitstag mit einem Firmenwagen - VW - Variant oder Hanomag-Kastenwagen - unterwegs, um Schlachtvieh, Frischgeflügel, Därme und sonstigen Geschäftsbedarf heranzuholen oder Großabnehmer, wie das Krankenhaus Waltrop zu beliefern. Ihm obliege ferner die Häuserverwaltung; in den Häusern, die seinen Eltern gehörten, befänden sich eine Apotheke, die Praxen von vier Ärzten, einem Rechtsanwalt und Wohnungen. Schließlich sei der Kläger planend tätig, er ermittle den Geschäftsbedarf nach Geschäftsergebnis, Kasseneinnahmen und Kundenzahl und mache die abendlichen Kasseneintragungen. Für die Schreibarbeiten habe er sich technische Geräte, wie elektronische Rechenmaschine, Fotokopiergerät, Tonbandgerät usw. angeschafft. Insgesamt handele es sich bei den Tätigkeiten, die der Kläger verrichte und aus gesundheitlichen Gründen auch verrichten könne, um solche, auf die er als Fleischermeister rechtlich verwiesen werden könne; es seien keine unqualifizierten Arbeiten, vielmehr würden für sie - wenn auch nicht auf handwerklichem Gebiet - zum Teil erhebliche, auch berufstypische Anforderungen gestellt. Auch als Facharbeiter mit besonderen Qualifikationen könne der Kläger nicht nur auf seiner bisherigen Tätigkeit gleichwertige Tätigkeiten verwiesen werden, vielmehr sei eine Verweisung sogar auf ungelernte Tätigkeiten möglich, sofern sich diese nur aus dem allgemeinen Kreis dieser Tätigkeiten auf irgendeine Weise hervorheben. Daß er seine Arbeit nur unterbrochen durch größere Pausen als sonst üblich leiste, daß er also - wie er sich ausdrücke - nur in mehreren Schichten täglich arbeiten könne, führe zu keiner anderen Beurteilung. Gegen das Urteil hat das LSG die Revision nicht zugelassen. Auf die deshalb vom Kläger eingelegte Beschwerde hat sie jedoch der erkennende Senat mit Beschluß vom 20. Januar 1976 zugelassen.

Mit der vom Kläger eingelegten Revision trägt er vor, das LSG habe das Vorliegen einer Berufsunfähigkeit zu Unrecht verneint. Die durch die Unfallfolgen bedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) betrage auf neurologischem Gebiet zwischen 50 und 60 v.H. und auf chirurgischem Gebiet 20 v.H.. Er könne als selbständiger Handwerker nicht darauf verwiesen werden, daß er allein durch seinen Status als Selbständiger und seine Anwesenheit im Betrieb, den er mit seinem Bruder vom Vater übernommen habe, eine aufsichtsführende Tätigkeit ausübe. Vergleichsmaßstab sei der Verdienst, den der Versicherte selbst nach seinem gesundheitlichen Zustand noch zu erzielen fähig sei zu dem Verdienst einer Vergleichsperson. Dabei sei nicht das wirklich erzielte Einkommen, sondern die Fähigkeit entscheidend, einen bestimmten Verdienst zu erwerben. Auch bei einem Mitinhaber eines mittleren Handwerksbetriebs müsse die Eigenart selbständiger handwerklicher Berufsausübung bei der Prüfung der Frage der Berufs- bzw. der Erwerbsunfähigkeit berücksichtigt werden. Der Beruf des Handwerkers erfordere es, daß körperliche Geschicklichkeit, die handwerklichen Fähigkeiten sowie die geistige Leistung weiterhin vorhanden seien.

Der Kläger beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Urteils des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 3. Juli 1975, des Urteils des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 16. Juli 1974 und des Bescheids der Beklagten vom 4. September 1973 zu verurteilen, dem Kläger über den 31. August 1973 hinaus Rente wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 3. Juli 1975 zurückzuweisen.

Die Beklagte weist daraufhin, daß der Einschätzung des unfallbedingten Erwerbsminderungsgrades keine entscheidende Bedeutung beigemessen werden könne. Auch im übrigen könne die Revisionsbegründung die Entscheidungsgründe der Vordergerichte nicht entkräften, so daß sie keinen Grund erkennen könne, von der bisher vertretenen Auffassung abzuweichen.

 

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision des Klägers ist begründet. Aus der Feststellung des LSG zu den Arbeiten, die der Kläger als selbständiger Handwerksmeister seit dem 1. September 1973 noch verrichten kann, ergibt sich, daß er auch noch nach dem 1. September 1973 berufsunfähig war, so daß ihm auch ab diesem Zeitpunkt noch Rente wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren ist.

Berufsunfähig ist ein Versicherter nach § 1246 Abs. 2 Reichsversicherungsordnung (RVO), wenn seine Erwerbsfähigkeit infolge der bei ihm vorhandenen Krankheitserscheinungen auf weniger als die Hälfte derjenigen eines körperlich und geistig gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten herabgesunken ist. Hierbei umfaßt der Kreis der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit zu beurteilen ist, alle Tätigkeiten, die den Kräften und Fähigkeiten des Versicherten entsprechen und ihm unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs seiner Ausbildung sowie seines bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen seiner bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können.

Nach den Feststellungen des LSG kann der Kläger die wesentlichen körperlichen Tätigkeiten seines Handwerks nicht mehr verrichten. Bei der Prüfung, ob ein selbständiger Handwerker berufsunfähig ist, muß die Eigenart selbständiger handwerklicher Berufsausübung berücksichtigt werden, die darin besteht, daß ein solcher Handwerker in der Regel zugleich Unternehmer und persönlich mitarbeitender Leiter seines Betriebes ist. Der Beruf fordert von einem selbständigen Handwerker handwerkliche Fähigkeiten und geistige Leistungen. Die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG), wonach ein selbständiger Handwerker, der bisher ohne Gehilfen - im sog. Einmannbetrieb - gearbeitet hat, berufsunfähig ist, wenn er die körperlichen Arbeiten, die zu seinem Handwerk gehören, nur noch unter Mithilfe eines Gesellen oder Gehilfen verrichten kann (BSGE 2, 91), hat das BSG im Urteil vom 20. Februar 1962 - 1 RA 191/59 - auch auf einen selbständigen Handwerksmeister eines mittleren Betriebes ausgedehnt. Bei dem Fleischerbetrieb, den der Kläger mit seinem Zwillingsbruder betreibt, handelt es sich nicht um einen Großbetrieb. Da für ihn eine körperliche handwerkliche Mitarbeit in dem Betrieb nicht möglich ist, kann er als selbständiger Handwerksmeister zur Abwendung einer Berufsunfähigkeit nicht auf die Tätigkeiten verwiesen werden, die er in diesem Betrieb noch ausüben kann. Auch die Tatsache, daß er den Betrieb gemeinsam mit seinem Zwillingsbruder betreibt, der ebenso wie er Fleischermeister ist und deshalb die körperliche handwerkliche Mitarbeit im gemeinsamen Betrieb übernehmen kann, führt nicht zur Verneinung einer Berufsunfähigkeit. Hierzu bedarf es keiner Entscheidung, ob und wann eine mögliche Mithilfe einer Hilfsperson zur Verneinung einer Berufsunfähigkeit führen kann, weil dies jedenfalls dann nicht der Fall ist, wenn diese Hilfsperson die gleiche Qualifikation wie der Versicherte selbst haben muß.

Ob und ggf. auf welche unselbständigen Tätigkeiten ein selbständiger Handwerksmeister zur Abwendung einer Berufsunfähigkeit verwiesen werden kann, braucht im vorliegenden Fall nicht entschieden zu werden, weil sich aus den vom LSG festgestellten schweren Gesundheitsschäden des Klägers ergibt, daß eine zumutbare Verweisung auf unselbständige Tätigkeiten nicht mehr möglich ist.

Da der Kläger eine Zeitrente im Sinne des § 1276 RVO schon für die Zeit vom 27. November 1969 bis zum 31. August 1973 erhalten hat, Zeitrenten jedoch nach § 1276 Abs. 3 RVO nicht über die Dauer von vier Jahren seit dem ersten Rentenbeginn hinaus gewährt werden können und am 1. September 1973 keine begründete Aussicht darauf bestand, daß die Berufsunfähigkeit bis zum 26. November 1973 behoben sein könnte, mußte dem Kläger die Rente ab 1. September 1973 ohne zeitliche Begrenzung zugesprochen werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1649266

BSGE, 168

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