Entscheidungsstichwort (Thema)

Bindungswirkung eines Verwaltungsaktes. Abhilfe im Widerspruchsverfahren

 

Leitsatz (amtlich)

Die Rücknahme einer Klage gegen einen Verwaltungsakt, der vor der Klageerhebung bereits Gegenstand des noch nicht abgeschlossenen Widerspruchsverfahrens geworden ist, bewirkt keine Bindung iS von SGG § 77.

 

Orientierungssatz

1. Ein Rechtsbehelf ist iS des § 77 SGG nur dann "erfolglos eingelegt", wenn sämtliche gegen den betreffenden Verwaltungsakt gerichteten Rechtsbehelfsverfahren erfolglos abgeschlossen worden sind.

2. Richtet sich ein Widerspruch gegen die Ablehnung eines Rentenantrages und enthält er keine Beschränkung des mit dem Rentenantrag konkretisierten Begehrens, ist dem Widerspruch nur dann im Sinne des § 85 Abs 1 SGG mit der Folge abgeholfen, daß ein Widerspruchsbescheid nicht mehr zu ergehen hat, wenn dem Begehren auf Gewährung der Rente in vollem Umfang entsprochen wird.

 

Normenkette

SGG § 77 Fassung: 1953-09-03, § 85 Abs 1 Fassung: 1953-09-03, § 88 Abs 2 Fassung: 1976-08-24, § 102 S 2

 

Verfahrensgang

SG Augsburg (Entscheidung vom 03.04.1980; Aktenzeichen S 8 Ar - Jt 141/80)

 

Tatbestand

Mit seiner Klage begehrt der Kläger von der Beklagten die Erteilung eines Widerspruchsbescheides.

Der Kläger ist italienischer Staatsangehöriger. Seinen Rentenantrag lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 7. September 1977 ab, weil die von der Beklagten angeforderten ärztlichen Unterlagen nicht eingereicht worden seien. Dagegen erhob der Kläger Widerspruch, mit dem er geltend machte, daß es dem italienischen Versicherungsträger oblegen habe, die erforderlichen Unterlagen zu übersenden. Wenn das nicht geschehen sei, so bestehe gleichwohl kein Grund, den Rentenantrag abzulehnen.

Nachdem Berichte über ärztliche Untersuchungen in Italien bei der Beklagten eingegangen waren, lehnte diese nun mit Bescheid vom 1. Juni 1979 die Rentengewährung ab, weil der Kläger nicht berufsunfähig sei. Gleichzeitig wurde der Bescheid vom 7. September 1977 aufgehoben. In der Rechtsmittelbelehrung wurde auf die Möglichkeit hingewiesen, Widerspruch oder unmittelbar Klage zu erheben. Seine gegen den Bescheid vom 1. Juni 1979 gerichtete Klage nahm der Kläger zurück, nachdem ihm vom Sozialgericht (SG) eröffnet worden war, wegen des noch nicht abgeschlossenen Widerspruchsverfahrens sei die Klage unzulässig.

Das SG hat die Beklagte auf die danach erhobene Klage verpflichtet, das Widerspruchsverfahren, das der Kläger mit seinem Widerspruch gegen den Bescheid der Beklagten vom 7. September 1977 eröffnet habe, über den Änderungsbescheid vom 1. Juni 1979 hinaus durch Erteilung eines förmlichen Widerspruchsbescheides abzuschließen (Urteil vom 3. April 1980). Die Beklagte habe dem Widerspruch des Klägers mit dem zweiten Bescheid vom 1. Juni 1979 nicht in vollem Umfang abgeholfen. Seinem auf Rentengewährung gerichteten Begehren habe sie nicht entsprochen.

Die Beklagte hat dieses Urteil mit der vom SG zugelassenen Sprungrevision angefochten. Sie geht davon aus, sie habe mit dem Bescheid vom 1. Juni 1979 eine abschließende Entscheidung zur Hauptsache getroffen, die die Untätigkeitsklage unzulässig mache.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des SG vom 3. April 1980 aufzuheben

und die Klage auf Vornahme eines Verwaltungsaktes

abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision der Beklagten zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz -SGG-).

 

Entscheidungsgründe

Die zulässige Sprungrevision der Beklagten ist nicht begründet. Das SG hat die Beklagte mit Recht zur Erteilung eines Widerspruchsbescheides verpflichtet.

Das SG ist zutreffend davon ausgegangen, daß der Kläger mit seinem Widerspruch gegen den Bescheid vom 7. September 1977 nicht nur einen endgültigen Bescheid begehrt, sondern sein Rentenbegehren weiterverfolgt hat. Mit ihrem Bescheid vom 1. Juni 1979 hat die Beklagte dem Widerspruch nicht im Sinne des § 85 Abs 1 SGG abgeholfen. Die Beklagte räumt in ihrer Revisionsbegründung selbst ein, daß nach dem Verfügungssatz des Bescheides vom 7. September 1977 der Rentenantrag abgelehnt worden ist. Zwar ergibt sich aus der Begründung dieses Bescheides, daß diese Ablehnung nicht endgültig sein und unter bestimmten Umständen eine erneute Prüfung stattfinden sollte. Das ändert aber nichts daran, daß der Widerspruch des Klägers sich gegen den Verfügungssatz des Bescheides - die Ablehnung des Rentenantrages - richtet und keine Beschränkung des mit dem Rentenantrag konkretisierten Begehrens enthält. Diesem Widerspruch wäre nur dann im Sinne des § 85 Abs 1 SGG mit der Folge abgeholfen worden, daß ein Widerspruchsbescheid nicht mehr zu ergehen hatte, wenn die Beklagte dem Begehren des Klägers auf Gewährung der Rente in vollem Umfang entsprochen hätte.Das ist jedoch nicht geschehen, denn der Bescheid vom 1. Juni 1979 wiederholte die Ablehnung des Rentenantrags mit anderer Begründung. Der Kläger blieb also weiterhin beschwert.

Der nach Einlegung des Widerspruchs erlassene Bescheid vom 1. Juni 1979, der den angefochtenen Bescheid vom 7. September 1977 aufhob und ersetzte, ihn also iS des § 86 Abs 1 SGG änderte, wurde nach dieser Vorschrift Gegenstand des anhängigen Vorverfahrens. An dieser gesetzlichen Folge änderte weder die spätere Klageerhebung noch die Rücknahme dieser Klage etwas.

Gilt ein Verwaltungsakt kraft Gesetzes als mit dem Widerspruch angefochten, so wird diese gesetzliche.Folge nicht dadurch beseitigt, daß der Beschwerte ihn - entsprechend der Rechtsmittelbelehrung - in Unkenntnis dieser Anhängigkeit zusätzlich mit der Klage anficht. In der Klageerhebung liegt insbesondere angesichts der Unkenntnis des Beschwerten nicht die Rücknahme des Widerspruchs. Daher kann die Frage offen bleiben, ob die Klage nach oder mit der Rücknahme des Widerspruchs zulässig wäre. Nur unter den - hier nicht vorliegenden - Voraussetzungen des § 85 Abs 4 SGG kann nach Einlegung des Widerspruchs von einem das Vorverfahren abschließenden Widerspruchsbescheid abgesehen und der angefochtene Bescheid zum Gegenstand eines Klageverfahrens gemacht werden. Ist dagegen der Verwaltungsakt weiterhin kraft Gesetzes Gegenstand eines Vorverfahrens, so ist die gleichwohl erhobene Klage unzulässig. Dem durch einen Verwaltungsakt Beschwerten steht zwar in den Fällen des § 78 Abs 2 SGG das Wahlrecht zwischen dem Widerspruch und der Klage zu. Das gilt jedoch nicht, wenn der Verwaltungsakt kraft Gesetzes Gegenstand eines bereits anhängigen Verfahrens ist, insbesondere also in Fällen des § 86 Abs 1 und des § 96 Abs 1 SGG.

Die Rücknahme der vom Kläger erhobenen unzulässigen Klage führte auch nicht dazu, daß der angefochtene Bescheid vom 1. Juni 1979 iS des § 77 SGG bindend wurde. Zwar tritt die Bindungswirkung ein, wenn der gegen einen Verwaltungsakt gegebene Rechtsbehelf nicht oder erfolglos eingelegt worden ist, in der Regel also im Falle der Klagerücknahme. Da jedoch der Bescheid vom 1. Juni 1979 doppelt angefochten war, nämlich einmal kraft Gesetzes mit dem Widerspruch und zum anderen mit der unzulässigen Klage, blieb nach der Klagerücknahme die Anfechtung im Vorverfahren bestehen. Nach § 102 Satz 2 SGG führt die Klagerücknahme zur Erledigung des Rechtsstreits in der Hauptsache. Das bedeutet zwar im allgemeinen auch, daß der angefochtene Bescheid im Sinne des § 77 bindend wird, weil der gegebene Rechtsbehelf erfolglos eingelegt worden ist. Das gilt jedoch für den vorliegenden Fall nicht. Die Klagerücknahme und die dadurch bedingte Erledigung des Rechtsstreits in der Hauptsache hatten keinen Einfluß darauf, daß der Verwaltungsakt weiterhin kraft Gesetzes als mit dem Widerspruch angefochten galt. Die Voraussetzungen des § 77 SGG liegen nicht vor, wenn von mehreren Rechtsbehelfen nur einer keinen Erfolg hat. Die Bindungswirkung kann auch mit der Rücknahme eines Rechtsbehelfs nicht eintreten, solange die Anfechtung durch einen anderen Rechtsbehelf fortbesteht.

Das wird auch durch folgende Beispiele verdeutlicht:

1. Erhebt der Versicherte gegen ein und denselben Verwaltungsakt mehrere Klagen, so kann er die zeitlich nach der Rechtshängigkeit der ersten Klage erhobenen zurücknehmen, ohne daß dadurch die Bindungswirkung des § 77 SGG herbeigeführt würde.

2. Wird eine Anfechtungsklage wegen örtlicher Unzuständigkeit des angerufenen Gerichts abgewiesen, so kann gleichwohl der betreffende Verwaltungsakt noch vor dem zuständigen Gericht angefochten werden, sofern die Klagefrist gewahrt ist.

3. Bei einer Klageabweisung wegen Fehlens des Verwaltungsaktes kann der Kläger den Erlaß des Verwaltungsaktes beantragen und Verpflichtungsklage erheben, ohne durch die Rechtskraft des abweisenden Prozeßurteils gehindert zu sein (vgl BVerwG Buchholz, 310 § 121 Nr 29).

Ein Rechtsbehelf ist nach alledem iS des § 77 SGG nur dann "erfolglos eingelegt", wenn sämtliche gegen den betreffenden Verwaltungsakt gerichteten Rechtsbehelfsverfahren erfolglos abgeschlossen worden sind. Die Bindungswirkung soll ebenso wie die materielle Rechtskraft im Prozeßrecht verhindern, daß unterschiedliche Entscheidungen in ein und derselben Sache getroffen werden. Wird aber die wegen des noch nicht abgeschlossenen Vorverfahrens unzulässige Klage zurückgenommen, so besteht die Gefahr divergierender Entscheidungen nicht.

Der Widerspruch ist danach noch anhängig und innerhalb der Frist des § 88 Abs 2 SGG nicht beschieden worden. Auf die Untätigkeitsklage hat das SG die Beklagte daher mit Recht nach § 131 Abs 3 SGG zur Erteilung des unterlassenen Widerspruchsbescheides verurteilt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1646686

Breith. 1981, 637

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