Leitsatz (amtlich)

Ist ein Arbeitnehmer, der sich während eines Streiks freiwillig weiterversichert hat, während des Streiks erkrankt und wird er nach Wiederaufnahme der Arbeit wegen derselben Erkrankung arbeitsunfähig, so hat er während der Arbeitsunfähigkeit Anspruch auf die einem Pflichtversicherten zustehenden Leistungen (einschließlich Krankengeld und Hausgeld), auch wenn nach der Satzung der Krankenkasse Weiterversicherten ein Anspruch auf Kranken- und Hausgeld nicht zusteht.

 

Normenkette

RVO § 182 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1930-07-26, § 206 Fassung: 1924-12-15, § 215 Abs. 2 Fassung: 1924-12-15, Abs. 3 Fassung: 1924-12-15, § 306 Abs. 1 Fassung: 1956-06-12, § 313 Fassung: 1956-06-12; RAMErl Fassung: 1939-12-15

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers werden die Urteile des Bayerischen Landessozialgerichts vom 11. Dezember 1957 und des Sozialgerichts Nürnberg vom 3. Mai 1955 aufgehoben.

Die beklagte Krankenkasse wird unter Aufhebung des Bescheides vom 13. September 1954 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. Oktober 1954 verurteilt, dem Kläger für die Zeit vom 14. September bis zum 13. Oktober 1954 Hausgeld und vom 14. Oktober bis zum 4. Dezember 1954 Krankengeld zu gewähren.

Die beklagte Krankenkasse hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Der Kläger, der seit 1951 Mitglied der beklagten Betriebskrankenkasse (BKK) ist, war in der Zeit vom 26. Juli bis zum 26. August 1954 an einer schmerzhaften Schulterversteifung arbeitsunfähig erkrankt. Anschließend nahm er an dem Streik der Industrie-Gewerkschaft Metall teil, der schon am 9. August 1954 begonnen hatte und bis zum 7. September 1954 dauerte. Während des Streiks versicherte er sich bei der beklagten BKK freiwillig weiter. Am 31. August 1954 wurde er wegen Gallenblasenentzündung, Magenkatarrhs und Koliken abermals arbeitsunfähig krank. Nach Ansicht des untersuchenden Röntgenfacharztes war bei den seit Jahren anhaltenden Beschwerden früher oder später an eine Operation zu denken. Am 6. September 1954 meldete sich der Kläger bei der Krankenkasse gesund und nahm die Arbeit nach Beendigung des Streiks - am 8. September 1954 wieder auf. Am 14. September 1954 wurde er in das Krankenhaus aufgenommen und am folgenden Tag wegen eines Geschwürs am Zwölffingerdarm operiert. Der Krankenhausaufenthalt dauerte bis zum 13. Oktober 1954, anschließend war der Kläger noch bis zum 4. Dezember 1954 arbeitsunfähig.

Mit Bescheid vom 13. September 1954 teilte die Krankenkasse dem Kläger mit, sie könne für die Zeit der stationären Behandlung und die anschließende Zeit der Arbeitsunfähigkeit keine Barleistungen gewähren, weil die Krankenhausbehandlung mit der am 31. August 1954 eingetretenen Arbeitsunfähigkeit in Zusammenhang stehe und wegen derselben Krankheit erforderlich gewesen sei. Da der Kläger bei Eintritt des Versicherungsfalles am 31. August 1954 nur freiwillig versichert gewesen sei, stehe ihm nach der Satzung der Beklagten ein Anspruch auf Barleistungen nicht zu. Der Widerspruch des Klägers wurde mit Bescheid vom 25. Oktober 1954 zurückgewiesen. Der Kläger erhob Klage und beantragte, unter Aufhebung der angefochtenen Bescheide die beklagte BKK zur Zahlung von Krankengeld und Hausgeld für die Zeit vom 14. Oktober bis zum 4. Dezember 1954 zu verurteilen. Das Sozialgericht Nürnberg (SG) wies die Klage mit Urteil vom 3. Mai 1955 ab.

Gegen dieses Urteil legte der Kläger Berufung beim Bayerischen Landessozialgericht (LSG) ein und machte u. a. geltend, durch seine Teilnahme am Streik sei das versicherungspflichtige Arbeitsverhältnis - trotz seiner freiwilligen Weiterversicherung - nicht unterbrochen worden.

Das LSG wies die Berufung unter Zulassung der Revision durch Urteil vom 11. Dezember 1957 zurück: Im Zeitpunkt der Aufnahme des Klägers in das Krankenhaus sei kein neuer Versicherungsfall eingetreten, denn nach den Feststellungen des Röntgenologen Dr. F und der Bestätigung des Chirurgen Dr. J vom 4. November 1954 habe die Ursache der behandlungsbedürftigen Erkrankung vom 31. August 1954 in dem Wiederauftreten eines alten Zwölffingerdarmgeschwürs bestanden; diese Erkrankung sei aber erst durch die Operation vom 15. September 1954 behoben worden. Der Versicherungsfall sei somit schon am 31. August 1954 eingetreten und habe während der Krankenhausbehandlung und der anschließenden Arbeitsunfähigkeit fortbestanden. Zwar habe der Kläger am 8. September 1954 die Arbeit wieder aufgenommen. Er sei aber von keinem Arzt arbeitsfähig geschrieben worden, sondern habe sich selbst bei der Krankenkasse gesund gemeldet. Wegen der Kürze des zeitlichen Abstandes und bei dem engen inneren Zusammenhang zwischen den ärztlichen Behandlungen am 31. August und 14. September 1954 sei es abwegig, in der Erkrankung zur Zeit der Krankenhausaufnahme einen neuen Versicherungsfall zu erblicken. Der Kläger sei vielmehr auch während seiner Beschäftigung vom 8. bis zum 14. September an seinem Magenleiden erkrankt gewesen. Maßgebend für die Ansprüche des Klägers sei das Versicherungsverhältnis, wie es bei Eintritt des Versicherungsfalles, also am 31. August 1954 bestanden habe. Damals sei der Kläger wegen seiner Teilnahme am Streik nicht versicherungspflichtig beschäftigt gewesen; seine Dienste hätten dem Arbeitgeber nicht zur Verfügung gestanden, das versicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnis sei daher erloschen. Der Kläger sei sich dessen auch bewußt gewesen, denn er habe sich während des Streiks für die Zeit vom 26. August bis zum 7. September 1954 gemäß § 313 RVO freiwillig weiterversichert. Auf Grund dieser freiwilligen Versicherung bestehe aber nach der Satzung der Beklagten kein Anspruch auf Barleistungen.

Der Kläger hat gegen das Urteil des LSG Revision eingelegt mit dem Antrag, die Urteile der Vorinstanzen und die angefochtenen Bescheide aufzuheben und die Beklagte zur Zahlung von Hausgeld für die Zeit vom 14. September bis zum 13. Oktober 1954 und von Krankengeld für die Zeit vom 14. Oktober bis zum 4. Dezember 1954 zu verurteilen.

Er rügt die Verletzung der §§ 215, 313 der Reichsversicherungsordnung (RVO). § 10 Ziff. 8 a der Satzung der beklagten BKK - wonach weiterversicherten Mitgliedern, die nicht gegen Entgelt beschäftigt werden, kein Anspruch auf Kranken- und Hausgeld zustehe - sei mit den Vorschriften der RVO nicht vereinbar. § 215 Abs. 2 RVO berechtige die Beklagte nicht, auch bei Weiterversicherten die Kassenleistungen zu beschränken. Die beklagte Kasse könne sich auch nicht auf den Erlaß des Reichsarbeitsministers (RAM) vom 15. Dezember 1939 (AN 1939, 554) berufen, denn dieser Erlaß sei nicht ordnungsgemäß zustande gekommen.

Die beklagte BKK beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

II.

Die frist- und formgerecht eingelegte Revision ist begründet. Die beklagte BKK ist verpflichtet, dem Kläger für die Zeit der Krankenhausbehandlung vom 14. September bis zum 13. Oktober 1954 Hausgeld und für die weitere Zeit der Arbeitsunfähigkeit vom 14. Oktober bis zum 3. Dezember 1954 Krankengeld zu gewähren.

Es bedarf im vorliegenden Fall keiner Entscheidung, ob die Teilnahme des Klägers am Streik die Versicherungspflicht zum Erlöschen gebracht hat (vgl. dazu BSG 11, 79, 86), denn der Kläger war jedenfalls im Zeitpunkt seiner Aufnahme in das Krankenhaus nach § 165 Abs. 1 Nr. 1 RVO gegen Krankheit pflichtversichert, weil er am 8. September 1954 - nach Beendigung des Streiks - seine Arbeit wieder aufgenommen hatte. Er wäre nur dann nicht versicherungspflichtig gewesen, wenn es sich bei der Aufnahme der Arbeit vom 8. September bis zum 13. September 1954 um einen "mißglückten Arbeitsversuch" gehandelt hätte. Davon kann hier aber keine Rede sein. Der Kläger war nach der Feststellung des LSG, die sich auf die ärztlichen Zeugnisse des Röntgenologen Dr. F und des Chirurgen Dr. J stützt, bei Wiederaufnahme der Arbeit am 8. September 1954 zwar noch behandlungsbedürftig, das Geschwürsleiden, das "früher oder später" eine Operation ratsam erscheinen ließ, hinderte ihn aber nicht, eine ernsthafte Beschäftigung zu verrichten. Es stand auch bei Aufnahme der Arbeit am 8. September 1954 keineswegs fest, daß der Kläger seine Beschäftigung in Kürze werde wieder aufgeben müssen. Zudem war er durch die Operation nicht gezwungen, seine Beschäftigung überhaupt zu beenden; er hat seine Tätigkeit vielmehr - wie die spätere Wiederaufnahme der Arbeit zeigt nur unterbrochen.

Somit war der Kläger, auch wenn man davon ausgeht, daß das die Versicherungspflicht begründende Beschäftigungsverhältnis durch seine Teilnahme am Streik beendet worden ist, jedenfalls seit der Wiederaufnahme der Arbeit am 8. September wieder versicherungspflichtig beschäftigt. Da der Anspruch auf die Regelleistungen für Versicherungspflichtige mit dem Tage des Eintritts in die versicherungspflichtige Beschäftigung entsteht, hier also spätestens - nämlich bei Annahme einer Unterbrechung der Versicherungspflicht durch Teilnahme am Streik - am 8. September 1954 entstanden ist (§ 206 RVO i. V. m. § 306 Abs. 1 RVO), sind die Ansprüche des Klägers auf Hausgeld (§ 186 RVO) während des Krankenhausaufenthalts und späterhin auf Krankengeld (§ 182 Abs. 1 Nr. 2 RVO) begründet. Im Gegensatz zu der für Versicherungs berechtigte geltenden Regelung des § 310 Abs. 2 Satz 1 RVO schließt bei Pflicht versicherten eine beim Eintritt in die versicherungspflichtige Beschäftigung bereits bestehende Erkrankung den Anspruch auf Kassenleistungen nicht aus.

Dem Anspruch steht auch nicht entgegen, daß sich der Kläger während des Streiks vor Wiederaufnahme der versicherungspflichtigen Beschäftigung bei der beklagten Krankenkasse nach § 313 RVO weiterversichert hatte und bereits während dieser Zeit an dem gleichen Leiden erkrankt war, das später die Operation erforderlich machte. Ob die freiwillige Weiterversicherung des Klägers während des Streiks überhaupt wirksam war, hängt davon ab, ob das vorher bestehende Pflichtversicherungsverhältnis durch seine verhältnismäßig kurzfristige Teilnahme am Streik beendet worden ist (vgl. Peters, Handbuch der KV, Nebenbemerkung vor § 176 unter Nr. 3). War dies nicht der Fall, so wäre der Versicherungsfall, d. h. der Eintritt der hier maßgebenden Magenerkrankung (31. August 1954), während bestehender Versicherungspflicht eingetreten, ein Anspruch auch auf die Barleistungen der Kasse mithin unbedenklich gegeben. - Aber auch wenn man annimmt, daß die Versicherungspflicht des Klägers durch seine Teilnahme am Streik (ab 27. August 1954) beendet, somit seine freiwillige Weiterversicherung wirksam gewesen und daher die Erkrankung (Versicherungsfall) während der freiwilligen Versicherung eingetreten ist, wäre die Rechtslage nicht anders zu beurteilen. Zwar sind die Krankenkassen auf Grund der inhaltlichen Änderung des § 215 Abs. 2 und Abs. 3 RVO durch den gültig zustande gekommenen und auch rechtswirksam gebliebenen Erlaß des RAM vom 15. Dezember 1939 (AN S. 554) berechtigt, in der Satzung die Gewährung von Kranken- und Hausgeld für Weiterversicherte auszuschließen (vgl. BSG 12, 157), was auch die beklagte Krankenkasse getan hat. Daraus folgt aber nicht, daß diese Leistungsbeschränkung für Versicherungsfälle, die während der freiwilligen Weiterversicherung eingetreten sind, auch dann bestehen bleibt, wenn der Weiterversicherte - bei Fortbestehen seiner Erkrankung - wieder versicherungspflichtig wird, wie es bei dem Kläger nach Wiederaufnahme der Arbeit bei Beendigung des Streiks zutraf. Wird der Versicherte in einem solchen Falle erst nach Wiedereintritt seiner Versicherungspflicht arbeitsunfähig, so stehen ihm die vollen Leistungen eines Pflichtversicherten zu, auch wenn die Erkrankung, die zur Arbeitsunfähigkeit führte, also der maßgebende "Versicherungsfall", schon während der freiwilligen Versicherung (hier 31. August 1954) eingetreten ist.

Der Eintritt der Arbeitsunfähigkeit ist kein selbständiger Versicherungsfall; die Arbeitsunfähigkeit ist in gleicher Weise wie die Behandlungsbedürftigkeit nur eine der Erscheinungsformen, in denen sich die den Versicherungsfall auslösende Krankheit äußern kann (vgl. BSG 5, 283, 285, 286; 16, 177, 180). Die verschiedenen Ansprüche des Versicherten, die nach Eintritt des Versicherungsfalles während des Verlaufs der Krankheit entstehen können, sind zwar nach dem sog. Grundsatz der Einheit des Versicherungsfalles ihrem Rechtsgrunde, nicht aber der Art und Höhe nach grundsätzlich auf den Eintritt der Krankheit zurückbezogen. Diese rechtliche Abhängigkeit der verschiedenen Leistungen - hier des Kranken- und Hausgeldes - von demselben Versicherungsfall schließt aber nicht aus, daß z. B. bei der Berechnung des für das Krankengeld maßgebenden Grundlohnes auf die Verhältnisse im Zeitpunkt des Eintritts der Arbeitsunfähigkeit - und nicht des Versicherungsfalles, d. h. des Eintritts der behandlungsbedürftigen Erkrankung - abgestellt wird. Der Eintritt des Versicherungsfalles ist nach der Rechtsprechung des Senats für die Höhe des Krankengeldes dann nicht bestimmend, wenn die Arbeitsunfähigkeit erst später eintritt oder wenn der Bezug des Krankengeldes - bei fortdauernder Erkrankung - durch eine versicherungspflichtige Zwischenbeschäftigung unterbrochen worden ist (vgl. BSG 5, 283, 286 f). Die darin zum Ausdruck kommende "weitgehende Verselbständigung der Arbeitsunfähigkeit als Anspruchsvoraussetzung" (vgl. GE des RVA 5545, AN 1944, 39) muß auch dann Platz greifen, wenn bei fortbestehender Erkrankung an die Stelle der freiwilligen Weiterversicherung (ohne Anspruch auf Kranken- und Hausgeld) eine Pflichtversicherung tritt. Wollte man in solchen Fällen dem Versicherungspflichtigen das Kranken- und Hausgeld versagen, weil der Versicherungsfall schon während des Bestehens der Weiterversicherung eingetreten ist, so würde das dem Grundsatz des § 206 RVO widersprechen und auch der Lohnersatzfunktion des Kranken- und Hausgeldes nicht gerecht werden. Zudem würden die Versicherungspflichtigen, die vor Beginn der Versicherungspflicht weiterversichert waren, hinsichtlich des Bezuges von Krankengeld schlechter gestellt sein als diejenigen, die vor Aufnahme einer versicherungspflichtigen Beschäftigung zwar ebenfalls behandlungsbedürftig erkrankt, aber noch nicht Mitglieder einer Krankenkasse waren. Das widerspräche einer sinnvollen Auslegung des Gesetzes.

Die beklagte Krankenkasse ist daher - auch wenn der Versicherungsfall bereits während der Zeit einer wirksamen freiwilligen Weiterversicherung des Klägers eingetreten ist - verpflichtet, dem Kläger für die Zeit vom 14. September bis zum 13. Oktober 1954 Hausgeld und vom 14. Oktober bis zum 4. Dezember 1954 Krankengeld zu zahlen.

Auf die Revision des Klägers sind somit die Urteile der Vorinstanzen und die angefochtenen Bescheide aufzuheben und die beklagte BKK ist zur Zahlung von Haus- und Krankengeld zu verurteilen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Haufe-Index 926331

BSGE, 122

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