Leitsatz (amtlich)

Bau eines Familienheims iS des RVO § 539 Abs 1 Nr 15 ist unter bestimmten Voraussetzungen auch ein Ausbau oder eine bauliche Erweiterung.

 

Normenkette

RVO § 539 Abs. 1 Nr. 15 Fassung: 1963-04-30, § 537 Nr. 13 Fassung: 1956-06-27

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 8. September 1967, das Urteil des Sozialgerichts Koblenz vom 11. Juli 1966, der Widerspruchsbescheid vom 9. Juni 1965 sowie der Beitragsbescheid der Beklagten vom 5. November 1964 werden aufgehoben.

Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten sämtlicher Rechtszüge zu erstatten.

 

Gründe

I

Das Eigenheim des Klägers, das dieser mit seiner vierköpfigen Familie bis zum Jahre 1963 bewohnte, bestand aus einer Küche und zwei Wohnräumen. Als die beiden Söhne herangewachsen waren und einer von ihnen heiratete entschloß sich der Kläger, das Haus durch einen Anbau, enthaltend Wohn- und Nebenräume von insgesamt 84,42 qm, zu vergrößern und auf diese Weise auch für die Familie des verheirateten Sohnes eine Wohnung zu schaffen. Der Kläger führte das Bauvorhaben mit seinen beiden Söhnen und unter Mithilfe von fünf Nachbarn, die keine Bezahlung erhielten, in der Zeit vom 1. Juni 1963 bis 31. Mai 1964 aus; es wurden insgesamt 860 Arbeitsstunden aufgewendet. Vom Landratsamt des U-kreises wurde es durch Bescheid vom 23. September 1963 als steuerbegünstigter Erweiterungsbau im Sinne des § 17 Abs. 2 des Zweiten Wohnungsbaugesetzes (II. WoBauG) anerkannt.

Durch Beitragsbescheid vom 5. November 1964 forderte die Beklagte den Kläger als Unternehmer nichtgewerbsmäßiger Bauarbeiten zur Zahlung eines Beitrages von 117,90 DM auf. Beitragsfreiheit sei nicht gegeben, weil Erweiterungsbauten von der sich auf die Beitragspflicht von Bauherrn günstig auswirkenden Vorschrift des § 539 Abs. 1 Nr. 15 der Reichsversicherungsordnung (idF des Art. 1 des Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetzes - UVNG - RVO nF; bis zum 30. Juni 1963 § 537 Nr. 13 RVO aF) nicht erfaßt würden.

Widerspruch, Klage und Berufung sind ohne Erfolg geblieben (ablehnender Widerspruchsbescheid vom 9. Juni 1965, Urteil des Sozialgerichts Koblenz vom 11. Juli 1966, Urteil des Landessozialgerichts - LSG - Rheinland-Pfalz vom 8. September 1967).

Zur Begründung seiner (in Breithaupt 1968, S. 199 veröffentlichten) Entscheidung hat das LSG im wesentlichen ausgeführt: Das Bauvorhaben des Klägers sei durch die zuständige Behörde zwar als steuerbegünstigt anerkannt worden. Der Bau sei auch in Selbsthilfe errichtet worden. Der Kläger sei aber als Unternehmer nichtgewerbsmäßiger Bauarbeiten bei der Beklagten nur beitragsfrei, wenn seine Baumaßnahmen als Bau eines Familienheimes im Sinne der - inhaltsgleichen - §§ 537 Nr. 13 RVO aF, 539 Abs. 1 Nr. 15 RVO nF anzusehen seien. Dies sei jedoch nicht möglich, weil, wie sich aus Satz 3 aaO, der für die Begriffsbestimmungen verschiedene Vorschriften des II. WoBauG als maßgebend bezeichne, ergebe, daß nicht sämtliche im I. Teil des II. WoBauG bezeichneten Arten des Wohnungsbaues in den Unfallversicherungsschutz dieser Vorschriften einbezogen seien. In Satz 3 aaO werde auf § 17 des II. WoBauG, der die Begriffsbestimmungen dafür enthalte, was unter Wohnungsbau durch Ausbau oder Erweiterung eines bestehenden Gebäudes zu verstehen sei, nicht verwiesen. Aus dieser fehlenden Verweisung sei zu schließen, daß bei Erweiterungsbauten keine Beitragsentlastung des Bauherrn auf Kosten der Gemeinde oder des Gemeindeunfallversicherungsverbandes eintrete. Die Beklagte verlange deshalb als der nach § 646 Abs. 1 RVO nF zuständige Versicherungsträger vom Kläger zu Recht einen Beitrag, dessen Höhe keinen Bedenken begegne.

Das LSG hat die Revision zugelassen.

Der Kläger hat dieses Rechtsmittel eingelegt. Seine Prozeßbevollmächtigten haben es im wesentlichen wie folgt begründet: Der in § 539 Abs. 1 Nr. 15 RVO verwendete Begriff Bau von Familienheimen usw. müsse der Legaldefinition des § 2 des II. WoBauG entnommen werden. Nach dieser Vorschrift sei Wohnungsbau im Sinne dieses Gesetzes auch die Erweiterung eines bestehenden Gebäudes. Diese Legaldefinition entspreche der natürlichen Lebensauffassung. Aus § 100 des II. WoBauG ergebe sich, daß sie auch bei Auslegung des § 539 Abs. 1 Nr. 15 RVO anzuwenden sei. Der Gesetzgeber habe zwar nur bestimmte Wohnungs- und Nutzungsformen begünstigt. Dagegen habe er nicht nach der Art des Baues unterschieden. Das angefochtene Urteil laufe darauf hinaus, daß nur Neubauten begünstigt seien. Diese einschränkende Auslegung lasse sich aus dem Gesetzeswortlaut nicht begründen. Sie widerspreche auch dem Sinn des Gesetzes.

Die Beklagte hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Ihre die Beitragsverpflichtung des Klägers hervorrufende Zuständigkeit begründe sich bis zum 30. Juni 1963 aus § 537 Nr. 1 RVO aF und danach aus § 539 Abs. 1 Nr. 1 RVO nF; seit dem Inkrafttreten des UVNG komme Versicherungsschutz durch sie und somit ihr Beitragsanspruch auch aus § 539 Abs. 2 RVO nF in Betracht.

Der Kläger beantragt,

die Entscheidungen der Vorinstanzen sowie die Bescheide der Beklagten aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

II

Die Revision ist begründet.

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte berechtigt ist, dem Kläger wegen der von ihm in der Zeit von Juni 1963 bis Mai 1964 durchgeführten nichtgewerbsmäßigen Bauarbeiten Beiträge zur gesetzlichen Unfallversicherung aufzuerlegen. Dies trifft jedoch nicht zu, weil die Voraussetzungen der §§ 537 Nr. 13 RVO aF, 539 Abs. 1 Nr. 15 RVO nF vorliegen. Dies hat zur Folge, daß nach § 798 Abs. 2 RVO aF iVm Abs. 1 Nr. 2 dieser Vorschrift sowie § 785 Abs. 2 RVO aF die Versicherung bei der Zweiganstalt der Beklagten auf Kosten der Gemeinde durchzuführen war und vom 1. Juli 1963 an der Gemeindeunfallversicherungsverband nach § 657 Abs. 1 Nr. 8 RVO nF als Träger der Unfallversicherung zuständig gewesen ist. Daraus ergibt sich aber, daß die Beklagte kein Recht besitzt, vom Kläger Beiträge zu verlangen.

§ 537 Nr. 13 RVO aF, der im Wortlaut nahezu gleichbleibend und inhaltlich unverändert in § 539 Abs. 1 Nr. 15 RVO idF des Art. 1 UVNG übernommen worden ist, bezweckt vor allem, einem Bauherrn, der mangels ausreichender wirtschaftlicher Mittel genötigt ist, sein Familienheim (ebenso ähnliche vom Gesetzgeber aus familienpolitischen Gründen begünstigte Arten des Wohnungsbaues) ganz oder teilweise in Selbsthilfe zu erstellen, und den ihn hierbei unterstützenden Personen Unfallversicherungsschutz zu gewähren, den Bauherrn aber von einer Beitragsbelastung in der gesetzlichen Unfallversicherung freizustellen (Linthe, BG 1956, 388). Nach Satz 3 des § 537 Nr. 13 RVO aF (ebenso nach Satz 3 des § 539 Abs. 1 Nr. 15 RVO nF) sind für bestimmte, in den Sätzen 1 und 2, welche die Anspruchsvoraussetzungen regeln, enthaltene Begriffe die in den §§ 5, 7 bis 10, 12, 13 und 36 des II. WoBauG verwendeten Begriffsbestimmungen maßgebend. Diese Vorschriften des II. WoBauG beinhalten indessen Begriffsbestimmungen allein darüber, was unter öffentlich geförderten oder steuerbegünstigten Wohnungen (§ 5), Familienheimen (§ 7), Familie und Angehörigen (§ 8), Eigenheimen und Kaufeigenheimen (§ 9), Kleinsiedlungen (§ 10), Eigentumswohnungen und Kaufeigentumswohnungen (§ 12), Genossenschaftswohnungen (§ 13) und Eigenleistungen durch Selbsthilfe (§ 36) zu verstehen ist. Dagegen enthält § 537 Nr. 13 RVO aF ebensowenig wie § 539 Abs. 1 Nr. 15 RVO nF zur Frage, was als "Bau" eines Familienheimes usw. im Sinne dieser Vorschrift anzusehen ist, eine Verweisung auf das II. WoBauG, obwohl in dessen § 2 Abs. 1 Satz 1 ausgeführt ist, was unter den Begriff "Wohnungsbau" im Sinne dieses Gesetzes fällt, nämlich das Schaffen von Wohnraum durch Neubau, durch Wiederaufbau zerstörter oder Wiederherstellung beschädigter Gebäude und durch Ausbau oder Erweiterung bestehender Gebäude, und die §§ 16 und 17 diese Begriffe näher bestimmen. Aus dem Zweck des Gesetzes, den Bau von Familienheimen - sowie ähnlichen Arten von Wohnraum - zu fördern, ist jedoch zu schließen, daß Unfallversicherungsschutz den Personen gewährt werden soll, die an in Selbsthilfe erstellten Bauten mitwirken, durch die Wohnraum dieser Art für die Familie des Bauherrn geschaffen werden soll. Der Versicherungsschutz kann sich daher nicht allein auf die Selbsthilfe bei Neubauten beschränken, wie die Vorinstanzen und die Beklagte sowie das Schrifttum, soweit es sich zu dieser Frage äußert annehmen (Lauterbach, Unfallversicherung, 2. Aufl., Anm. 49 zu § 537 RVO aF sowie 3. Aufl., Anm. 93 zu § 539 RVO nF; Miesbach/Baumer, Anm. 33 zu § 539 RVO; Linthe BG 1956, 388, 389; Vollmar, SozVers 1967, 280, 281). Eine solche einschränkende Auslegung wird dem Zweck des Gesetzes nicht gerecht. Sie läßt sich weder aus dessen Entstehungsgeschichte (vgl. schriftlicher Bericht des Ausschusses für Wiederaufbau und Wohnungswesen zu § 92 des Entwurfs des II. WoBauG, BT-Drucks. Nr. 2270, 2. W. P.) noch aus dem Gesetzeswortlaut zwingend ableiten. Die Meinung, welche dies aus der Nichterwähnung der §§ 16 und 17 in Satz 3 des § 537 Nr. 13 RVO aF (§ 539 Abs. 1 Nr. 15 RVO nF) folgert, übersieht, daß die in dieser Vorschrift in Bezug genommenen Vorschriften des II. WoBauG sich vor allem mit bestimmten Orten von Wohnraum befassen, somit aus der umfangreicheren Aufzählung in § 2 Abs. 2 des II. WoBauG eine Auswahl treffen. In den §§ 16 und 17 dieses Gesetzes sind dagegen in § 2 Abs. 1 des II. WoBauG bezeichnete Begriffe erläutert, aus denen sich ergibt, was Wohnungsbau im Sinne dieses Gesetzes ist. Da hinsichtlich dieses Begriffs § 537 Nr. 13 RVO aF und § 539 Abs. 1 Nr. 15 RVO nF indessen keine Verweisung auf das II. WoBauG enthalten, muß die Auslegung des in diesen beiden Vorschriften verwendeten, im II. Wohnungsbaugesetz nicht vorkommenden Begriffs "Bau" von Familienheimen usw. aus dem allgemeinen Sprachgebrauch und dem Zweck dieser den Unfallversicherungsschutz regelnden Vorschrift gewonnen werden. Danach ist als Bau eines Familienheimes nicht nur ein Neubau, sondern auch ein Wiederaufbau sowie der Ausbau und die Erweiterung eines bestehenden Familienheimes anzusehen. Voraussetzung ist allerdings, daß hierdurch für die Familie des Bauherrn zusätzlicher Wohnraum (oder nach der Verkehrsauffassung dazu gehöriger Nebenraum) geschaffen wird und daß die Wohnflächengrenzen des öffentlich geförderten oder des steuerbegünstigten Wohnungsbaues nicht überschritten werden (§§ 39, 82 des II. WoBauG).

Der Kläger hat sein Einfamilienhaus erweitert, um den durch das Größerwerden seiner Kinder und die Verheiratung des einen Sohnes erforderlich gewordenen zusätzlichen Wohnraum zu gewinnen. Der Anbau ist somit für Familienzwecke erstellt worden. Er ist daher unbedenklich als "Bau" eines Familienheimes in dem o. a. Sinne anzusehen. Auch die übrigen Voraussetzungen dieser Vorschriften sind gegeben. Das Bauvorhaben ist von der zuständigen Behörde als steuerbegünstigt anerkannt worden. Der Bau ist in Selbsthilfe ausgeführt worden. Daran kann im Hinblick darauf, daß der gesamte Erweiterungsbau allein vom Kläger, dessen Söhnen und Nachbarn ohne Bezahlung erstellt worden ist, und angesichts der Zahl der Arbeitsstunden kein Zweifel bestehen. Wegen der Auslegung des Begriffs "Selbsthilfe" wird im übrigen auf das Urteil des erkennenden Senats vom 27. Juni 1968 (2 RU 212/67) verwiesen.

Die Bescheide der Beklagten sind somit, da diese gegenüber dem Kläger zur Erhebung eines Beitrags nicht berechtigt ist, rechtswidrig. Deshalb kann dahingestellt bleiben, ob - was das LSG nicht geprüft hat - vorliegendenfalls der Tatbestand der Nr. 1 oder Nr. 10 des § 537 RVO aF (§ 539 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 RVO nF) gegeben und die Beklagte - wie sie meint - auch in diesem Falle zur Erhebung eines Beitrages berechtigt ist.

Auf die Revision waren daher die Entscheidungen der Vorinstanzen sowie die Bescheide der Beklagten aufzuheben.

Die Kostenentscheidung stützt sich auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Haufe-Index 2324554

BSGE, 128

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