Leitsatz (amtlich)

1. Der Ausdruck "besondere Umstände" in BVG § 38 Abs 2 stellt einen unbestimmten Rechtsbegriff dar, der von der Versorgungsbehörde auszulegen ist. Ob die Versorgungsbehörde dabei die Grenzen des vom Gesetz eingeräumten Beurteilungsspielraums zutreffend erkannt und damit ihr Ermessen gesetzesgemäß ausgeübt hat, unterliegt der richterlichen Nachprüfung.

2. Die VV 2 zu BVG § 38 enthalten keine andere Fälle ausschließende Aufzählung der "besonderen Umstände", bei deren Vorliegen gemäß BVG § 38 Abs 2 Rente gewährt werden kann.

 

Normenkette

BVG § 38 Abs. 2 Fassung: 1950-12-20; BVGVwV § 38 Nr. 2; SGG § 54 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 18. Juli 1957 wird als unbegründet zurückgewiesen.

Der Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Die Klägerin hat am 28. März 1953 W B geheiratet. Bei dem Ehemann war seit 1922 für beiderseitige offene Lungen-Tbc., verschlimmert durch Dienstbeschädigung, Erwerbsunfähigkeit und seit 1929 eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE.) um 90 v.H. anerkannt. Nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) wurden beiderseitige geschlossene Lungen-Tbc. mit Emphysem und chronischer Bronchialkatarrh als Versorgungsleiden anerkannt. Rente wurde zunächst nach einer MdE. um 90 v.H. und seit 1. November 1951 wegen Erwerbsunfähigkeit mit Pflegezulage gewährt. Der Ehemann ist am 3. Oktober 1953 an den anerkannten Leiden gestorben.

Die Klägerin begehrt Witwenrente. Das Versorgungsamt hat mit Bescheid vom 25. Februar 1955 Hinterbliebenenversorgung als Rechtsanspruch abgelehnt, weil die Ehe nach der Schädigung geschlossen wurde und nicht mindestens 1 Jahr gedauert hat (§ 38 Abs. 2 BVG). Auch als Kannleistung wurden Versorgungsleistungen nicht gewährt; denn die Klägerin habe weder nach früherem Versorgungsrecht Rente bezogen, noch sei die Ehe vor dem 9. Mai 1945 geschlossen worden, noch sei ein Kind aus der Ehe hervorgegangen; die Klägerin habe auch nicht ihre wirtschaftliche Existenz bei der Eheschließung aufgegeben, noch sei sie erwerbsunfähig. Das Landesversorgungsamt hat den Widerspruch mit Bescheid vom 5. Dezember 1955 zurückgewiesen.

Das Sozialgericht (SG.) Heilbronn hat den Bescheid vom 25. Februar 1955 und den Widerspruchsbescheid aufgehoben und den Beklagten verurteilt, einen erneuten Bescheid zu erteilen unter Prüfung der Frage, ob besondere Umstände im Sinn des § 38 Abs. 2 BVG vorliegen.

Das Landessozialgericht (LSG.) Baden-Württemberg hat mit Urteil vom 18. Juli 1957 die Berufung des Beklagten zurückgewiesen. Es hat ausgeführt, der Rechtsstreit betreffe eine Leistung, über deren Gewährung der Beklagte nach seinem Ermessen zu befinden habe. Das Gericht prüfe, ob die Ermessensgrundlagen fehlerhaft seien. Bei den besonderen Umständen im Sinn des § 38 Abs. 2 BVG handele es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff. In der rechtlichen und tatsächlichen Prüfung dieser gesetzlichen Zulässigkeitsvoraussetzung sei das Gericht nicht beschränkt. Die Verwaltungsvorschriften zum BVG (VV.) zeigten nur Beispiele. Die Beschränkung des unbestimmten Rechtsbegriffs "besondere Umstände" auf die in den VV. angegebenen Tatbestände sei zu eng. Diese Auslegung der VV. beruhe auf einer unrichtigen Anwendung des Rechts. Die Versorgungsverwaltung gebrauche ihr Ermessen fehlerhaft, wenn sie lediglich die in den VV. genannten Voraussetzungen und nicht darüberhinaus alle Umstände mit in ihre Prüfung einbeziehe, die für die Entscheidung ernsthaft von Bedeutung sein könnten. Die Verwaltungsbehörde habe einwandfreie Unterlagen zu beschaffen; mit der bloßen Anwendung von Weisungen habe sie ihr eigenes Ermessen noch nicht fehlerfrei ausgeübt. Der Beklagte habe nur geprüft, ob die Voraussetzungen der Nr. 2 der VV. zu § 38 BVG erfüllt seien. Die Klägerin stütze ihr Begehren auch auf die jahrelange Pflege des Verstorbenen vor der Eheschließung. Schließlich hat das LSG. auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG.) zu § 590 Abs. 2 Reichsversicherungsordnung (RVO) hingewiesen (Urteil vom 17.1.1957 in SozR. RVO, § 590, Aa 1 Nr. 1). Revision wurde zugelassen.

Der Beklagte hat Revision eingelegt und beantragt, die Urteile des LSG. vom 18. Juli 1957 und des SG. vom 9. Oktober 1956 aufzuheben, den Bescheid vom 25. Februar 1955 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 5. Dezember 1955 wiederherzustellen und die Klage gegen die genannten Bescheide abzuweisen. Er führt aus, in der Nr. 2 der VV. zu § 38 BVG werde umrissen, welche Tatbestände der Begriff "besondere Umstände" im Sinn der Ausnahmevorschrift des § 38 Abs. 2 BVG beinhalte. Die VV. seien von der Bundesregierung mit Zustimmung des Bundesrats kraft gesetzlicher Ermächtigung erlassen. Sie dürften deshalb als Auslegungsregeln herangezogen werden. Die Rechtsprechung des BSG. zu § 590 Abs. 2 RVO sei hier nicht anzuwenden, weil zu dieser Bestimmung keine VV. erlassen seien.

Die Klägerin hat Zurückweisung der Revision beantragt.

Die Revision ist infolge Zulassung statthaft (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 Sozialgerichtsgesetz - SGG -). Sie ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§ 164 SGG) und daher zulässig. Sachlich ist sie nicht begründet.

Die Klägerin begehrt vom Beklagten Witwenrente als Kannleistung nach § 38 Abs. 2 BVG. Nach dieser Gesetzesbestimmung hat die Witwe keinen Anspruch, wenn die Ehe erst nach der Schädigung geschlossen worden ist und nicht mindestens ein Jahr gedauert hat, doch kann Rente beim Vorliegen besonderer Umstände gewährt werden. Die Klägerin erstrebt demnach eine Leistung, deren Gewährung im Ermessen des Beklagten steht. Ihre Klage richtet sich gegen die Ablehnung der Kannleistung. Sie stellt eine Aufhebungsklage, verbunden mit einer Klage auf Verpflichtung des Beklagten zum Erlaß eines neuen Bescheides dar (§ 54 Abs. 1 und 2 SGG; vgl. BSG. 7 S. 46). In solchen Fällen können die Gerichte nur nachprüfen, ob die Versorgungsbehörde bei der Entscheidung über die Gewährung der Kannleistung die gesetzlichen Grenzen ihres Ermessens überschritten oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat (vgl. BSG. vom 3.7.1958 in SozR., BVG, § 64 Ca 1 Nr. 1). Auch soweit das Gesetz bei der Anwendung von Rechtsbegriffen einen Beurteilungsspielraum läßt, ohne damit zu Ermessenshandlungen zu ermächtigen, kann der Richter nur die Grenzen des Beurteilungsspielraums ziehen; er kann diesen aber nicht einengen und durch eigene Beurteilung ersetzen, wenn ihm die Beurteilung durch die Versorgungsbehörde zwar als vertretbar, aber nicht angemessen erscheint (DVBl. 1958 S. 435 und 837).

In § 38 BVG treffen Vorschriften über Ermessensausübung und Rechtsanwendung zusammen. Es ist zwischen dem Teil der Vorschriften, der die Versorgungsbehörde zu einer Ermessensentscheidung berechtigt, und den Vorschriften, die die materiell-rechtlichen Voraussetzungen der Kannleistung bestimmen, zu unterscheiden. Daß die Versorgungsbehörde in den Fällen des § 38 Abs. 2 BVG zur Gewährung von Rente nach ihrem Ermessen berechtigt ist, ergibt sich aus dem Wortlaut des Gesetzes "kann gewährt werden" im Zusammenhang mit dem vorangehenden Halbsatz, demzufolge die Witwe keinen Rechtsanspruch hat. Mit den weiteren Worten "beim Vorliegen besonderer Umstände" werden materiell-rechtliche Voraussetzungen bezeichnet, bei deren Vorliegen die Versorgungsbehörde zur Gewährung einer Rente ermächtigt ist. (Zur Unterscheidung zwischen gesetzlichen Zulässigkeitsvoraussetzungen und Ermessenserwägungen bei der verwaltungsgerichtlichen Überprüfung s. BVerwG. 3 S. 279). Aus dieser Unterscheidung zwischen der Ermächtigung zu einer Leistung ("kann") und ihren materiell-rechtlichen Voraussetzungen ("besondere Umstände") folgt, daß auch bei Vorliegen besonderer Umstände die Witwe keinen Rechtsanspruch auf Witwenrente hat. Die Verwaltungsbehörde hat beim Vorliegen besonderer Umstände ihr Ermessen nach dem Grundsatz der Gleichbehandlung (Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz) und dem der Pflichtgebundenheit - im Gegensatz zur Willkür - auszuüben (vgl. Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, Allg. Teil, 7. Aufl., S. 84 bis 86).

Der Begriff "besondere Umstände" ist ein unbestimmter Rechtsbegriff, weil sein Inhalt und Umfang weitgehend ungewiß ist (vgl. Engisch, Einführung in das juristische Denken, S. 108). Er ist ein Rechtsbegriff, keine Ermessensvorschrift, denn aus seiner Stellung im Gesetz im Zusammenhang mit § 38 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2, 1. Halbs. BVG ergibt sich, daß nicht dieser Begriff die Versorgungsbehörde zur Gewährung von Rente nach ihrem Ermessen ermächtigt (dies geschieht durch die Worte "kann gewährt werden"), sondern daß der Begriff mit einem bestimmten Inhalt ausgefüllt werden muß, der dann mit für die Ermessensentscheidung der Versorgungsbehörde maßgebend ist (zum "unbestimmten Rechtsbegriff" vgl. MDR. 1954 S. 188 Nr. 167, auch DVBl. 1957 S. 788 (Anm.)). Das Gericht muß den unbestimmten Rechtsbegriff auslegen, d.h. seinen allgemeinen Sinngehalt ermitteln und nachprüfen, ob die Auslegung, die die Versorgungsbehörde dem Begriff gegeben hat, dem Gesetz entspricht. Die unrichtige Auslegung eines Rechtsbegriffs durch die Verwaltungsbehörde kann die Ausübung ihres Ermessens im konkreten Falle fehlerhaft machen, wenn sie sich durch die gesetzwidrige Auslegung in ihrer Ermessensausübung gegenüber den Möglichkeiten, die das Gesetz bei richtiger Auslegung gewährt, zu Unrecht eingeschränkt glaubt. Daß der unbestimmte Rechtsbegriff hier in einer Ermessensvorschrift verwendet wird, steht der Nachprüfung der Auslegung durch das Gericht nicht entgegen. Der Gebrauch eines so allgemein unbestimmten Begriffs wie "besondere Umstände", der als Voraussetzung für einen Rechtsanspruch ungewöhnlich wäre, wird in § 38 Abs. 2 BVG dadurch erklärlich, daß er in einer Vorschrift über eine Kannleistung angewandt wird, die von vornherein die Gewährung der Leistung in das Ermessen der Versorgungsbehörde stellt. Aus der Allgemeinheit des Begriffs "besondere Umstände" muß entnommen werden, daß er der Verwaltungsbehörde einen Beurteilungsspielraum für die Einordnung des Einzelfalles einräumt (zu Beurteilungsspielraum, Ermessen und unbestimmtem Rechtsbegriff siehe insbes. Bachof in JZ. 1955 S. 97 und DVBl. 1957 S. 788, ferner DVBl. 1958 S. 435 und 837).

Der Begriff der besonderen Umstände in § 38 Abs. 2 BVG ist aus dem Gesetz selbst auszulegen. Die VV. können ihn nicht einschränken oder ausdehnen, sie können das Gesetz für die Anwendung durch die Verwaltungsbehörde nur erläutern und einen Spielraum ausfüllen, wo das Gesetz einen solchen gelassen hat (BSG. 7 S. 75 (78)). In Nr. 2 der VV. zu § 38 BVG kann deshalb lediglich eine Erläuterung des Gesetzes und Anleitung zur gleichmäßigen Handhabung des Ermessens gesehen werden, wobei die angeführten Fälle als Beispiele für "besondere Umstände" anzusehen sind. Das Gesetz selbst hat die Ausnahmen des § 38 Abs.2, 2. Halbsatz BVG mit der Generalklausel "beim Vorliegen besonderer Umstände" zugelassen, es wollte demnach die Ausnahmefälle nicht selbst kasuistisch abschließend aufzählen. Daher können auch die VV. diese Generalklausel nicht durch weitere Fälle der "besondere Umstände" ausschließenden Aufzählung einengen und dadurch die Anwendung dieser Vorschrift entgegen dem Gesetz beschränken. Zu einer solchen generellen Einengung sind die Verwaltungsbehörden auch nicht deshalb berechtigt, weil es sich bei der Gewährung der Rente um eine Kannleistung handelt; denn der Begriff "besondere Umstände" als solcher ist ein Rechtsbegriff und auch der Beurteilungsspielraum geht nicht soweit, daß schlechthin an die Stelle der Generalklausel die abschließende Aufzählung von Einzelfällen gesetzt werden könnte, wodurch der Inhalt der Gesetzesvorschrift als Generalklausel grundlegend geändert würde.

Die Auffassung des Beklagten, Nr. 2 der VV. zu § 38 BVG bestimme erschöpfend die Fälle, in denen eine Rente gewährt werden könne, entspricht somit nicht dem Gesetz. Da der Beklagte bei der Ausübung seines Ermessens, ob er der Klägerin eine Rente gewähren solle, von einer zu engen und daher unzutreffenden Auslegung des Begriffs "besondere Umstände" ausging, ist seine Ermessensausübung fehlerhaft. Dem Urteil des LSG. und des SG. ist daher im Ergebnis zuzustimmen. Dies bedeutet jedoch noch nicht, wie die Klägerin anzunehmen scheint, daß sie nun Rente erhalten müsse. Der Beklagte hat diese Frage vielmehr neu zu prüfen unter Zugrundelegung der nachfolgenden Rechtsausführungen zum Begriff "besondere Umstände" und der allgemeinen Grundsätze einer rechtmäßigen Ermessensausübung, wie insbesondere Beachtung des Gleichheitsgrundsatzes nach Art. 3 Grundgesetz und der Pflichtgebundenheit der Verwaltung.

Die Auslegung des Begriffs "besondere Umstände" in § 38 Abs. 2, 2. Halbsatz BVG hat im Zusammenhang mit Abs. 1 und dem vorangehenden 1. Halbsatz des Abs. 2 zu erfolgen. § 38 Abs. 1 BVG stellt fest, daß die Witwe eines an den Folgen einer Schädigung gestorbenen Beschädigten Anspruch auf Hinterbliebenenrente hat. Der 1. Halbsatz des Abs. 2 in § 38 BVG enthält eine Ausnahme von dieser Regel, nämlich wann die Witwe trotz Vorliegens der Voraussetzungen des Abs. 1 keinen Anspruch hat. Der 2. Halbsatz von Abs. 2 des § 38 BVG wiederum enthält eine Ausnahme von der Ausnahme des 1. Halbsatzes. Aus diesem Verhältnis von Regel und Ausnahme ist zu bestimmen, welche Art von Umständen "besondere Umstände" im Sinne des § 38 Abs. 2, 2. Halbsatz BVG sind. Besondere Umstände sind solche, durch die sich ein Fall von dem vom Gesetzgeber angenommenen Normalfall unterscheidet.

Die Verhandlungen vor Erlaß des BVG enthalten nichts, was zur Auslegung des Begriffs "besondere Umstände" in § 38 Abs. 2 BVG herangezogen werden könnte. Auch die historische Entwicklung der Witwenrente in der Kriegsopferversorgung gibt keinen Anhalt für die Auslegung. § 36 Abs. 3 des früheren Reichsversorgungsgesetzes (RVG) wurde durch die 2. Verordnung des Reichspräsidenten zur Sicherung von Wirtschaft und Finanzen vom 5. Juni 1931 (RGBl. I S. 279), 2. Teil, Kapitel IV Art. 1 Nr. 13, eingefügt, war also eine reine Sparmaßnahme. Nach den Ausführungsbestimmungen zu § 36 RVG kam in solchen Fällen bei Bedürftigkeit eine Witwenbeihilfe in Betracht. Auch § 105 Abs. 3 Wehrmachtsfürsorge- und Versorgungsgesetz enthielt eine ähnliche Vorschrift. Nach den Ausführungsbestimmungen dazu konnte Versorgung gewährt werden, wenn die Bewilligung nach der gesamten Sachlage, insbesondere den wirtschaftlichen Verhältnissen, gerechtfertigt erschien.

Die Gründe, weshalb das BVG einen Witwenrentenanspruch ausschließt, wenn die Ehe erst nach der Schädigung geschlossen ist und nicht mindestens ein Jahr gedauert hat, können daher nur aus dem Sinn und Zweck des BVG erklärt werden. Es ist dabei zu berücksichtigen, auf welchen Erwägungen der Witwenrentenanspruch überhaupt beruht. Zweck und Aufgabe der Hinterbliebenenrente für die Witwe ist es, den durch den vorzeitigen Tod des Ernährers eingetretenen Unterhaltsausfall für die Zukunft in gewissem Umfang auszugleichen. Die Ehefrau, die ihren Ehemann vor der Schädigung geheiratet hat, wird durch dessen Schädigung insofern selbst betroffen, als seine Erwerbsfähigkeit gemindert und er dadurch in der Erfüllung seiner Aufgabe als Ernährer der Familie behindert wird. Insoweit wird auch die wirtschaftliche Lage der Ehefrau unmittelbar beeinträchtigt. Diese Erwägungen entfallen in der Regel, wenn die Ehe erst nach der Schädigung geschlossen wurde. Hat die Ehe nicht wenigstens ein Jahr gedauert, so hat die Ehefrau von ihren wirtschaftlichen und beruflichen Verhältnissen vor der Eheschließung meist noch keinen so großen Abstand genommen, daß sie diese nicht nach dem Tod des Beschädigten fortsetzen oder wiederaufnehmen oder sich eine selbständige Lebensführung neu erarbeiten könnte. Besondere Umstände sind daher solche, die im konkreten Falle die Lage der Witwe in den Fällen des § 38 Abs. 2 BVG erheblich anders erscheinen lassen als die vorstehend dargelegte, allgemein angenommene Lage der Witwe, die ihren Ehemann erst nach der Schädigung geheiratet hat und deren Ehe nicht mindestens ein Jahr gedauert hat. Diese Umstände müssen der Witwe die normalerweise zu erwartende Rückkehr in die Verhältnisse vor der Eheschließung, insbesondere in ihren früheren Beruf, oder die Neuschaffung einer unabhängigen Lebensführung wesentlich erschweren oder sogar unmöglich machen. Dabei ist es durchaus möglich, daß diese Erschwerung gerade dadurch eingetreten ist, daß die Witwe ihren späteren Ehemann als Beschädigten lange Zeit persönlich betreut hat und ihm bei der Begründung oder Erhaltung seiner Existenz wie eine Ehefrau behilflich gewesen ist.

Der Beklagte hat sonach der Klägerin auf ihren Antrag auf Gewährung von Rente als Kannleistung einen neuen Bescheid unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats zu erteilen.

Die Revision des Beklagten war als unbegründet nach § 170 Abs. 1 Satz 1 SGG zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Haufe-Index 926355

BSGE, 51

NJW 1959, 1747

MDR 1959, 793

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