Leitsatz (amtlich)

Zur Verletzung des rechtlichen Gehörs, wenn ein schriftlicher Antrag, den Termin aufzuheben, erst am Tage der mündlichen Verhandlung bei Gericht eingeht und dem Richter bis zur Urteilsverkündung nicht mehr vorgelegt wird.

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Die gerichtliche Nichtberücksichtigung einer Bitte eines Prozeßbeteiligten, einen Termin aufzuheben, kann die Verletzung rechtlichen Gehörs bedeuten.

2. Dies gilt lediglich dann nicht, wenn der den Aufhebungsantrag enthaltene Schriftsatz erst so spät beim Gericht eingeht, daß er selbst bei Anwendung größtmöglicher Sorgfalt, insbesondere bei umgehender Öffnung der Post, genauer Beachtung ihres Inhalts und unverzüglicher Weiterleitung, den Richter, für den er bestimmt ist, nicht mehr rechtzeitig erreicht hätte. Innerhalb einer Stunde ist dies aber bei einem Landessozialgericht durchaus möglich.

 

Orientierungssatz

Für die Annahme einer Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör ist unerheblich, wen innerhalb des Gerichts ein Verschulden trifft, ob den oder die zur Entscheidung berufenen Richter oder einen sonstigen Bediensteten; das Gericht ist insgesamt dafür verantwortlich, daß dem Gebot des rechtlichen Gehörs Rechnung getragen wird (vgl zuletzt BVerfG 7.12.1982 2 BvR 1118/82 = BVerfGE 62, 347, 352).

 

Normenkette

GG Art. 103 Abs. 1 Fassung: 1949-05-23; SGG §§ 62, 202; ZPO § 227

 

Verfahrensgang

LSG Berlin (Entscheidung vom 04.04.1984; Aktenzeichen L 9 Kr 36/83)

SG Berlin (Entscheidung vom 17.03.1983; Aktenzeichen S 75 Kr 27/81)

 

Tatbestand

Im Revisionsverfahren geht es darum, ob das Landessozialgericht (LSG) den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör verletzt hat.

Der Kläger, ein Rechtsanwalt in einer Sozietät dreier Anwälte, wandte sich gegen die Höhe seines Beitrages zur Krankenversicherung, den die Beklagte durch Bescheid vom 17. Oktober 1980 festgesetzt hatte. Widerspruch und Klage blieben erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 17. Dezember 1980; Urteil des Sozialgerichts -SG- Berlin vom 17. März 1983).

Während des Berufungsverfahrens hat der Vorsitzende des 9. Senats des LSG durch Verfügung vom 13. März 1984 Termin zur mündlichen Verhandlung auf Mittwoch, den 4. April 1984, 10.30 Uhr, bestimmt. Die Ladung ist dem Kläger laut Empfangsbekenntnis am 16. März 1984 zugestellt worden. In der mündlichen Verhandlung vom 4. April 1984 war für den Kläger niemand erschienen; ein Verlegungsantrag war dem Senat nicht bekannt. Nach Schluß der mündlichen Verhandlung und Beratung hat der Vorsitzende das Urteil verkündet, mit dem die Berufung des Klägers zurückgewiesen wurde.

Am Tag der mündlichen Verhandlung (4. April 1984) war jedoch ein Schreiben des Klägers vom 30. März 1984 (Freitag) beim LSG eingegangen, in dem er bat, den Termin aufzuheben. Für den Terminstag seien er und seine Sozien durch andere dringende dienstliche Termine verhindert, so daß ein Erscheinen nicht möglich sei; eine bürofremde Abgabe erscheine untunlich. Sollte eine Aufhebung möglich sein, werde um Neuanberaumung aus Urlaubsgründen nicht vor dem 3. Mai 1984 gebeten. Das in einem Fensterumschlag enthaltene Schreiben bestand lediglich aus einer Seite; es war zutreffend und vollständig adressiert und mit dem richtigen Aktenzeichen des LSG versehen. Im Text war der aufzuhebende Termin eingerückt. Einen Eilt-Vermerk oder einen ähnlichen Hinweis auf den Termin enthielt das Schreiben jedoch nicht. Der Brief ist - nach den Feststellungen des LSG - am 3. April 1984 um 19.00 Uhr in Berlin abgestempelt. Die Akte des LSG enthält einen Vermerk der Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle, wonach der Brief (am 4. April 1984) "ungefähr gegen 9.30 Uhr eingegangen" sei; auf der Poststelle sei so viel zu tun gewesen, daß die eingegangene Post erst um 12.30 Uhr zur Verteilung bereit gelegen habe.

In den Entscheidungsgründen des schriftlichen Urteils hat das LSG ausgeführt: Es habe in Abwesenheit des Klägers verhandelt und entschieden werden können, denn der Kläger sei in der Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden. Eine Vertagung sei nicht in Betracht gekommen. Abgesehen davon, daß die Ankündigung des Klägers, er könne den Termin nicht wahrnehmen, so spät eingegangen sei, daß der Senat sie nicht mehr habe berücksichtigen können, habe er keine erheblichen Gründe vorgetragen, die eine Terminsänderung hätten rechtfertigen können.

Der Kläger hat die - vom erkennenden Senat zugelassene - Revision eingelegt und rügt eine Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör (§ 62 Sozialgerichtsgesetz -SGG-; Art 103 Abs 1 Grundgesetz -GG-; Art 6 Abs 1 Menschenrechtskonvention). Zur Begründung trägt er im wesentlichen vor: Der Antrag, den Termin aufzuheben, hätte bei ordnungsgemäßer Weiterleitung bis zum Ende der mündlichen Verhandlung des LSG dem erkennenden Senat vorgelegt werden müssen. Die für eine Aufhebung angeführten Gründe seien erheblich, zumal die Ladung verhältnismäßig kurzfristig erfolgt sei. Der späte Eingang des Antrags bei Gericht beruhe auf einer Verzögerung bei der Post; denn der Brief sei schon am 30. März 1984 abgesandt worden. Die im schriftlichen Urteil enthaltenen Ausführungen zu dem Antrag auf "Vertagung" könnten im übrigen nicht das Beratungsergebnis wiedergeben, weil dem Senat (einschließlich der ehrenamtlichen Richter) der Antrag bis zur Verkündung des Urteils nicht bekannt gewesen sei. Auch ohne Vorliegen des Antrags hätte der Senat nachfragen müssen, warum er (der Kläger) nicht erschienen sei. Es sei nicht auszuschließen, daß eine umfassende mündliche Erörterung vor dem Berufungsgericht, zu der es durch das Übergehen des Antrags nicht gekommen sei, zu einer Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils geführt hätte.

Der Kläger beantragt, das Urteil des LSG vom 4. April 1984 mit den Feststellungen aufzuheben und die Sache zur erneuten Entscheidung an einen anderen Senat des LSG zurückzuverweisen.

Die Beklagte hat sich zur Sache nicht geäußert und auch keinen Antrag gestellt.

Der Vorsitzende des 9. Senats des LSG hat durch Schreiben vom 14. August 1984 auf Anfrage mitgeteilt, die mündliche Verhandlung habe am 4. April 1984 um 10.35 Uhr begonnen und sei um 10.42 Uhr geschlossen worden. Der Präsident des LSG hat dem erkennenden Senat im Beschwerdeverfahren die Auskunft vom 18. September 1984 über die Behandlung der für das LSG eingehenden Post durch die Poststelle und die Geschäftsstellen erteilt; auf ihren Inhalt wird Bezug genommen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 SGG).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers ist begründet. Der Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör ist verletzt.

Nach Art 103 Abs 1 GG hat vor Gericht jedermann Anspruch auf rechtliches Gehör. Entsprechend bestimmt § 62 Halbsatz 1 SGG, daß den Beteiligten vor jeder Entscheidung rechtliches Gehör zu gewähren ist. Das geschieht vornehmlich in der mündlichen Verhandlung, die der Entscheidung des Gerichts in der Regel vorauszugehen hat (§ 124 Abs 1 SGG). Sie ist gleichsam das "Kernstück" des gerichtlichen Verfahrens, um dem Anspruch der Beteiligten auf rechtliches Gehör zu genügen und den Streitstoff erschöpfend mit ihnen zu erörtern (BSGE 44, 292, 292/293 mwN). Auch im vorliegenden Verfahren hat das LSG Termin zur mündlichen Verhandlung anberaumt. Dabei war der Kläger jedoch nicht anwesend. Er war zwar in der Ladung auf die Möglichkeit einer Entscheidung auch ohne sein Erscheinen hingewiesen worden. Gleichwohl durfte das LSG hier nicht in Abwesenheit des Klägers in der Sache entscheiden, ohne sich zuvor mit seinem Antrag vom 30. März 1984 zu befassen. Indem das LSG den Antrag übergangen hat, ist dem Kläger die Möglichkeit genommen worden, seine Auffassung in einer mündlichen Verhandlung darzulegen. Das Übergehen des Antrags hat seinen Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt.

Wie sich aus den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils und aus den Akten ergibt, hat der 9. Senat des LSG den Antrag des Klägers vor der Entscheidung in der Sache unbeachtet gelassen. Daran ändert nichts, daß er in den schriftlichen Urteilsgründen inhaltlich beschieden und abgelehnt worden ist. Denn insofern können die Gründe nicht das Ergebnis der vor der Urteilsverkündung abgehaltenen Beratung des gesamten Spruchkörpers (einschließlich der ehrenamtlichen Richter) wiedergeben, weil ihm der Antrag damals nicht bekannt war. Der gesamte Senat war aber für die Entscheidung über den Antrag zuständig, nachdem der Vorsitzende vor der mündlichen Verhandlung nicht darüber befunden hatte (§ 202 SGG iVm § 227 Abs 2 Zivilprozeßordnung -ZPO-).

Für die Annahme einer Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör ist unerheblich, wen innerhalb des Gerichts ein Verschulden trifft, ob den oder die zur Entscheidung berufenen Richter oder einen sonstigen Bediensteten; das Gericht ist insgesamt dafür verantwortlich, daß dem Gebot des rechtlichen Gehörs Rechnung getragen wird (vgl BVerfGE 11, 218, 220; 17, 265, 268; 46, 185, 187/188; 53, 219, 222/223; 60, 96, 100; 60, 120, 123; 62, 347, 352; BSG SozR Nr 16 zu § 62 SGG). Wiederholt wurde eine Verletzung des rechtlichen Gehörs auch angenommen, wenn ein Schriftsatz, der sich bereits bei Gericht befand, dem Richter bis zur Entscheidung nicht zur Kenntnis gelangt war. Der betreffende Schriftsatz war dann jedoch wenigstens am Vortage der Entscheidung (so im Fall BSG SozR Nr 16 zu § 62 SGG; ferner BFH BB 1984, 1673), zwei Tage vorher (so im Fall BVerfGE 34, 344) oder noch früher bei Gericht eingegangen. Etwas anderes gilt jedoch grundsätzlich auch dann nicht, wenn der Schriftsatz, der einen Antrag auf Terminsaufhebung enthält, erst am Tage der Entscheidung, aber vor Ende der mündlichen Verhandlung bei Gericht eingegangen ist.

In einem solchen Fall könnte das rechtliche Gehör allerdings dann nicht verletzt sein, wenn der Schriftsatz so spät eingeht, daß er selbst bei Anwendung größtmöglicher Sorgfalt, insbesondere bei umgehender Öffnung der Post, genauer Beachtung ihres Inhalts und unverzüglicher Weiterleitung, den Richter, für den er bestimmt ist, nicht mehr rechtzeitig erreicht hätte; dann müßte möglicherweise der Absender den Nachteil des zu späten Eingangs tragen. Daß ein solcher Fall hier vorliegt, ist indes nicht feststellbar. Zwischen dem Eingang des Briefes beim LSG, der nach der Auskunft des Präsidenten des LSG und dem Vermerk der Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle zwischen 9.00 Uhr und etwa 9.30 Uhr lag, und dem Ende der mündlichen Verhandlung, die nach der Auskunft des Senatsvorsitzenden um 10.42 Uhr geschlossen wurde, lag mehr als eine Stunde. Diese Zeit reicht in Gerichten von der Größe des LSG Berlin bei entsprechenden organisatorischen Vorkehrungen in der Regel aus, einen Schriftsatz wie den des Klägers noch an den erkennenden Senat gelangen zu lassen. Nach der Auskunft des Präsidenten des LSG hatten die Bediensteten der Posteingangsstelle auch einen Überblick über die täglich stattfindenden Sitzungen und beachteten entsprechende Post besonders. Dann aber mußte ihnen der zwar nicht als eilbedürftig gekennzeichnete, aber an den 9. Senat gerichtete und - durch Einrücken des Antrags - auf den Termin vom selben Tage hinweisende kurze Schriftsatz auffallen und sie zur unverzüglichen Weiterleitung veranlassen. Das gilt selbst dann, wenn er nicht zu den von Hand zu Hand weiterzuleitenden Sendungen iS von § 5 Abs 2 der "Arbeitsanweisung für die Behandlung von Postein- und -ausgängen bei den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit Berlin" vom 1. August 1978 gehörte.

Es ist allerdings letztlich nicht geklärt, worauf es im vorliegenden Verfahren zurückzuführen ist, daß der Schriftsatz des Klägers den 9. Senat des LSG vor der Entscheidung nicht mehr erreicht hat. Dieses kann außer auf einer Säumnis bei der Öffnung oder der Weiterleitung der Post auch darauf zurückzuführen sein, daß der Brief mit dem Schriftsatz bei Ende der mündlichen Verhandlung noch nicht geöffnet war, ohne daß eine vermeidbare Verzögerung vorlag. Denn nach der Auskunft des Präsidenten des LSG besteht die für das LSG und das SG bei der Posteingangsstelle vom Briefträger angelieferte Post aus durchschnittlich 400 Sendungen täglich, und nach dem Aktenvermerk der Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle ist am 4. April 1984 auf der Poststelle viel zu tun gewesen. Die Unsicherheit darüber, welche Gründe im einzelnen für die Vorlage des Antrags erst nach Verkündung des Urteils ursächlich waren, kann jedoch, da sie im Bereich des Gerichts liegen, nicht zu Lasten des Klägers gehen. Vielmehr ist, außer wenn feststeht, daß der Schriftsatz auch bei unverzüglicher Weiterleitung nicht mehr rechtzeitig an den Senat gelangt wäre, von einer Verletzung des rechtlichen Gehörs auszugehen.

Es ist nicht auszuschließen, daß der 9. Senat des LSG in seiner vollen Besetzung (einschließlich der ehrenamtlichen Richter) dem nach Eröffnung der mündlichen Verhandlung als Vertagungsantrag zu wertenden Antrag des Klägers stattgegeben hätte. Denn obwohl der Kläger den Antrag wahrscheinlich früher hätte stellen und - was bei einer erst kurz vor dem Termin eintretenden, unvorhergesehenen Verhinderung naheliegt und in der Regel auch zumutbar ist - einen Wunsch nach Verlegung des Termins telefonisch mit dem Vorsitzenden des 9. Senats hätte besprechen können, war andererseits vom LSG bei einer Ladung am 19. Tag vor der Sitzung zwar den gesetzlichen Erfordernissen entsprechend (§ 110 Abs 1 Satz 1 SGG), aber nicht gerade weiträumig terminiert worden. Außerdem führte der Kläger den Rechtsstreit in eigener Sache. Wenn unter diesen Umständen und nachdem die Sache schon längere Zeit im Berufungsverfahren schwebte, verhältnismäßig kurzfristig geladen wurde, so konnte das dafür sprechen, den Antrag des Klägers großzügig zu behandeln. Es erscheint jedenfalls nicht als ausgeschlossen, daß der 9. Senat des LSG, wenn er in der Sitzung am 4. April 1984 unter Mitwirkung der ehrenamtlichen Richter mit dem Antrag befaßt worden wäre, ihm entsprochen, also einen neuen Termin zur mündlichen Verhandlung anberaumt hätte, der Kläger in diesem erschienen und der Rechtsstreit anders ausgegangen wäre. Das angefochtene Urteil kann mithin auf einer Verletzung des rechtlichen Gehörs beruhen (vgl hierzu BSGE 53, 83).

Der Senat hat deshalb das angefochtene Urteil gemäß § 170 Abs 2 Satz 2 SGG aufgehoben und die Sache an das LSG zurückverwiesen. In Abweichung vom Antrag des Klägers hat er jedoch für die neue Verhandlung und Entscheidung keinen anderen Senat des LSG bestimmt. Dabei kann offen bleiben, ob dieses nach § 202 SGG iVm § 565 Abs 1 Satz 2 ZPO im sozialgerichtlichen Verfahren zulässig ist. Denn die Verweisung an einen anderen Senat wäre nur veranlaßt, wenn zu besorgen wäre, daß der erneut mit der Sache befaßte 9. Senat des LSG sie nicht unvoreingenommen behandeln würde. Dafür aber fehlt ein ausreichender Anhalt. Da vor dem LSG ein neuer Termin zur mündlichen Verhandlung zu bestimmen ist, hat der übergangene Antrag des Klägers künftig keine Bedeutung mehr. Die Kostenentscheidung bleibt der Entscheidung vorbehalten, die das Verfahren abschließt.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1666728

NJW 1987, 919

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